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Nachbarn in unserer Gasse

 

von Koloman Stumpfögger

 

Eigentlich hatten auch wir nur zwei Nachbarn, wie alle anderen in unserer Gasse. Neben uns wohnte ein Schneider, sein Name will mir nicht einfallen. Ja und er hinkte leicht. Die Längswand seines Giebelhauses begrenzte unseren Hof, wie wiederum unsere Hauswand den Hof der Familie Gaj abschloß. Dennoch hatten wir außer diesen zwei Familien noch weitere Nachbarn, mehr also, als die anderen Leute im Dorf. Wie das? Nun, mein Vater bezeichnete als Nachbarn alle Kunden seines Gemischtwarengeschäftes, Nachbarn aus der Ziegeleigasse, Nachbarn aus der Kitzkereih, Nachbarn aus der Kirchgasse. Natürlich kannte er sie alle beim Namen. Auch heute würde er sie alle aufzählen können, wäre er noch am Leben. Denn er hatte ein treues Gedächtnis, der Joschika, wie ihn die Serben nannten, oder der Joschi, wie die Schwaben zu ihm sagten. Natürlich wüßte er sofort auch den Namen des Schneiders. Warum mein Vater manche von den Nachbarn als "arme Freunde" bezeichnete, kommt später.

 

Auch die Einwohnerzahl von Brestovac, dem Bauerndorf im südlichen Teil der Batschka, kannte mein Vater genau. Denn in den letzten Jahren vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges war er im Gemeindehaus damit beschäftigt, alles was im Dorf abzählbar war, zu erfassen: Menschen, Häuser, Haustiere, Ernteerträge und was weiß ich sonst noch.

 

Das Geschäft hatte er geschlossen, denn gerade die alltäglichen Waren konnte er nicht mehr anbieten: Petroleum, Zucker - und den nur auf Marken, sogar gemahlenen Paprika gab es nur manchmal und immer seltener. Ganz zu schweigen von jenen Waren, die im Geschäft schon länger fehlten: Bohnenkaffee, russischer Tee oder Rosinen. Im Winter waren vor Weihnachten keine Feigen und Orangen mehr zu bekommen, um damit die Kinder zu beschenken.

 

Hungern mußte in Brestovac allerdings niemand, selbst die armen Freunde nicht, und nicht das Vieh. Denn Getreide und Futter gedieh im Überfluß. Auch an Schlachtvieh und Geflügel mangelte es im Dorf keinen Tag. Mit "Brestovac" meine ich Baöki Brestovac. Denn im Lande gibt es noch einige andere Ortschaften, die den gleichen serbischen Namen tragen. Das Dorf ist nach einem Baum benannt, "Brest", der Ulme. Ulmen gab es allerdings keine mehr im Dorf. Ginge es danach, dann hätte das Dorf nach der Vielzahl der Maulbeerbäume aus gutem Grund längst in Baöki Dudovac umbenannt werden können. Da im Dorfwappen ein Ulmenblatt abgebildet ist und das seit langer, langer Zeit, besteht freilich kein vernünftiger Grund, den wohlklingenden Namen Brestovac zu ändern. Und doch wurde der Name des Dorfes im Zweiten Weltkrieg ins Ungarische übersetzt, davon wird später noch zu sprechen sein. Eben ist mir auch der Name unseres Nachbarn im Giebelhaus eingefallen, jetzt weiß ich ihn wieder: es war der Prohaszky-Schneider.

 

