Nachbarn
in unserer Gasse
von Koloman Stumpfögger Eigentlich
hatten auch wir nur zwei Nachbarn, wie alle anderen in unserer Gasse. Neben uns
wohnte ein Schneider, sein Name will mir nicht einfallen. Ja und er hinkte
leicht. Die Längswand seines Giebelhauses begrenzte unseren Hof, wie
wiederum unsere Hauswand den Hof der Familie Gaj abschloß. Dennoch hatten
wir außer diesen zwei Familien noch weitere Nachbarn, mehr also, als die
anderen Leute im Dorf. Wie das? Nun, mein Vater bezeichnete als Nachbarn alle Kunden
seines Gemischtwarengeschäftes, Nachbarn aus der Ziegeleigasse, Nachbarn
aus der Kitzkereih, Nachbarn aus der Kirchgasse. Natürlich kannte er sie
alle beim Namen. Auch heute würde er sie alle aufzählen können,
wäre er noch am Leben. Denn er hatte ein treues Gedächtnis, der
Joschika, wie ihn die Serben nannten, oder der Joschi, wie die Schwaben zu ihm
sagten. Natürlich wüßte er sofort auch den Namen des
Schneiders. Warum mein Vater manche von den Nachbarn als "arme Freunde"
bezeichnete, kommt später. Auch
die Einwohnerzahl von Brestovac, dem Bauerndorf im südlichen Teil der
Batschka, kannte mein Vater genau. Denn in den letzten Jahren vor dem Ende
des Zweiten Weltkrieges war er im Gemeindehaus damit beschäftigt, alles
was im Dorf abzählbar war, zu erfassen: Menschen, Häuser, Haustiere,
Ernteerträge und was weiß ich sonst noch. Das
Geschäft hatte er geschlossen, denn gerade die alltäglichen Waren
konnte er nicht mehr anbieten: Petroleum, Zucker - und den nur auf Marken,
sogar gemahlenen Paprika gab es nur manchmal und immer seltener. Ganz zu
schweigen von jenen Waren, die im Geschäft schon länger fehlten:
Bohnenkaffee, russischer Tee oder Rosinen. Im Winter waren vor Weihnachten
keine Feigen und Orangen mehr zu bekommen, um damit die Kinder zu beschenken. Hungern
mußte in Brestovac allerdings niemand, selbst die armen Freunde nicht,
und nicht das Vieh. Denn Getreide und Futter gedieh im Überfluß.
Auch an Schlachtvieh und Geflügel mangelte es im Dorf keinen Tag. Mit
"Brestovac" meine ich Baöki Brestovac. Denn im Lande gibt es
noch einige andere Ortschaften, die den gleichen serbischen Namen tragen. Das
Dorf ist nach einem Baum benannt, "Brest", der Ulme. Ulmen gab es
allerdings keine mehr im Dorf. Ginge es danach, dann hätte das Dorf nach der
Vielzahl der Maulbeerbäume aus gutem Grund längst in Baöki
Dudovac umbenannt werden können. Da im Dorfwappen ein Ulmenblatt
abgebildet ist und das seit langer, langer Zeit, besteht freilich kein
vernünftiger Grund, den wohlklingenden Namen Brestovac zu ändern. Und
doch wurde der Name des Dorfes im Zweiten Weltkrieg ins Ungarische
übersetzt, davon wird später noch zu sprechen sein. Eben ist mir auch
der Name unseres Nachbarn im Giebelhaus eingefallen, jetzt weiß ich ihn
wieder: es war der Prohaszky-Schneider. Wieviele
Einwohner das Dorf hatte, interessierte weder die Nachbarn, noch sonst jemand.
