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1986

 

Die Gestalt aus dem Spiegel

 

 

von  Anna Höge

 

 

 

Die Katastrophe kam nicht überraschend. Lautlos, hinterrücks hatte sie versucht, sich heranzuschleichen. Es war ihr nicht gelungen, denn ich besitze einen unbestechlichen Seismographen für kommende Erschütterungen.

 

Mein schwarzer Spiegel - dort in der Ecke dieses winzigen Zimmers, 9 Quadratmeter mit Schräge, ist mit Schatten ausgefüllt, mit meinem Schatten.

 

Ich zwinkere ihm zu, als ich - im Mantel auf der Liege hockend - das grüne Kuvert in den Händen wog. Amtsgericht M......., Mit Zustellungsvermerk. Es war leicht. So leicht, wie auf dünnes Papier geschriebene Schriftsätze und Gerichtsurteile.

 

Der Raum war kalt. Ungefähr 9 Grad Celsius. Ich fror unter meinem Mantel. Die winzige Gasheizung war schon lange abgestellt. Aber selbst, als sie noch nicht abgeklemmt war, benutzte ich sie nur im äußersten Notfall. Ich fürchtete das zischende Geräusch des ausströmenden Gases ebenso wie den explosionsartigen Knall beim Entzünden.

 

Mein Schatten im Spiegel räkelte sich in stummer Sympathie.

Ich ratschte das Kuvert wie gewöhnlich mit dem Fingernagel auf, obwohl ich natürlich einen Brieföffner besitze, einen guten sogar - ein Erbstück. Aber ich kann meine proletarische Herkunft eben nicht verleugnen, - oder ich will’s nicht, - oder was weiß ich!

Jedenfalls riß der Briefumschlag ein - wie immer.

 

Gelblich graues Licht aus dem winzigen Fenster zwischen den Schrägen schattierte meine Bemühungen, den Brief aus dem beschädigten Umschlag zu schälen. Dann lag er da, grau und geheimnisvoll - dieser Brief - in meiner Hand. Ich wußte, was drinstand.

 

Trotzdem entfaltete ich ihn. Er knisterte gewichtig. Ich beeilte mich nicht, ihn zu lesen, und ließ die Buchstaben eine Weile vor meinen Augen herumtanzen. Der morbide Genuß des Hinauszögerns von bekannten Endgültigkeiten zerging mir auf der Zunge. Verstohlen warf ich einen Blick in den Spiegel.

- Um mich zu vergewissern, daß er noch da war, daß er mich beobachtete.

 

Wir starrten uns an, mein Schatten und ich, während ich meinen Platz auf der Liege verließ und mich ihm näherte. Wir ließen uns nicht aus den Augen. Auf halbem Wege blieb ich stehen. Ich fühlte meine Eingeweide rumoren, als ich den Buchstaben in meiner Hand erlaubte, Gestalt anzunehmen und Worte zu bilden.

 

Langsam, Wort für Wort und Satz für Satz, nahm ich das Schreiben in mich auf und ließ es sich über meinen Bauch in alle Glieder verteilen, bis es mich ganz durchdrang. Der Boden wankte ein wenig unter meinen Füßen. - Gerade so viel, wie ich ihm erlaubte.

 

„ R ä u m u n g s b e f e h l „ stand kursiv gedruckt über ordentlich zusammengestellten Schriftsätzen.

- Nichts Neues also.

 

Ich wandte mich voll der Gestalt im Spiegel zu. Ihre Augen warfen meine Blicke in hinterhältiger Verliebtheit  zurück. Graugrüne Augen - herabgezogene Mundwinkel, Struwwelhaar.

Halbgeschlossenen Auges blickten wir uns mit erbarmungsloser Vertrautheit ins Gesicht.

 

„Was wirst du tun?“ - Eine fremde Stimme. - Meine? - Ihre?

 

„Gehen!“, sagte ich, während meine Hand auf den gepackten Koffer wies.

Die Hand meines Gegenübers folgte der Bewegung.

 

Ich drehte ihm den Rücken zu und spürte, wie es in mich hineinfiel und mich ganz ausfüllte. Ich trug es mit mir hinaus ins Treppenhaus und auf die Straße in gelblich-schmutzige Schneemassen. Die Gewißheit des Nichtseins verlieh mir Kraft.

 

Mein Koffer war klein und nicht allzuschwer. Er barg mein „Ich“, und das wog leicht. Ich - das war ein negatives Bankkonto. Ein winziger Passivposten im Leben, ein größerer Aktivposten in der Kneipe an der Ecke. Dort hatte ich noch Kredit, denn ich hob den Umsatz. Gleich würde sie mich verschlucken. Und dort würde ich warten auf den ersten Stammgast, der den Reigen eröffnen sollte bei der Suche nach einer Bleibe für die Nacht.

 

Copyright

Anna Höge/co. Karin Häsing

Sachsenstraße 35

52351 Düren

 


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