Und die Bilder, die ich rief, werd ich nun nicht
los von Monika Kunze Eene, meene Muh und raus bist du! Ich,
Karsten Koslowski, konnte den Schmerz, den das Lachen machte, als es sich rau
und hart aus meiner Kehle quälte, fast nicht ertragen. Ich war aus der Übung.
Schon lange. Da wollte doch diese Dame im weißen Kittel
tatsächlich etwas aus meinem Leben wissen – und ob ich mich nun als
Verlierer oder Gewinner der deutschen Einheit fühle. Da war dieser Kindervers
plötzlich aus irgendeiner meiner noch verbliebenen Gehirnwindungen hervor
gekrochen und hatte mich zu diesem schmerzhaften Lachen gebracht. Das schien die Dame in Weiß zu irritieren, denn sie
fragte: "Was ist so lächerlich?" Das sollte wohl streng klingen. Tat es aber nicht.
Eher irgendwie verständnisvoll. Ich schaute dem Weißkittel mitten auf die Stirn, das
sollte meiner Antwort Festigkeit verleihen, hatte ich irgendwo gelesen, und
sagte, so fest ich konnte:
"Nichts." Ich war nicht gewillt, irgendwelche Erklärungen
abzugeben. Also beließ ich es dabei. Was konnte diese Person in weißem Kittel schon wissen?
Ob sie in ihrem ganzen verdammten Leben schon mal ganz unten war? Na also. Aber
ich. Obwohl: Hier geht es mir gut, bestens eigentlich.
Alles ist geregelt: wann aufgestanden, wann, wo und was gegessen, wann, wo und
was gearbeitet wird. Was die hier so Arbeiten nennen. Und die Schlafenszeit, die ist natürlich auch
geregelt. Wie früher, da war auch alles geregelt. Nur: Da hatte
ich eine richtige Arbeit. "Lerne doch erst einmal Maurer", hatte die Mutter
gesagt, "da kannst du deine Arbeit noch nach Jahren mit eigenen Augen sehen." Dieses eine Mal tat ich, was sie sagte. Es war seit
Vaters Tod kaum noch vorgekommen. Wir waren uns irgendwie entglitten. Und dann die Grenze. "Ich gehe freiwillig drei Jahre, da habe ich dreimal
so viel Geld wie die anderen." Ich hatte ihr mitten auf die Stirn gesehen. Wegen
der Festigkeit. Gegen die drei Jahre Armee hatte sie nichts weiter
einzuwenden gehabt, wohl aber gegen den Dienst an der Grenze. Doch da hatte ich
schon unterschrieben. Ich war schließlich volljährig. Auf der Unteroffiziersschule in Perleberg fand ich
meine Entscheidung noch ganz in Ordnung. Schlimm wurde es erst später. Auf dem
Turm – und am Draht. Das war dann schon in Potsdam. "Ich bin ja wirklich heilfroh, dass ich nicht an
die langweilige Ostgrenze musste. Und das Schloss ohne Sorgen ist auch nicht zu
verachten. Wir haben ihm neulich, beim Gruppenausgang, sogar einen Besuch
abgestattet." Solche Sachen habe ich damals nach Hause geschrieben. Immer musste ich alles herunterspielen. Nur keine
großen Gefühle zeigen. Ehrfurcht zum Beispiel, vor diesem Park Sanssouci mit
all seinen Bauwerken, die der Fritz Nummer Zwo von dem berühmten
Architekten Knobelsdorff hatte errichten lassen. Mir hatte es
besonders das Schloss angetan. "Knobelsdorff wird das wohl selber nicht gebaut
haben, eher solche wie ich, Kollegen gewissermaßen", schrieb ich in meinem Brief. Immer alles zudecken:
mit vorgetäuschter Herablassung oder falschem Stolz. Denn in Wirklichkeit hatte ich noch nie etwas Gescheites
gebaut, als ich das schrieb. Aber wir waren nicht nach Potsdam gekommen, um wie
Friedrich der Zweite ohne Sorgen zu leben. Unser Arbeitsplatz für den
Frieden hieß nicht Sanssouci –
und an Sorgen mangelte es uns ganz gewiss nicht. Die geringsten: Fußpilz und
Flöhe. Letztere hatte ich Fridolins getauft, das sollte ein bisschen lustig
klingen, in einer Zeit, da schon längst kaum mehr etwas lustig war. Hatte ich als Unteroffizier
Vierundzwanzig-Stunden-Dienst, sehnte ich mich an den Draht oder auf den Turm,
denn die hatten nach acht Stunden Feierabend. War ich am Draht oder auf dem Turm eingesetzt, sehnte
ich mich nach Hause. Zumindest weg, weg von dem ganzen Dilemma. Und jene Nacht, in der mein Kumpel Kalle zwei
Grenzdurchbrüche verhindert hatte,
sollte ich wohl niemals wieder aus dem Kopf bekommen. Er hatte geschossen É und
getroffen. Tot waren sie zum Glück nicht, die beiden Jungs, die da abhauen
wollten. Aber ich. Irgendwie. Das hing damit zusammen, dass ich, Karsten Koslowski, auch geschossen hatte. Wenn
auch ganz woanders hin. Kalle muss das gesehen haben, denn er war von Stunde an
der Meinung, ich schulde ihm etwas, damit er mit seinem Wissen nicht hausieren
ginge. Ich trug meine Schuld mit den Fäusten ab, er wiederum blieb mir auch
nichts schuldig. Wir hielten es nicht für erforderlich, unsere
Blessuren irgendjemandem zu erklären. Kalle behielt sein Wissen trotzdem für sich.