Auch nicht die Statistik, denn diese Wissenschaft gab es noch nicht. Umso
gewichtiger war es, wenn einer von den Nachbarn starb. Die ganze Nacht
über wurde bei ihm die Totenwache gehalten. In schwäbischen
Häusern betete man den Rosenkranz, in serbischen sangen Klagefrauen
Klagelitaneien. Und als der Menradgroßvater gestorben war, fehlte er
besonders den Kindern in der Gasse. Vergeblich verschwendete der Maulbeerbaum
jetzt seinen Schatten über die Bank vor dem Haus. Niemand saß mehr
dort. Leergeblieben ist die Bank. Und niemand erzählte mehr von
früher, von Wölfen, von der Roßmühle, wie die
Grundlöcher gegraben wurden, wie man die gelbe Erde zum
Häuserstampfen geholt hat und von Bosnien. Von Bosnien, wo Zwetschgen so
groß wie eine Kinderfaust reifen, die süßer noch als
Akazienhonig schmecken. "Und essen kannst du, soviel du willst. Nur darauf
mußt du achten, daß du kein Bauchweh bekommst." Und wie seine
Pfeife, wie die Kleidung nach Tabak roch! Ein bißchen verspeckt
glänzte sie. Das Leibel war noch mit Knöpfen aus Messing, kugelrunden
Knöpfen, eng gereiht zugeknöpft. Wenn Menradgroßvater besonders
guter Laune war, holte er aus dem Haus einen losen Leibelknopf und brachte eine
Schnur mit. Am Knopf war eine Öse angelötet. Dort konnte er die
Schnur festbinden. Dann schleuderte er den Knopf im Kreis herum bis es pfiff,
immer höher und immer lauter pfiff. Das Pfeifen wurde von einem kleinen
runden Loch am kugelförmigen Knopf bewirkt. Sollen
es 5.800 Einwohner gewesen sein. In den Büchern auf dem Gemeindehaus und
in den Pfarrhäusern wird schon alles richtig eingetragen sein. Etwas mehr
als drei Viertel der Bevölkerung waren Nachkommen deutscher Einwanderer,
die, nachdem Prinz Eugen die Festung Peterwardein und Belgrad erobert hatte,
aus den südlichen Ländern des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation gekommen waren. Sie waren katholisch. Viele sprachen nur ihren
schwäbischen Dorfdialekt, und verstanden vielleicht etwas Serbisch und
auch ein wenig Ungarisch. Die Bäuerinnen und Taglöhnerinnen kleideten
sich noch weitgehend mit ihrer unverwechselbaren Tracht. Etwa das vierte
Viertel der Bevölkerung waren Serben griechisch-orthodoxen Glaubens. Sie
waren schon früher, zwei Jahrhunderte früher, in die Batschka
gekommen. Wann sie sich dann in Brestovac niedergelassen haben, darüber
gibt es mehrere Vermutungen; eine davon wird wohl die richtige sein. Die Serben
waren seinerzeit jedenfalls unter Patriarch Tschernojewitsch vor den Türken
geflohen. Woher ich das weiß? In der serbischen Schule hing im Zimmer der
fünften Klasse ein Bild. Den Flüchtlingen voran ging der Patriarch
mit entschlossenem Blick und einem Vertrauen erweckenden Bart. In diese Schule
bin ich zu Herrn Boschkovitsch ein Jahr lang gegangen. Ich sollte Serbisch
lernen. Denn ein Jahr danach durfte ich ja nach Subotica in das serbische
Gymnasium. In meine Klasse ging zu Herrn Boschkovitsch auch ein Serbe, der
so gut Schwäbisch sprach wie irgendein Schwabenkind. Sukic
hieß er. Viel später hat er gerade jenes Haus in der Kirchgasse
gekauft, in dem ich geboren worden bin. Vor einigen Jahren ist dort ein
Geschäft eingerichtet worden. Einmal habe ich ihn besucht. Mit meiner
Frau, die aus Deutschland stammt und kein Wort Serbisch kann, sprach er Schwäbisch,
als hätte er nie anders gesprochen. In
meinem Brestovac scheint übrigens immer die Sonne. Und sie soll es auch.
