1985 Triumph der Flasche von Anna Höge Als
Schmude sich ächzend und stöhnend durch die niedrige Tür
gezwängt hatte, empfingen ihn heimeliges Neonlicht und T’s
strahlendes Mondgesicht. Schmude schloß geblendet die Augen, als auch
schon die sonore Stimme T’s die schmerzende Stille zerriß. „Ich
gratuliere!“ Einladend
breitete T die Arme aus. Schmude,
dessen Augen noch mit dem Dämmerlicht des Ganges kämpften, zog sich
in freiwillige Dunkelheit zurück. T
ließ verwirrt die Arme sinken. Enttäuschung breitete sich über
sein Gesicht und über seinen ganzen Körper. Schmerzhaft zuckten die
Lider, und er ließ sich schwer gegen den aufgeräumten Schreibtisch
sinken. Er drehte Schmude einen breiten Rücken zu, und mit hängenden
Schultern ging er um den Schreibtisch herum, ließ sich auf dem
orthopädisch angepaßten Stuhl nieder und rückte nervös
seine Krawatte zurecht. Die eben noch weit ausgestreckten Arme sanken
resigniert auf die Schreibtischkante nieder. Die Finger krampften sich
zusammen. Der ganze Körper verharrte in zitternder
Verständnislosigkeit. Schmude
hatte sein schmerzendes Kreuz inzwischen aufgerichtet. Er stand noch immer
neben der niedrigen Tür, ohne sich zu bewegen. Seine Augen fanden endlich
einen Punkt, auf den sie sich schadlos richten konnten. „Ich,
ich...“, machte er und klappte den Mund zu. „Ja?“ T
richtete seinen Körper hoffnungsvoll auf. Von der Höhe des
Schreibtisches aus starrte er auf Schmude herab. „Das
Licht!“, entfuhr es Schmude, „es blendet mich!“ „Dann
machen sie’s aus!“ Schmude
blinzelte zwischen halbgeschlossenen Lidern nach einem Schalter. „Neben
ihnen!“, sagte T, und Schmudes Finger tasteten in die linke Richtung.
Sofort fiel der Raum in dämmriges Halbdunkel, und Schmude wußte
nicht mehr, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt. Nach einiger Zeit
bemerkte er zwei fensterähnliche Flecke und entschied, daß seine
Augen offen sein mußten. Er befand sich in einem langen
schlauchähnlichen Raum. Die Wände verjüngten sich nach oben zu und endeten in einem tunnelartig
gebogenen Gebilde. Die Entfernung von der Tür bis zum Schreibtisch betrug
ungefähr fünf Schritte, - wenn er sich anstrengte. Schmude
war verwirrt. In diesem Büro war er noch nie gewesen. Er wunderte sich,
wie er hierher gelangt war und was er hier wollte. T
blickte nun wieder wohlwollend auf Schmude herab. „Mein
lieber junger Freund...“, begann er. Schmude
wollte ihn unterbrechen. „Wieso...?“,
setzte er an, merkte aber, daß er es mit T’s Stimmvolumen nicht
aufnehmen konnte. Er verschloß vorerst seinen Protest über T’s
Formulierung in seinem Innern. „Mein
lieber junger Freund“, setzte nun T erneut an, was umso befremdlicher
war, als T eindeutig der Jüngere von ihnen beiden war. Unverdrossen
fuhr T fort: „Ich gratuliere!“ Er
machte eine Pause, und Schmude versuchte, sich die plötzlich einsetzende
Stille zunutze zu machen. Er holte tief Luft, setzte erneut zum Sprechen an,
sprach auch, aber die Laute wurden von einer schmerzhaft anwachsenden Stille
verschluckt. Schmude
schloß erschrocken den Mund. Solches war ihm noch nie widerfahren. T
begann unterdessen seine Rede. „Sie
sind der Erste,“ sagte er, „der bis zu diesem Raum vorgedrungen
ist, und für diesen Ersten
haben wir uns eine ganz besondere Überraschung ausgedacht.“ „Treten
sie doch näher, mein lieber junger Freund!“ Schmude,
von der Kraft der Stimme eingefangen, wollte der Aufforderung Folge leisten,
wußte jedoch nicht mehr, wie er sich bewegen sollte. Hilfesuchend
schaute er T ins Gesicht. Dieser
stand verbindlich lächelnd auf, umkreiste den Schreibtisch, begab sich an
die Fensterimitation, öffnete die Läden und entnahm dem dahinter
verborgenen Wandschrank einen überdimensionalen Aktenordner, auf dessen
Rücken in deutlich lesbaren Zeichen etwas Unverständliches stand. Mit
beiden Händen trug er das Stück zum Schreibtisch hinüber. Seine
Augen ruhten voller Sympathie auf dem Deckel, und breit lächeln wandte er
sich Schmude zu.. Betroffen
bemerkte er, daß dieser sich keinen Meter vom Fleck bewegt hatte.