Wieviele Einwohner das Dorf hatte, interessierte weder die Nachbarn, noch sonst jemand. Auch nicht die Statistik, denn diese Wissenschaft gab es noch nicht. Umso gewichtiger war es, wenn einer von den Nachbarn starb. Die ganze Nacht über wurde bei ihm die Totenwache gehalten. In schwäbischen Häusern betete man den Rosenkranz, in serbischen sangen Klagefrauen Klagelitaneien. Und als der Menradgroßvater gestorben war, fehlte er besonders den Kindern in der Gasse. Vergeblich verschwendete der Maulbeerbaum jetzt seinen Schatten über die Bank vor dem Haus. Niemand saß mehr dort. Leergeblieben ist die Bank. Und niemand erzählte mehr von früher, von Wölfen, von der Roßmühle, wie die Grundlöcher gegraben wurden, wie man die gelbe Erde zum Häuserstampfen geholt hat und von Bosnien. Von Bosnien, wo Zwetschgen so groß wie eine Kinderfaust reifen, die süßer noch als Akazienhonig schmecken. "Und essen kannst du, soviel du willst. Nur darauf mußt du achten, daß du kein Bauchweh bekommst." Und wie seine Pfeife, wie die Kleidung nach Tabak roch! Ein bißchen verspeckt glänzte sie. Das Leibel war noch mit Knöpfen aus Messing, kugelrunden Knöpfen, eng gereiht zugeknöpft. Wenn Menradgroßvater besonders guter Laune war, holte er aus dem Haus einen losen Leibelknopf und brachte eine Schnur mit. Am Knopf war eine Öse angelötet. Dort konnte er die Schnur festbinden. Dann schleuderte er den Knopf im Kreis herum bis es pfiff, immer höher und immer lauter pfiff. Das Pfeifen wurde von einem kleinen runden Loch am kugelförmigen Knopf bewirkt.

 

Sollen es 5.800 Einwohner gewesen sein. In den Büchern auf dem Gemeindehaus und in den Pfarrhäusern wird schon alles richtig eingetragen sein. Etwas mehr als drei Viertel der Bevölkerung waren Nachkommen deutscher Einwanderer, die, nachdem Prinz Eugen die Festung Peterwardein und Belgrad erobert hatte, aus den südlichen Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekommen waren. Sie waren katholisch. Viele sprachen nur ihren schwäbischen Dorfdialekt, und verstanden vielleicht etwas Serbisch und auch ein wenig Ungarisch. Die Bäuerinnen und Taglöhnerinnen kleideten sich noch weitgehend mit ihrer unverwechselbaren Tracht. Etwa das vierte Viertel der Bevölkerung waren Serben griechisch-orthodoxen Glaubens. Sie waren schon früher, zwei Jahrhunderte früher, in die Batschka gekommen. Wann sie sich dann in Brestovac niedergelassen haben, darüber gibt es mehrere Vermutungen; eine davon wird wohl die richtige sein. Die Serben waren seinerzeit jedenfalls unter Patriarch Tschernojewitsch vor den Türken geflohen. Woher ich das weiß? In der serbischen Schule hing im Zimmer der fünften Klasse ein Bild. Den Flüchtlingen voran ging der Patriarch mit entschlossenem Blick und einem Vertrauen erweckenden Bart. In diese Schule bin ich zu Herrn Boschkovitsch ein Jahr lang gegangen. Ich sollte Serbisch lernen. Denn ein Jahr danach durfte ich ja nach Subotica in das serbische Gymnasium. In meine Klasse ging zu Herrn Boschkovitsch auch ein Serbe, der so gut Schwäbisch sprach wie irgendein Schwabenkind. Sukic hieß er. Viel später hat er gerade jenes Haus in der Kirchgasse gekauft, in dem ich geboren worden bin. Vor einigen Jahren ist dort ein Geschäft eingerichtet worden. Einmal habe ich ihn besucht. Mit meiner Frau, die aus Deutschland stammt und kein Wort Serbisch kann, sprach er Schwäbisch, als hätte er nie anders gesprochen.

 

In meinem Brestovac scheint übrigens immer die Sonne. Und sie soll es auch. Im Frühling, damit die Obstäume für die Bienen erblühen. Im Sommer, weil die Saat reifen muß, die schweren Dreschmaschinen über die Felder fahren können, die heiße Luft über die weiten Flächen flimmern soll und am Sonntag die Leute auf der Gasse im kühlen Schatten der Maulbeerbäume ausruhen dürfen, die Frauen plaudernd, die Männer Karten spielend, und damit werktags die Frauen ihre Leintücher zu bleichen vermögen. Auch müssen die Schwalben Fliegen fangen, die Störche auf den Dächern klappern und tausend mal tausend Spatzen unter Balken und in den Bäumen nisten. Im Herbst, weil der gerätzte Hanf trocknen muß, weil man die Trauben lesen will und damit die Kinder bei Gaj's an der Presse Most trinken dürfen. Im Winter, weil die Pferdeschlitten über die weiten Schneefelder jagen sollen, die Kinder schönes Wetter brauchen, damit sie auf dem Eis Schlittschuhe laufen können und der Schnee auf den Dächern glitzert.