Im Frühling, damit die Obstäume für die Bienen erblühen. Im
Sommer, weil die Saat reifen muß, die schweren Dreschmaschinen über
die Felder fahren können, die heiße Luft über die weiten
Flächen flimmern soll und am Sonntag die Leute auf der Gasse im
kühlen Schatten der Maulbeerbäume ausruhen dürfen, die Frauen
plaudernd, die Männer Karten spielend, und damit werktags die Frauen ihre
Leintücher zu bleichen vermögen. Auch müssen die Schwalben
Fliegen fangen, die Störche auf den Dächern klappern und tausend mal
tausend Spatzen unter Balken und in den Bäumen nisten. Im Herbst, weil der
gerätzte Hanf trocknen muß, weil man die Trauben lesen will und
damit die Kinder bei Gaj's an der Presse Most trinken dürfen. Im Winter,
weil die Pferdeschlitten über die weiten Schneefelder jagen sollen, die
Kinder schönes Wetter brauchen, damit sie auf dem Eis Schlittschuhe laufen
können und der Schnee auf den Dächern glitzert. Wenn
sich auch kaum jemand für die Einwohnerzahl des Dorfes interessierte, so
war doch die Geburt eines Kindes im Haus nebenan ein wichtiges und freudiges
Ereignis für die ganze Nachbarschaft. Den Kindern wurden Geschwister, den
Nachbarskindern Spielkameraden geschenkt. Schon wenige Jahre später
spielten sie miteinander auf der Gasse und in Hausgängen, mal im
serbischen, mal im schwäbischen Haus. Einmal wurden im selben Jahr, es war
1927, eine ganze Reihe von Kindern geboren, darunter Acas Olga, Marschall
Rosel, Heim Matheis, und meine Schwester Anni Stumpfögger. Unsere Eltern
hießen Josef Stumpfögger und Maria, geborene Offenbächer. Schon
am darauffolgenden Tag wurde meine Schwester in der katholischen Kirche
getauft. Dem schwäbischen Brauch gemäß erhielt sie den Namen
ihrer Patin Anna. Noch
hatte die Mechanisierung und Technisierung das Dorf nicht erreicht. Am Abend
wurde die Petroleumlampe angezündet. Im Advent in die Rorate und in die
Mitternachtsmesse an Weihnachten ging man auf verschneiten Gehwegen mit
Laternen, in denen Kerzen brannten. Erst als Anni neun Jahre alt war, wurde das
Dorf an das Stromnetz angeschlossen. Den Strom benutzte man nur zur Beleuchtung
und zum Betreiben der ersten Radioapparate. Die Feld- und Hausarbeiten wurden
noch so gut wie alle von Hand verrichtet. Auch die Handwerker, die Seiler, die
Wagner, die Schmiede, darunter Lazic, die Fleischhauer, darunter
Beljanski, alle, alle fertigten ihre Erzeugnisse ohne Maschinen, sie benutzten
nur Werkzeuge. Dampfbetriebene
Dreschmaschinen und Hanfbrechmaschinen in Hanffabriken und einige wenige
Traktoren mit Dieselmotoren zum Tiefpflügen gab es schon. Die Wagen, meist
Zweispänner, doch auch Einspänner, wurden ausschließlich von
Pferden gezogen. Und was für Pferde das waren! Leinwebers,
die sonst Sodawasser und Krachel-Limonade, gelben und roten Krachel,
herstellten, hatten sogar einen Omnibus. Nein, nicht um die Senioren an die
Donau nach Bogojevo zum Fischpaprikasch zu fahren. Auf einen solchen Gedanken
wäre damals niemand gekommen. Zumal es in Brestovac zwar ältere und
alte Leute und ganz alte Leute gab, aber keinen einzigen Senior, keine einzige
Seniorin. Wozu nützte der Omnibus dann? - Nur, um sonntags die weitum
bekannte Brestovacer Fußballmannschaft, Serben und Schwaben, auf die
Spielplätze der Nachbarsdörfer zu kutschieren, dazu. Anni
lernte alle häuslichen Arbeiten ohne die Hilfe der heute
selbstverständlichen Maschinen: das Brotbacken, Gemüse anpflanzen,
Früchte einlegen, Wäsche herstellen und pflegen, Wände
weißeln, Seife sieden, Geflügel und Haustiere aufziehen. Das alles
sollte ihr später als Missionsschwester im afrikanischen Busch zugute
kommen. Wie schwer hätte sie es dort ohne solches Können gehabt! Mein
Vater war, wie gesagt, Kaufmann. Zuletzt wohnten wir in der Gavrila Principa
ulica 14. Vor unserem Haus war ein Pumpbrunnen. Jedermann konnte dort Wasser
holen. Mein Vater pflanzte drei junge Bäume, einen Maulbeerbaum, eine
Akazie und einen Olivenbaum, den Olivenbaum nur seiner wohlriechenden
Blüte wegen. Sein
Gemischtwarengeschäft lag in jenem Teil des Dorfes, wo sich die
Straßenzüge des deutschen Dorfteiles mit den serbischen trafen.
Mitten in der Gasse war zur Ziegelei hin ein Grundloch. Die Häuser
schlugen einen Bogen um das seichte Wasser. Tagsüber schwammen dort
Gänse und Enten. Im frühen Sommer natürlich mit der jungen Brut.