Sorgenvoll zerknitterten seine Züge. Er legte den Kopf zur Seite, setzte
sich auf seinen Sessel, und in liebevoller Trauer strichen seine Hände
über den Aktendeckel, griffen nach dem Rand, hoben ihn ein wenig, um ihn
wieder sinken zu lassen. „Ich
habe den Eindruck, daß es sie gar nicht interessiert.“, murmelte T.
Seine Stimme bebte in tränenerstickter Traurigkeit. Schmude
fand endlich die Stelle in seinem Gehirn, die für die Fortbewegung
zuständig war. Langsam,
Schritt vor Schritt, bewegte er sich in Richtung T, der in bodenloser
Resignation dahingesunken war. Vor dem Schreibtisch angekommen bemerkte
Schmude, daß dieser viel zu hoch war, als daß er über den Rand
hätte hinausschauen können. - Er war nicht eben groß, und im
Bemühen, T ins Gesicht zu schauen, reckte er sich. mit beiden Händen
suchte er den Tischrand zu erreichen, glitt aber immer wieder ab. Schmudes
untrainierter Körper begann zu schmerzen. Er bekam einen Wadenkrampf,
schrie: „Au!!“ und stellte schleunigst seine Bemühungen ein. Über
ihm erschien jetzt rund und groß das Mondgesicht T’s. Auf der Nase
saß eine riesige Brille, hinter der die Augen fast verschwanden. Schmude
duckte sich erschrocken, bis ihm einfiel, daß er auch jemand sei. Erneut versuchte er, sich am Tischrand
hochzuziehen. Gerade als es ihm gelingen wollte, spürte er einen
schmerzhaften Schlag auf die Finger. Irritiert ließ er los und versuchte
zu ergründen, woher der
Schmerz kam. T’s
Gesicht war verschwunden, stattdessen ragte ein drohend erhobenes Lineal
schräg über die Schreibtischkante hinaus. Schmude entschied, nicht
auf seinen Persönlichkeitsrechten zu beharren. Er blieb locker stehen. Das
Lineal verschwand. Ein Stuhl wurde geschoben. T umrundete den Schreibtisch und
stand vor Schmude. Er nahm Schmudes eher schmächtige Schultern in seine
grobschlächtigen Pranken und schob ihn zum Ledersessel, der drei Schritte
entfernt wie hingezaubert stand. Schmude ließ sich willig in den Sessel
drücken. T
setzte erneut zum Reden an. Er legte den Kopf schief, fummelte mit seiner
großen Hand in der Brusttasche seines Anzugs herum, zog eine dunkle
Hornbrille hervor. Mit
der einen Hand entfernte er die Riesenbrille, mit der anderen schob er
umständlich einen Bügel der Hornbrille über das linke Ohr. Die
Riesenbrille verschwand in der Brusttasche, und beim Versuch, den rechten
Bügel der Hornbrille über das rechte Ohr zu schieben, blieb T’s
Nase im Mittelteil der Brille stecken. Schmude,
durch den persönlichkeitsstärkenden Ledersessel gewachsen, schlug die
Beine übereinander und lachte über T’s törichten
Gesichtsausdruck. „Mein
lieber T“, sagte er, „échauffieren sie sich nicht. Sehen sie, ich bin keineswegs als
erster hierher gelangt, ich habe dieses Büro selbstverständlich
selbst erfunden, und sie sind natürlich auch eine Erfindung von
mir.“ T
schaute Schmude ungläubig an. Schmudes plötzliches
Selbstbewußtsein verunsicherte ihn. „Nein,
nein, mein Herr!“, sagte er, „sie müssen sich irren! Dies ist
eine Kreation, ich möchte fast sagen, eine meisterhafte Kreation ihres
hochverehrten Amtsleiters, Herrn Oberamtsdirektor T, also meiner Wenigkeit, wie
ich in aller Bescheidenheit bemerken möchte.“ Dabei
legte T den Kopf seitwärts und glich so einer großen Eule. Schmude,
dessen Ledersessel auf unergründliche Art und Weise immer höher
wuchs, fühlte mit jedem Zoll mehr seine Stärke und Bedeutsamkeit. Die
Brust schwoll ihm an vor Kraft, und zu seiner eigenen Überraschung
donnerte nun seine Stimme von der Höhe des Raumes auf den geschrumpften T
herab. „Ja,
wie reden sie denn mit mir, sie Schnösel, sie! In ihrem Alter hätte
ich es nicht gewagt, so mit meinem Vorgesetzten zu sprechen!“ T
versuchte, Schmude zu unterbrechen. „Aber...“,
setzte er an. Schmude
ließ sich jedoch nicht unterbrechen. „Sowas
ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht passiert. - Sie sind