 

Wenn sich auch kaum jemand für die Einwohnerzahl des Dorfes interessierte, so war doch die Geburt eines Kindes im Haus nebenan ein wichtiges und freudiges Ereignis für die ganze Nachbarschaft. Den Kindern wurden Geschwister, den Nachbarskindern Spielkameraden geschenkt. Schon wenige Jahre später spielten sie miteinander auf der Gasse und in Hausgängen, mal im serbischen, mal im schwäbischen Haus. Einmal wurden im selben Jahr, es war 1927, eine ganze Reihe von Kindern geboren, darunter Acas Olga, Marschall Rosel, Heim Matheis, und meine Schwester Anni Stumpfögger. Unsere Eltern hießen Josef Stumpfögger und Maria, geborene Offenbächer. Schon am darauffolgenden Tag wurde meine Schwester in der katholischen Kirche getauft. Dem schwäbischen Brauch gemäß erhielt sie den Namen ihrer Patin Anna.

 

Noch hatte die Mechanisierung und Technisierung das Dorf nicht erreicht. Am Abend wurde die Petroleumlampe angezündet. Im Advent in die Rorate und in die Mitternachtsmesse an Weihnachten ging man auf verschneiten Gehwegen mit Laternen, in denen Kerzen brannten. Erst als Anni neun Jahre alt war, wurde das Dorf an das Stromnetz angeschlossen. Den Strom benutzte man nur zur Beleuchtung und zum Betreiben der ersten Radioapparate. Die Feld- und Hausarbeiten wurden noch so gut wie alle von Hand verrichtet. Auch die Handwerker, die Seiler, die Wagner, die Schmiede, darunter Lazic, die Fleischhauer, darunter Beljanski, alle, alle fertigten ihre Erzeugnisse ohne Maschinen, sie benutzten nur Werkzeuge.

 

Dampfbetriebene Dreschmaschinen und Hanfbrechmaschinen in Hanffabriken und einige wenige Traktoren mit Dieselmotoren zum Tiefpflügen gab es schon. Die Wagen, meist Zweispänner, doch auch Einspänner, wurden ausschließlich von Pferden gezogen. Und was für Pferde das waren!

 

Leinwebers, die sonst Sodawasser und Krachel-Limonade, gelben und roten Krachel, herstellten, hatten sogar einen Omnibus. Nein, nicht um die Senioren an die Donau nach Bogojevo zum Fischpaprikasch zu fahren. Auf einen solchen Gedanken wäre damals niemand gekommen. Zumal es in Brestovac zwar ältere und alte Leute und ganz alte Leute gab, aber keinen einzigen Senior, keine einzige Seniorin. Wozu nützte der Omnibus dann? - Nur, um sonntags die weitum bekannte Brestovacer Fußballmannschaft, Serben und Schwaben, auf die Spielplätze der Nachbarsdörfer zu kutschieren, dazu.

 

Anni lernte alle häuslichen Arbeiten ohne die Hilfe der heute selbstverständlichen Maschinen: das Brotbacken, Gemüse anpflanzen, Früchte einlegen, Wäsche herstellen und pflegen, Wände weißeln, Seife sieden, Geflügel und Haustiere aufziehen. Das alles sollte ihr später als Missionsschwester im afrikanischen Busch zugute kommen. Wie schwer hätte sie es dort ohne solches Können gehabt!

 

Mein Vater war, wie gesagt, Kaufmann. Zuletzt wohnten wir in der Gavrila Principa ulica 14. Vor unserem Haus war ein Pumpbrunnen. Jedermann konnte dort Wasser holen. Mein Vater pflanzte drei junge Bäume, einen Maulbeerbaum, eine Akazie und einen Olivenbaum, den Olivenbaum nur seiner wohlriechenden Blüte wegen.