Jedenfalls eine Zeit lang. Nur, wenn wir allein waren, nannte er mich einen Versager. Das Wort Looser wurde erst später modern. Ich revanchierte mich und nannte ihn Möchtegern-Mörder. Mehr war zwischen uns nicht mehr zu
besprechen. Doch irgendwie gingen diese drei Jahre auch vorbei.
Ich hatte alles aufgeschrieben, in ein kleines, einfaches Schulheft, das sogar
in meinen Brustbeutel passte. Dann, eines Tages, nein, eigentlich mitten in
irgendeiner Nacht, als ich wieder schweißgebadet aus einem dieser Alpträume
erwachte, habe ich alles zerrissen, die Schnipsel im Waschbecken verbrannt und
anschließend mit Wasser weggespült. Die Bilder im Kopf ließen sich nicht einfach so verbrennen
und wegspülen.
Als ich wieder nach Hause kam, hatte sich eine Menge
verändert. Mit meinem Land, das eigentlich auch nicht mehr meins
war, für das ich aber dennoch einst ausgezogen war, um es zu schützen, ging es
zu Ende. Mutter hatte drei Jahre nach Vaters Tod wieder
geheiratet. Musste sie sich (und mir!) das antun? Als wenn sie nicht schon mit
mir genug Sorgen gehabt hätte É Es wollte einfach nicht klappen mit der Arbeit. Meine, zugegeben, vielleicht nicht ganz
formvollendeten Bewerbungen wurden anfangs alle abgelehnt. Ich dachte eben, es
käme nicht darauf an, wie ich einen Schreibstift halte oder wie genau ich die
Tasten auf dem Computer treffe, sondern darauf, wie ich arbeite. Nachdem ich kapiert hatte, dass das so nicht läuft,
habe ich mir Hilfe bei Muttern geholt. Schließlich kannte sie sich besser aus
mit den Wörtern und so weiter. So klappte es schließlich doch noch mit dem Arbeiten.
Der neue Chef aus dem Westen runzelte die Stirn, als er im Lebenslauf sah, dass
ich an der Grenze war. Es dauerte nur eine reichliche Woche, bis er einen Grund
gefunden hatte, mich zu feuern. Obwohl ich bettelte und beteuerte, dass ich
auch weit unter dem Tariflohn arbeiten würde. Geholfen hat es nichts. Eene, meene
MuhÉScheißspiel. Nun war ich auch hier wieder der Versager. Damals war
ich einer, weil ich nicht imstande war, auf lebendige junge Leute zu schießen,
die Weihnachten partout im Westen verbringen wollten. Ein Jahr später hätten sie
es ja gekonnt É Aber wer konnte das damals schon wissen? Arbeit? Nichts Richtiges mehr seitdem, mal da eine
Gelegenheit, mal anderswo, mal so eine ABM, bei der ich Wege baute, was
wiederum die richtigen Straßenbauer mächtig verdross. Geld? Viel zu wenig, um all das kaufen zu können, was
ich gern gehabt hätte. Wie macht man aus wenig Geld viel Geld? Ich versuchte
es erst an der Pommesbude, da hing so eine Automat, der mir für eine Mark,
tatsächlich fünfzig gab. So leicht hatte ich mein Geld noch nie verdient. Auch später, in der Spielhalle, gelang mir das
Kunststück noch zwei- oder dreimal. Aber dann war es aus mit der Vermehrung der
ersten konvertierbaren Währung, die ich je in den Händen gehalten hatte. Doch
die Geräusche des klimpernden Hartgeldes, die tanzenden bunten Lichter hatten
mich schon längst im Griff, mein Geld wurde immer weniger, bald hatte ich mein
Moped und die Stereoanlage verscherbelt. Aber ich gewann nichts mehr. Klar,
niemand hatte mir gesagt: "Los, mach dein Spiel!" Also tat ich es freiwillig? Hm, am Anfang vielleicht.
Aber als ich begann, meine Sachen zu versetzen? Nein, da geschah schon nichts
mehr aus freien Stücken. Ich musste spielen, als hätte ich auch meinen Willen
verkauft – und der neue Besitzer lache sich eins ins Fäustchen. Enttäuschung, Wut und Scham können verdammt bitter
schmecken. Das vergisst man nicht so einfach. Meine Schuld und meine Schulden
wuchsen. Meine Mutter wollte mir helfen, aber ich wollte das nicht. Sollte ich das alles hier erzählen? Von meinen
Alpträumen? Von den Schreien an der Grenze? Ich habe doch geschossen! Wenn auch
daneben É Nachdem mein Versuch, mich mit Hilfe von Tabletten
aus dieser Welt zu stehlen, fehlgeschlagen war, kam ich in diese Klinik. Die Frau sah mich irgendwie komisch an, dann forderte
sie mich auf, alles aufzuschreiben. Einfach so. "Wirklich alles – versprochen?" Wie kam eine erwachsene Frau dazu, so kindlich
gucken? Ihre Worte erinnerten mich an die Kinderserie "Heidi" und vor allem an
meine kleine Schwester, die die Geschichte von der unerträglich edlen Göre und
ihrem verdrießlichen Großvater im Fernsehen dauernd angeschaut und zitiert hat. "Versprochen ist versprochen – und wird nicht
gebrochen!" Ich stand auf, wollte der €rztin trotzdem die Hand
geben, wischte meine feuchten Hände an der Jeans ab. Dann aber ließ ich den Handschlag
doch besser weg. |