entlassen!“, schrie er und fühlte sich großartig. T
stand unterdes einen Moment starr, dann murmelte er achselzuckend: „Das
Weitere haben sie sich selbst zuzuschreiben.“ Zögernd
ging er an seinen Schreibtisch zurück und drückte auf einen seitlich
angebrachten Knopf. Schmudes Ledersessel fiel unsanft in die normale
Größe zusammen, und er spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Etwas
läutete, - lang - Pause - lang - Pause -, und hörte nicht auf. Schmude
fühlte sich plötzlich elend und schloß die Augen. Das
Läuten blieb in seinem Schädel, bis er bemerkte, daß es von
außen kam. Er versuchte, sich zu erinnern, aber nichts weiter drang in
sein Bewußtsein als das aufdringliche Geräusch und die
pelzig-klebrige Zunge in seinem Mund. Seine
Kehle lechzte nach etwas Trinkbarem. Sein Schädel wurde fast gesprengt
durch den weiter andauernden Lärm der Telefonglocke. Er versuchte, sich zu
konzentrieren, zunächst auf die Augen. Mühsam hob er die Lider. Da
tanzten verschwommene Vierecke und Kreise. Schnell schloß er sie wieder. Nun
versuchte er es mit den Ohren. Er begann das Läuten zu orten, das seinem
schmerzenden Kopf zusetzte. Mit beiden Händen tastete er um sich herum.
Irgend etwas fiel um, und dann hatte er den Telefonhörer in der Hand. Er
hob ihn an, um ihn dann auf die Gabel fallen zu lassen. Die Stille tat wohl,
und erleichtert wollte er sich entspannen. Aber eine Welle von Übelkeit
stieg in ihm auf, und im gleichen Moment erfaßte er seine Lage. Unter
Aufbietung aller Kraft kämpfte er die Übelkeit nieder. Er ignorierte
das höllische Brennen in seinem Innern. Er versuchte, nicht zum Waschbecken
zu gehen. Er erinnerte sich an die Flasche, und daran, daß er sie
verschwinden lassen müsse. Er holte tief Luft und versuchte,, die Augen so
lange offen zu lassen, bis die Konturen klar hervortraten. Seine Augen glitten
suchend über den Schreibtisch. Unklar erinnerte er sich, daß eben
etwas umgefallen war, und da hatte er sie schon entdeckt. Leer! Schmude
hoffte, daß er dieses eine Mal noch davonkommen möge. Seine
Hände griffen nach der Flasche, verfehlten sie aber, und beim
Zurücknehmen der Hände bekam sie einen leichten Stoß und
kollerte über die Schreibtischkante auf den teuren grünen
Teppichboden. Schmude schloß schnell die Augen und bückte sich
blind. Vorsichtig öffnete er sie wieder, sah die Flasche, griff nach ihr.
Sie ließ sich nicht bewegen. Schmude ließ los, blinzelte und sah
mit plötzlich weit aufgerissenen Augen auf ein Paar sorgfältig
gepflegter Herrenschuhe. Die Flasche ruhte in der großen Hand und
schwebte, eine Wolke Eau de Cologne vor sich herduftend, auf den Schreibtisch
zu. Aus! Schmude
gab es auf und ließ sich endgültig gehen. Er überließ
sich der aufsteigenden Übelkeit, schob ruckartig den Stuhl zurück und fand den Weg zum
Waschbecken. Er übergab sich unter Würgen und Krämpfen. Eine
Weile blieb er, die Hände auf den Waschbeckenrand gestützt, stehen,
den Kopf gesenkt. Hinter sich hörte er das Geraune der Kollegen. Ohne sich
darum zu kümmern, drehte er den Wasserhahn auf, steckte seinen Kopf unter
den eiskalten Strahl. Dann formten seine Hände einen Trichter,
ließen den Wasserstrahl hineinlaufen, und er trank in großen
durstigen Zügen. Die nasse Kälte prickelte auf der Haut, löste
im Mund den klebrigen Film für eine Weile auf. Schmude
richtete sich auf, strich mit den Händen über Haare und Gesicht, und
ohne sich weiter um die schweigenden Beobachter zu kümmern, nahm er sein
Jackett vom Haken, durchmaß mit fünf Schritten den Raum,
drückte sich schweigend an der sich kleinmachenden Vorzimmerdame vorbei,
öffnete die Tür zum Gang und verschwand. Die
unsicheren Schritte verhallten, während die Außenschwingtür ein
dezentes Geräusch von sich gab. Dann war Stille! Copyright Anna
Höge/co. Karin Häsing Sachsenstraße
35 52351
Düren |