 

Sein Gemischtwarengeschäft lag in jenem Teil des Dorfes, wo sich die Straßenzüge des deutschen Dorfteiles mit den serbischen trafen. Mitten in der Gasse war zur Ziegelei hin ein Grundloch. Die Häuser schlugen einen Bogen um das seichte Wasser. Tagsüber schwammen dort Gänse und Enten. Im frühen Sommer natürlich mit der jungen Brut. Und vor dem Bretterzaun des Sava Hop säumten ein paar Weiden das Ufer. Jede Schar fand zur Futterzeit oder wenn sie Schattenkühle suchte, das Eingangstor des Hauses, in das sie gehörte: die eine in ein serbisches, die andere in ein schwäbisches. Auch unsere Gänse und Enten haben sich nie geirrt. War das Tor verschlossen, schnatterten sie so lange, bis sie eingelassen wurden. Wurde ihnen nicht alsbald geöffnet, schlug der Hund an und machte so auf die Heimkehrer aufmerksam.

 

In den dem Geschäft benachbarten Gassen wohnten die Taglöhner. Sie hatten ihr bescheidenes, aber sicheres Auskommen. Nur ganz wenige lebten ärmlich und kauften manchmal im Tausch gegen einen Maiskolben oder ein Hühnerei ein paar Dekagramm Salz, Zucker oder einen Deziliter Petroleum ein. Mancher "arme Freund," wie Annis Vater zu sagen pflegte, borgte und ließ die Schuldsumme aufschreiben, bis er würde zahlen können. Manchmal kam jemand, wenn es Mohnnudeln zum Mittagessen geben sollte nur, um Mohn zu mahlen. Denn die Mohnmühle konnte jeder benützen, selbstverständlich kostenlos. Übrigens: Mehr als eine Schuld wurde nie getilgt, die Ereignisse haben sie bedeutungslos werden lassen, die Jahre sie vergessen gemacht. Schließlich wird der Himmel sie gänzlich löschen und den Betrag gewißlich hoch verzinst vergüten.

 

Anni durfte schon als Kind manchmal im Geschäft helfen und die Kundschaft bedienen. Die Spielgefährten auf der Gasse waren deutsche Kinder, und wie gesagt, manchmal spielte sie auch mit kleinen Serben. Wenn die Serben zum Beispiel im Sommer am Abend ihres heiligen Ilija, des Propheten Elia, ein loderndes Feuer anzündeten und mit dem Ruf "O Ilija!" erschauernd durch die Flammen sprangen, sprang sie mit. Oder im Winter, wenn alle Nachbarskinder auf der gleichen Eisfläche, auf dem Grundloch, das im Sommer dem Federvieh gehört hatte, mit selbstgebastelten Schlittschuhen liefen, war sie dabei.

 

Mit sechs Jahren kam Anni in die staatliche deutsche Elementarschule, Acas Olga zu gleicher Zeit in die serbische. Nach fünf Jahren waren die beiden Nachbarsmädchen dann in der gleichen Klasse, denn Anni wechselte an die serbische Schule, die ein Jahr zuvor auch ich besucht hatte. Danach ging sie in der Bezirksstadt Odschaci zwei Jahre lang in die serbische Bürgerschule; eigentlich nicht selbstverständlich für ein Mädchen aus dem Dorf. Aber 'die' Stumpföggers waren seit Menschengedenken als Lehrer und Kantoren tätig.

 

1941 erreichte der Zweite Weltkrieg auch die Batschka und damit Brestovac. Bisher hatte die südliche Batschka zu Jugoslawien gehört. Jetzt wurde sie an Ungarn angegliedert, zu dem das Gebiet bis zum Vertrag von Trianon, bis 1919, gehört hatte. Das Dorf wurde umbenannt: aus Brestovac wurde jetzt Szilberek, ungarisch heißt die Ulme nämlich szíl. Es gab auch eine Bestrebung den Ortsnamen Szilberek mit Ulmenau einzudeutschen. Ulmenau, in dieser Form wird er in der landsmannschaftlichen Literatur sogar benutzt. Weltweit aber verwendet der Volksmund wie eh und je nur einen Namen, nämlich Brestovac.

 

Für Anni bedeutete die Angliederung an Ungarn, daß sie ihre schulische Ausbildung, die sie bisher in serbischer Unterrichtssprache erhielt, nun an der ungarischen Bürgerschule in Sombor fortsetzen mußte. Ungarisch war ihr nur unzulänglich vertraut. Sie mußte es innerhalb weniger Monate lernen, um im Unterricht folgen zu können. 1943 beendete sie ihre zehnjährige Schulzeit.