Und vor dem Bretterzaun des Sava Hop säumten ein paar Weiden das Ufer.
Jede Schar fand zur Futterzeit oder wenn sie Schattenkühle suchte, das
Eingangstor des Hauses, in das sie gehörte: die eine in ein serbisches,
die andere in ein schwäbisches. Auch unsere Gänse und Enten haben
sich nie geirrt. War das Tor verschlossen, schnatterten sie so lange, bis sie
eingelassen wurden. Wurde ihnen nicht alsbald geöffnet, schlug der Hund an
und machte so auf die Heimkehrer aufmerksam. In
den dem Geschäft benachbarten Gassen wohnten die Taglöhner. Sie
hatten ihr bescheidenes, aber sicheres Auskommen. Nur ganz wenige lebten
ärmlich und kauften manchmal im Tausch gegen einen Maiskolben oder ein
Hühnerei ein paar Dekagramm Salz, Zucker oder einen Deziliter Petroleum
ein. Mancher "arme Freund," wie Annis Vater zu sagen pflegte, borgte
und ließ die Schuldsumme aufschreiben, bis er würde zahlen
können. Manchmal kam jemand, wenn es Mohnnudeln zum Mittagessen geben
sollte nur, um Mohn zu mahlen. Denn die Mohnmühle konnte jeder
benützen, selbstverständlich kostenlos. Übrigens: Mehr als eine
Schuld wurde nie getilgt, die Ereignisse haben sie bedeutungslos werden lassen,
die Jahre sie vergessen gemacht. Schließlich wird der Himmel sie
gänzlich löschen und den Betrag gewißlich hoch verzinst
vergüten. Anni
durfte schon als Kind manchmal im Geschäft helfen und die Kundschaft
bedienen. Die Spielgefährten auf der Gasse waren deutsche Kinder, und wie
gesagt, manchmal spielte sie auch mit kleinen Serben. Wenn die Serben zum
Beispiel im Sommer am Abend ihres heiligen Ilija, des Propheten Elia, ein
loderndes Feuer anzündeten und mit dem Ruf "O Ilija!"
erschauernd durch die Flammen sprangen, sprang sie mit. Oder im Winter, wenn
alle Nachbarskinder auf der gleichen Eisfläche, auf dem Grundloch, das im
Sommer dem Federvieh gehört hatte, mit selbstgebastelten Schlittschuhen
liefen, war sie dabei. Mit
sechs Jahren kam Anni in die staatliche deutsche Elementarschule, Acas Olga zu
gleicher Zeit in die serbische. Nach fünf Jahren waren die beiden
Nachbarsmädchen dann in der gleichen Klasse, denn Anni wechselte an die
serbische Schule, die ein Jahr zuvor auch ich besucht hatte. Danach ging sie in
der Bezirksstadt Odschaci zwei Jahre lang in die serbische Bürgerschule;
eigentlich nicht selbstverständlich für ein Mädchen aus dem
Dorf. Aber 'die' Stumpföggers waren seit Menschengedenken als Lehrer und
Kantoren tätig. 1941
erreichte der Zweite Weltkrieg auch die Batschka und damit Brestovac. Bisher
hatte die südliche Batschka zu Jugoslawien gehört. Jetzt wurde sie
an Ungarn angegliedert, zu dem das Gebiet bis zum Vertrag von Trianon, bis
1919, gehört hatte. Das Dorf wurde umbenannt: aus Brestovac wurde jetzt
Szilberek, ungarisch heißt die Ulme nämlich szíl. Es gab auch
eine Bestrebung den Ortsnamen Szilberek mit Ulmenau einzudeutschen. Ulmenau, in
dieser Form wird er in der landsmannschaftlichen Literatur sogar benutzt.
