Die Friesen im TrübseeGeorg Segessenmann(autorseges@yetnet.ch) Wenn man Anfang oder Ende Winter zum Trübsee ob Engelberg wandert, kann es vorkommen, dass der See mit einer dünnen Eisschicht bedeckt ist. Und wenn man Glück hat, bekommt man ein eigenartiges Klagegeräusch zu hören, das man bis fast auf die Höhe des Jochpasses noch vernehmen kann. Dieses Geräusch fängt irgendwo am oder auf dem See mit einem leisen, wimmernden “Uuuuggg" an und setzt sich dann wehklagend über den ganzen See fort, bis es schliesslich auf dem ganzen Eisfeld zu einem lauten, stöhnenden und ächzenden “Oooggg-uhggg-eeeeiiiiggg" anschwillt. Die Sage erzählt, dass dieses Wehklage seinen Ursprung hat in grauen Vorzeiten, einige Jahrhunderte vor unserer Zeit also. Hier die (meine!)Sage: Der Viehhändler Kuoni hatte es schon auf seinen Reisen in die äusseren Täler oft vernommen aber nie geglaubt, dass die Friesen, die in ihrer Heimat, ganz im Norden der alemannischen Lande, wohnten, wegen Hungersnot sich in die umgebenden Länder retteten. Damals gab es ja noch keine Zeitungen und keine Radios und kein Fernsehen. Es waren die reisenden Händler und Bänkelsänger, die die “Neuigkeiten" in ihren Reisegebieten verbreiteten. Und da diese Händler und Sänger oft ihrer Phantasie Flügel verliehen um vom Volk ein paar Batzen mehr zu bekommen, nahm man nicht alles als bare Münze, was sie erzählten. Wieder einmal war Kuoni auf der Heimreise. Es war eine bitterkalte Nacht und er beeilte sich, baldmöglichst zu Frau und Kindern ans warme Herdfeuer zu gelangen. Da war es ihm kurz vor Engelberg, er sehe im fahlen Mondlicht vor sich einen Zug von marschierenden Leuten. Er glaubte zuerst, es handle sich um unglückliche arme Seelen, die des öfteren rastlos durch die Gegend irrten. Deshalb nahm er einen kleinen Umweg unter die Füsse, auf dem er die Gruppe überholte. Als er schon meinte, die Geister hinter sich gelassen zu haben, sprach ihn plötzlich ein Mann in einer Sprache an, die ihm zwar nicht geläufig war, aber ihm immerhin so vertraut schien, dass er den Sinn der ihm gestellten Frage verstand. Der Mann fragte ihn nämlich um die Möglichkeit, hier im Tal eine Bleibe für die Nacht und etwas zu essen finden zu können. Kuonis Verstand schaltete rasch. Das konnten nur die Friesen sein, die sich hierher verirrt hatten. Aber ihm kam auch in den Sinn, dass sie selber im Tal ja auch nicht zuviel zum Beissen hatten. Deshalb bedeutete er mit reden und gestikulieren, die Gruppe sei auf dem falschen Weg. Er anerbot sich, sie zu einem Weg zu führen, der geradewegs in ein Dorf führe, wo man sie gewiss gastfreundlich aufnehmen werde. Der Mann dankte und wandte sich an seine Leute, die inzwischen einen Kreis gebildet hatten, in dem ihr Führer und Kuoni das Zentrum bildeten. Als der Mann fertig war mit seiner Rede, hörte man zwar ein leises Murren, aber der Zug formierte sich wieder und folgte Kuoni in die Nacht. Wenn er, so dachte Kuoni listig, die Leute über den Holzerweg nach Engelberg führen könnte, so war es ein leichtes, sie zum Alpweg, der zum Trübseee führte, zu lotsen. Und so machte er es denn auch. Gerade als der Weg zu steigen begann, stellte er sich vor den Zug und sprach zum Anführer, nun könne man den Weg nicht mehr verfehlen, müsse sich nur immer an den steinigen Karrweg halten. Dann grüsste er freundlich und entfernte sich eilends. Die Leute riefen ihm noch vielen Dank nach in ihrer rollenden Sprache. Aber Kuoni hörte es kaum noch, denn er war bemüht, sich davonzumachen bevor die Leute den Schwindel endtdeckten. So machte sich denn die Gruppe mit etwa fünfzig