 

Im gleichen Jahr begann Anni eine Lehre auf dem dörflichen Postamt. Auf der Post roch es nach Messing, Maschinenöl, Tinte, Packpapier, Stempelfarbe, Siegellack, Hanfschnur und Formularvordrucken: Pakete wurden noch mit Siegellack und Siegel gesichert. Außer im Gemeindehaus, auf der Post und im Bahnhof gab es zu dieser Zeit im Dorf kaum ein Telefon. Mit verschiedenfarbigen Verbindungsschnüren stöpselte der Postmeister, oder Anni als Lehrling, Telefonverbindungen am Schaltkasten. Telegramme wurden noch mit dem blinkenden Messingarm der schweren Handmorsetaste abgesetzt, auf Papierstreifen mitgeschrieben und von einem aufziehbaren, tickenden Gehwerk auf große Messingspulen aufgerollt. Anni übte das Morsen, indem sie sich per Draht mit anderen Postlehrlingen in Nachbarsdörfern und Städten unterhielt. Zeit dazu hatte man genug.

 

Im Spätsommer 1944 nahte die russische Offensive der Batschka, eine bedrohliche Situation. Annis Vater und Bruder waren Soldaten und nicht zu Hause. Wie sie später erfuhr, war der Vater bei einer Veterinäreinheit und mit maroden Pferden irgendwo in Ungarn nach Graz unterwegs, ihr Bruder, ich also, als Sanitäter in der Nähe von Trier an der Westfront. Mit den wichtigsten persönlichen Dokumenten und der allernötigsten Habe floh Anni mit ihrer Mutter über die Donau und schleppte sich wochenlang zu Fuß durch Westungarn. Bis sie den Semmering erreichten, waren ihre Füße von Hungerödemen unförmig angeschwollen und konnten kaum noch den ausgemergelten Körper aufrechthalten. Aber die Beiden waren gerettet und zogen schon bald weiter, jetzt mit der Bahn. Sie kamen endgültig in Nürtingen am Neckar, einer kleinen Stadt in Württemberg, unter, weil sich dort Verwandte aus der Batschka schon während des Krieges niedergelassen hatten.

 

Für Anni war das Jahr 1945 ausgefüllt mit Gelegenheitsarbeiten, Heimischwerden in Nürtingen, Kriegsende, Wohnungssuche, Rückkehr des Bruders aus Krieg und Gefangenschaft, Kontakt mit dem Vater im Kriegsgefangenenlager, berufliche Umorientierung und Kampf um das Allernötigste an Kleidung und Nahrung. Da es für sie aussichtslos war, mit ihrer in der Batschka erworbenen Schul- und Berufsausbildung ihre Lehre auf der Post hier in Deutschland fortsetzen zu können, suchte sie eine Stelle als Hausgehilfin. Bald fand Anni in einer der zahlreichen Textilfabriken Nürtingens Arbeit als Strickerin. Doch Fabrikarbeiterin wollte sie auf die Dauer nicht bleiben. Inzwischen 26 Jahre alt, fand sie im Krankenhaus in Düsseldorf Aufnahme als Krankenpflegeschülerin. Nach zwei Jahren war sie Krankenschwester. Sie wirkte dann in Tübingen, Ellwangen/Jagst und schließlich in Wangen im Allgäu in verschiedenartigen Krankenhäusern für Augen- und Lungenkrankheiten und innere Krankheiten. Sie ging dann nach Afrika, nach Tanzania. 13 Jahre lebte sie dort in Isingiro, in einer Krankenambulanz mit noch drei Schwestern aus Deutschland. Und alles, was sie als junges Mädchen von ihrer Mutter im Haushalt gelernt hatte, kam ihr dort zugute. Oft dachte sie deshalb an Brestovac, an das Haus, an den Garten, an die Nachbarn. Davon erzählte sie jedesmal, wenn sie nach Europa in Urlaub kam, um sich von schwerer Arbeit zu erholen. Isingiro liegt nämlich im Busch unterhalb des Kilimandscharo, weitab von jeglicher Zivilisation, 450 Kilometer. Nur wenn man dort die alltäglichen Arbeiten von Hand zu verrichten vermochte, konnten auch die Kranken oder Verletzten, die von weither zu Fuß kamen, behandelt und gepflegt werden.