Weltweit aber verwendet der Volksmund wie eh und je nur einen Namen, nämlich
Brestovac. Für
Anni bedeutete die Angliederung an Ungarn, daß sie ihre schulische
Ausbildung, die sie bisher in serbischer Unterrichtssprache erhielt, nun an der
ungarischen Bürgerschule in Sombor fortsetzen mußte. Ungarisch war
ihr nur unzulänglich vertraut. Sie mußte es innerhalb weniger Monate
lernen, um im Unterricht folgen zu können. 1943 beendete sie ihre
zehnjährige Schulzeit. Im
gleichen Jahr begann Anni eine Lehre auf dem dörflichen Postamt. Auf der
Post roch es nach Messing, Maschinenöl, Tinte, Packpapier, Stempelfarbe,
Siegellack, Hanfschnur und Formularvordrucken: Pakete wurden noch mit
Siegellack und Siegel gesichert. Außer im Gemeindehaus, auf der Post und
im Bahnhof gab es zu dieser Zeit im Dorf kaum ein Telefon. Mit verschiedenfarbigen
Verbindungsschnüren stöpselte der Postmeister, oder Anni als
Lehrling, Telefonverbindungen am Schaltkasten. Telegramme wurden noch mit dem
blinkenden Messingarm der schweren Handmorsetaste abgesetzt, auf Papierstreifen
mitgeschrieben und von einem aufziehbaren, tickenden Gehwerk auf große
Messingspulen aufgerollt. Anni übte das Morsen, indem sie sich per Draht
mit anderen Postlehrlingen in Nachbarsdörfern und Städten unterhielt.
Zeit dazu hatte man genug. Im
Spätsommer 1944 nahte die russische Offensive der Batschka, eine
bedrohliche Situation. Annis Vater und Bruder waren Soldaten und nicht zu
Hause. Wie sie später erfuhr, war der Vater bei einer
Veterinäreinheit und mit maroden Pferden irgendwo in Ungarn nach Graz
unterwegs, ihr Bruder, ich also, als Sanitäter in der Nähe von Trier
an der Westfront. Mit den wichtigsten persönlichen Dokumenten und der
allernötigsten Habe floh Anni mit ihrer Mutter über die Donau und
schleppte sich wochenlang zu Fuß durch Westungarn. Bis sie den Semmering
erreichten, waren ihre Füße von Hungerödemen unförmig
angeschwollen und konnten kaum noch den ausgemergelten Körper
aufrechthalten. Aber die Beiden waren gerettet und zogen schon bald weiter,
jetzt mit der Bahn. Sie kamen endgültig in Nürtingen am Neckar, einer
kleinen Stadt in Württemberg, unter, weil sich dort Verwandte aus der
Batschka schon während des Krieges niedergelassen hatten. Für
Anni war das Jahr 1945 ausgefüllt mit Gelegenheitsarbeiten, Heimischwerden
in Nürtingen, Kriegsende, Wohnungssuche, Rückkehr des Bruders aus
Krieg und Gefangenschaft, Kontakt mit dem Vater im Kriegsgefangenenlager,
berufliche Umorientierung und Kampf um das Allernötigste an Kleidung und
Nahrung. Da es für sie aussichtslos war, mit ihrer in der Batschka
erworbenen Schul- und Berufsausbildung ihre Lehre auf der Post hier in
Deutschland fortsetzen zu können, suchte sie eine Stelle als Hausgehilfin.
Bald fand Anni in einer der zahlreichen Textilfabriken Nürtingens Arbeit
als Strickerin. Doch Fabrikarbeiterin wollte sie auf die Dauer nicht bleiben.
Inzwischen 26 Jahre alt, fand sie im Krankenhaus in Düsseldorf Aufnahme
als Krankenpflegeschülerin. Nach zwei Jahren war sie Krankenschwester. Sie
wirkte dann in Tübingen, Ellwangen/Jagst und schließlich in Wangen
im Allgäu in verschiedenartigen Krankenhäusern für Augen- und
Lungenkrankheiten und innere Krankheiten. Sie ging dann nach Afrika, nach
Tanzania. 13 Jahre lebte sie dort in Isingiro, in einer Krankenambulanz mit
noch drei Schwestern aus Deutschland. Und alles, was sie als junges
Mädchen von ihrer Mutter im Haushalt gelernt hatte, kam ihr dort zugute.
Oft dachte sie deshalb an Brestovac, an das Haus, an den Garten, an die
Nachbarn. Davon erzählte sie jedesmal, wenn sie nach Europa in Urlaub kam,
um sich von schwerer Arbeit zu erholen. Isingiro liegt nämlich im Busch
unterhalb des Kilimandscharo, weitab von jeglicher Zivilisation, 450 Kilometer.
