1986 Himbeerbonbons von Anna Höge Der
Stuhl wackelte. Die Kleine hatte sich hinaufgehangelt, um an die
Bonbontüte im Küchenschrank zu kommen. sie hob die eine Hand, die
andere war voll rosaroter Himbeerbonbons. Der Mund lief über vor Saft. Die
erhobene Hand hielt die Öffnung des Mundes zu. Die
Große schaute zu. Hinter
der Treppe im Flur versteckt schaute sie zu, wie das Kind die Himbeerbonbos in
den Mund stopfte. Die ganze Hand voll. - Rosarote Himbeerbonbons aus der
Tüte im Schrank. „Sie
wird sagen, daß ich’s war“, murmelte die Große,
„ganz bestimmt wird sie das sagen. Der
Mund der Kleinen entließ immer mehr rosarote Flüssigkeit. Wie Blut
verteilte sie sich über Mund und Kleidung. Die
Große schaute zu, wie die Kleine den Stuhl zurückschob an seinen
Platz. Der rosarote Speichel tropfte auf den Küchenboden. Die ganze
Küche war voll klebrigem Saft. „Bestimmt
werde ich die Schuld kriegen!“ Die Große schauderte genußvoll
in Erwartung kommender Ungerechtigkeiten. Die
Kleine verzog sich mit den Bonbons unter den Tisch. Schmatzende Geräusche
erfüllten aufdringlich die Gehörgänge der Großen. Sie
stand an der Treppe und wartete. Gleich mußte die Mutter kommen. Sie
würde kommen und sie, die Große bestrafen. Die
Kleine hatte die Tüte leergegessen. Blitzschnell
krabbelte sie unter dem Tisch hervor. Die dicken Beinchen stellten sich auf.
Die Kleine verschwand, den Mund noch voller Bonbons, ins Wohnzimmer. „Mich
wird die Mutter bestrafen!“ Die Große schwelgte in triumphierenden
Haß. Sie nahm den Aufnehmer, ließ Wasser in den Eimer laufen. Die
Füße klebten am Küchenboden. mit geübter Hand und unter
kräftigem Rubbeln wischte die Große die Spuren der Kleinen fort. Im
Wohnzimmer saß die Kleine. Die
Große betrachtete sie haßerfüllt. „Komm!“,
sagte sie. Sie zerrte sie vom Boden hoch in die Küche. Mit einem
Waschlappen säuberte sie der Kleinen Gesicht und Hände. Die rosarote
klebrige Brühe verteilte sich im Lappen. Die Große wusch ihn
sorgfältig aus und legte ihn an seinen Platz zurück. „Du
bist ein häßlicher kleiner
Gnom,“ sagte sie zu der Kleinen, die ihr begeistert zulachte. Abrupt
verließ die Große den Raum und ging auf ihr Zimmer. Sie setzte sich
auf den Stuhl und wartete. Gleich würde die Mutter kommen. Und sie
würde sagen, daß sie, die Große, schuld sei. - Und die Kleine
würde mit dem Finger auf sie zeigen. Die
Tür klappte. Schritte hallten zu ihr herauf. Tip-Tap,
Tip-Tap. Sie
hörte die Kleine weinen. „Mama,
Bongbong!“ Das
Quietschen der Schranktür ließ sie aufhorchen. Sie
schlich sich zum Treppenabsatz. Die
Stimme der Mutter klang überrascht: „Wo sind sie denn?“ Leise
ging die Große die Treppe hinunter, schielte durch die geöffnete
Küchentür. Die Kleine stand vor der Schrank. Der Mund war offen. Den
Finger im Mund schaute sie blöde vor sich hin. Jetzt hatte sie die
Große entdeckt, die um die Ecke lugte. „Da,
da!“ Sie strahlte, während der Zeigefinger auf die Große
hindeutete. „Aha!“,
sagte die Mutter, „dacht’ ich’s mir doch!“ Sie
hatte die Spuren am Boden und in der Kleidung der Kleinen entdeckt. Ihre Stimme
klang ungeduldig, ein wenig ärgerlich. Die Kleine zeigte immer noch mit
dem Finger auf die Große. Diese
setzte sich in Bewegung. Mit drei Schritten war sie bei der Kleinen. Sie schlug
zu, gezielt schlug sie zu, immer und immer wieder. Das Geschrei der Kleinen
mischte sich mit ihrem „Du
häßlicher Zwerg!“, schrie sie und schlug immer weiter. Die
Mutter riß die Kleine von ihr fort. „Sie
lügt!“, schrie die Große, „sie lügt!“ „Sie
soll nicht sagen, ich war’s! - Sie lügt!“ Noch
einmal versuchte sie zu schlagen. Die
Mutter hielt sie fest. Die
Kleine schrie erbärmlich, das Gesicht erhitzt und blau angelaufen vor
Anstrengung. Sie klammerte sich an den Rock der Mutter. „Geh’
sofort hinauf!“, sagte diese zur Großen. Die Stimme vibrierte vor
verhaltenem Zorn. „Sofort
verschwindest Du!“ „Sie
soll nicht sagen, ich war’s!“ Noch
einmal bot die Große der Mutter trotzig die Stirn. Dann drehte sie sich
um. Langsam Schritt vor Schritt setzend stieg sie hinauf auf ihr Zimmer. „Nein!“,
sagte sie, „sie sollen nicht immer sagen, daß ich es war!“ Triumphierend
glitzerten Tränen in ihren Augen, indessen sie immer und immer
wiederholte: „Sie sollen nicht immer mir die Schuld geben!“ Copyright Anna
Höge/co. Karin Häsing Sachsenstraße
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Düren |