Männern, Frauen und Kindern mit ihren noch verbliebenen wenigen Rindern und Hunden daran, den immer steiler und steiniger werdenden Weg zum Trübsee zu nehmen. Gegen Mitternacht kamen sie, total übermüdet und sich kaum mehr auf den Füssen halten könnend, am Trübsee an. Dieser war bedeckt mit einer Eisschicht von etwa fünf Zentimetern Dicke, worauf fast ein Meter Schnee lag. Endlich ein Stück Land, das nicht aus lauter Auf und Ab bestand, dachten die Leute. Hein, der Anführer gebot dem Zug anzuhalten. Dann befahl er den jüngeren und kräftigeren Mannen, sich bis in die Mitte der Ebene einen Weg zu bahnen. Er selber nahm sich eine Handvoll Frauen und ältere Männer und suchte die Gegend nach Brennbarem ab. Dies war gar nicht so einfach, denn alles war ja in ein deckendes Weiss gehüllt und der Mond schien nur ab und zu zwischen den langsam dahin ziehenden Wolken durch. Aber als die Männer in der Mitte der Ebene riefen, man könne ihnen nachfolgen, war genug Holz von den Fichten ringsum eingesammelt, dass es für eine Nacht reichte. Ein Feuer aber musste unbedingt her, denn die Leute brauchten endlich wieder etwas Warmes in den Magen, und zudem hatten sie schon lange ein Geheul gehört, das auf die Anwesenheit von Wölfen schliessen liess. Ermattet legten und setzten sich die Fremden auf ihre Felle und Tücher. Rings um sie wurden Feuer entfacht, auf welchen emsig die letzten Vorräte an Mehl und gedörrten Früchten mittels geschmolzenem Schnee zu einem Eintopfgericht gekocht wurden. Dann schichteten die Männer nochmals Holz nach, so viel sie in der Umgebung noch fanden. Schon hörte man das ermüdete Schnarchen der Alten, und das Gewimmer der hungrigen Kinder hatte aufgehört. Dass sie sich auf einem See lagerten, das konnten sie ja nicht ahnen. Und sie konnten auch nicht ahnen, dass das Feuer, das sie im Kreise um sich angefacht hatten, die dünne Eisschicht zu schmelzen begann. Als alle den Schlaf der Gerechten schliefen, hatte die Wärme die Eisschicht soweit aufgetaut, dass sie sich nun auf einer Eisscholle befanden wie die Eskimos im höchsten Norden manchmal auf ihren Jagdzügen. Niemand merkte wie diese Scholle sich langsam auf einer Seite zu neigen begann. Erst als alles auf diese Seite rollte und glitt, erwachten die meisten von ihnen. Aber da war es schon zu spät. Die Scholle kippte, überschlug sich und begrub alles, was sich auf ihr befand, unter sich. Niemand hatte auch nur die geringste Chance, sich retten zu können. Und so kann es also vorkommen, dass, wenn man anfangs oder am Ende des Winters zum Trübsee ob Engelberg wandert und der See mit einer dünnen Eisschicht bedeckt ist, man ein eigenartiges Klagegeräusch zu hören bekommt, das man bis fast auf die Höhe des Jochpasses noch hören kann. Dieses Geräusch fängt irgendwo am oder auf dem See mit einem leisen, wimmernden “Uuuuggg" an und setzt sich dann wehklagend über den ganzen See fort, bis es schliesslich auf dem ganzen Eisfeld zu einem lauten, stöhnenden und ächzenden “Oooggg-uhggg-eeeeiiiiggg" anschwillt. Das sind die armen Seelen der vor Jahrhunderten ertrunkenen Friesen! Und es geht die Sage, dass Kuoni, der Viehhändler dann ruhelos am Seeufer auf und ab wandert und solange keine Ruhe bekommen wird, bis keine der armen Seelen mehr klagt und wimmert. Januar 1999 “Die Friesen im Trübsee" Georg von Signau, alias G. Segessenmann P.S. Diese Geschichte habe ich erdacht, als ich einmal mit meiner Frau im Winter dieses "UUUUUGGGGGHHHHH" im Eise des Trübsees hörte. Innert ein paar Minuten war sie geboren und auch gleich erzählt. Meine Frau hat sie geglaubt. Ihr auch? |