Nur wenn man dort die alltäglichen Arbeiten von Hand zu verrichten
vermochte, konnten auch die Kranken oder Verletzten, die von weither zu
Fuß kamen, behandelt und gepflegt werden. Und
ich, ihr Bruder? Ich bin in Württemberg Lehrer geworden, schon zwei Jahre
nach dem Krieg. Doch erst siebzehn Jahre später bin ich in Brestovac zu
Besuch gewesen, wie gesagt mit meiner Frau. Selbstverständlich waren wir
auch in der Gavrila Principa ulica im Haus broj 14. Und das hatte sich in
Windeseile in der Nachbarschaft herumgesprochen. Da eilte Persa, die Freundin
meiner Mutter, herbei, und ich mußte ihr von der Mariska, so haben
die Serben meine Mutter genannt, erzählen und viele Fragen beantworten.
Und Schafskäse wurde bei Girgili geholt und Trauben aus dem Garten und uns
wie früher aufgetischt, in der Küche. Und auch Trifo ist gekommen,
Trifo, der bei einem Schwaben, beim Link Tischler, das Handwerk und nebenbei
die Sprache erlernt hat. Schwäbisch erzählte er und Serbisch. Er
erzählte von meinem Vater, daß man in der Kitzkereih gerne von ihm
spreche. Auch gebe es ein geflügeltes Wort, das bei den einheimischen
Serben immer wieder von Mund zu Mund gehe: "Joschika hat sogar von Krachel
einen Schwips bekommen." Zur Erläuterung gab er folgende Begebenheit
zum besten: Joschi
war mit Marie, seiner Frau, zum Kopschitzwirt zu einer Unterhaltung gegangen.
Zu Hause hatte Marie ihren Joschi gebeten: "Trink heute abend ja nicht zu
viel, mir zuliebe, ich müßte mich ja sonst schämen."
Joschi schien die Mahnung zu beherzigen. Er bestellte, und flugs brachte der
Wirt zwei Flaschen Krachel und zwei Gläser dazu. Die Unterhaltung nahm
ihren Gang. Joschi trank seine Krachel, Marie trank ihre Krachel. Doch je
weiter der Abend fortschritt, umso lustiger wurde Joschi, umso schwerer seine
Zunge und umso unsicherer der Gang. Joschi hatte nun doch einen Schwips, einen
Schwips von Krachel. Von Krachel? Keineswegs. Jedesmal, wenn Joschi
hinausgegangen und am Ausschank vorbeigekommen war, hatte er rasch ein
Gläschen Wein bestellt und es in einem Zuge ausgetrunken. So also hatte
Joschi von Krachel einen Schwips bekommen. Trifo
konnte ich mitteilen, daß mein Vater seit Kriegsende nie mehr einen
Schwips gehabt habe. Immer wieder hat mir meine Mutter dies mit stolzer Miene
berichtet. Nach
Deutschland zurückgekehrt erzählte ich Trifos Anekdote. Da
mußte Anni, meine Schwester, lauthals lachen und selbst meine Mutter
konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. "Es war so," fügte
sie hinzu. Anni,
ja Anni. Noch einmal mußte sie wegen eines Krieges, des Krieges zwischen
Uganda und Tanzania wie damals aus Brestovac, so diesmal aus Isingiro fliehen.
Wieder zurück in Deutschland, widmete sie sich noch acht Jahre der
Altenpflege bis zu ihrer ernsten Erkrankung, Krebs. Zwei schwere Leidensjahre
folgten. Im April 1987 ist sie in Vallendar am Rhein gestorben, meine Mutter
1984, und noch früher mein Vater, nämlich schon 1976. Ob
ich mit meinen 70 Jahren Brestovac noch einmal aufsuchen werde? Ob ich jemand
von meinen Nachbarn noch einmal wiedersehen werde? Von meinen schwäbischen
Landsleuten hier in Deutschland den einen oder anderen wahrscheinlich schon.
Bei einem Treffen vielleicht, oder bei einer Wallfahrt, oder einer Feier, oder
einem Begräbnis. Ob jedoch einen von den Serben von zu Hause, das
weiß Gott allein. Ravensburg,
den 26. Juni 1996 Koloman Stumpfögger
Beitrag
für die Dokumentation "Komsija pa bog = Gott gebührt die erste
Stelle, mein Nachbar jedoch wohnt gleich
nebenan" - wurde serbisch veröffentlicht und am 12. Oktober 1996 in Novi Becej,
(Stadt am westlichen Ufer der Theiß in der Batschka ) vorgestellt. |