 

Und ich, ihr Bruder? Ich bin in Württemberg Lehrer geworden, schon zwei Jahre nach dem Krieg. Doch erst siebzehn Jahre später bin ich in Brestovac zu Besuch gewesen, wie gesagt mit meiner Frau. Selbstverständlich waren wir auch in der Gavrila Principa ulica im Haus broj 14. Und das hatte sich in Windeseile in der Nachbarschaft herumgesprochen. Da eilte Persa, die Freundin meiner Mutter, herbei, und ich mußte ihr von der Mariska, so haben die Serben meine Mutter genannt, erzählen und viele Fragen beantworten. Und Schafskäse wurde bei Girgili geholt und Trauben aus dem Garten und uns wie früher aufgetischt, in der Küche. Und auch Trifo ist gekommen, Trifo, der bei einem Schwaben, beim Link Tischler, das Handwerk und nebenbei die Sprache erlernt hat. Schwäbisch erzählte er und Serbisch. Er erzählte von meinem Vater, daß man in der Kitzkereih gerne von ihm spreche. Auch gebe es ein geflügeltes Wort, das bei den einheimischen Serben immer wieder von Mund zu Mund gehe: "Joschika hat sogar von Krachel einen Schwips bekommen." Zur Erläuterung gab er folgende Begebenheit zum besten:

 

Joschi war mit Marie, seiner Frau, zum Kopschitzwirt zu einer Unterhaltung gegangen. Zu Hause hatte Marie ihren Joschi gebeten: "Trink heute abend ja nicht zu viel, mir zuliebe, ich müßte mich ja sonst schämen." Joschi schien die Mahnung zu beherzigen. Er bestellte, und flugs brachte der Wirt zwei Flaschen Krachel und zwei Gläser dazu. Die Unterhaltung nahm ihren Gang. Joschi trank seine Krachel, Marie trank ihre Krachel. Doch je weiter der Abend fortschritt, umso lustiger wurde Joschi, umso schwerer seine Zunge und umso unsicherer der Gang. Joschi hatte nun doch einen Schwips, einen Schwips von Krachel. Von Krachel? Keineswegs. Jedesmal, wenn Joschi hinausgegangen und am Ausschank vorbeigekommen war, hatte er rasch ein Gläschen Wein bestellt und es in einem Zuge ausgetrunken. So also hatte Joschi von Krachel einen Schwips bekommen. 

 

Trifo konnte ich mitteilen, daß mein Vater seit Kriegsende nie mehr einen Schwips gehabt habe. Immer wieder hat mir meine Mutter dies mit stolzer Miene berichtet.

 

Nach Deutschland zurückgekehrt erzählte ich Trifos Anekdote. Da mußte Anni, meine Schwester, lauthals lachen und selbst meine Mutter konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. "Es war so," fügte sie hinzu.

 

Anni, ja Anni. Noch einmal mußte sie wegen eines Krieges, des Krieges zwischen Uganda und Tanzania wie damals aus Brestovac, so diesmal aus Isingiro fliehen. Wieder zurück in Deutschland, widmete sie sich noch acht Jahre der Altenpflege bis zu ihrer ernsten Erkrankung, Krebs. Zwei schwere Leidensjahre folgten. Im April 1987 ist sie in Vallendar am Rhein gestorben, meine Mutter 1984, und noch früher mein Vater, nämlich schon 1976.

 

Ob ich mit meinen 70 Jahren Brestovac noch einmal aufsuchen werde? Ob ich jemand von meinen Nachbarn noch einmal wiedersehen werde? Von meinen schwäbischen Landsleuten hier in Deutschland den einen oder anderen wahrscheinlich schon. Bei einem Treffen vielleicht, oder bei einer Wallfahrt, oder einer Feier, oder einem Begräbnis. Ob jedoch einen von den Serben von zu Hause, das weiß Gott allein.

 

Ravensburg, den 26. Juni 1996 Koloman Stumpfögger

 

                                                          

 

Beitrag für die Dokumentation "Komsija pa bog = Gott gebührt die erste Stelle, mein Nachbar jedoch wohnt gleich  nebenan" - wurde serbisch veröffentlicht und am  12. Oktober 1996 in Novi Becej, (Stadt am westlichen Ufer der Theiß in der Batschka ) vorgestellt.


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