Weihnachten & Advent Weihnachten 1936

etti2
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Weihnachten 1936
geschrieben von etti2

Wie gern träumt Lisa sich in ihre Kindheit zurück. Nirgendwo auf der Welt konnte Weihnachten schöner sein, als bei Lisa zu Hause in der behagliche Wohnküche mit dem gemütlichen braunen Ledersofa, dem Herd, dessen Platte im Winter oft glühendrot schimmerte, und in dessen Backofen sich die durchgefrorenen Füße so herrlich wärmen ließen, bis sie prickelten. Da war die Schaukel, die im Rahmen der Speisekammertür befestigt war. Schaukeln war herrlich! Man schwebte über das Sofa und hinein in die Kammer, hin und her. Manchmal stieß Lisa sich den Po an den Regalen.
Sehr arm waren sie. Aber Lisa und ihre Geschwister spürten das kaum, ihre Weihnachtswünsche wurden meist erfüllt. Schon Wochen vor dem Fest war Vater nur im Keller zu finden, sägte, schmirgelte, und im ganzen Haus duftete es nach Holz. Mutter nähte immerzu, meist bis in die späte Nacht, und Lisas Schlaflied war das Summen der Nähmaschine...
An ein Weihnachtsfest erinnert sich Lisa ganz besonders. Onkel Franz, Vaters Bruder aus Amerika, hatte sich angesagt. Er war Artist, wie Vater, bevor er Mutter heiratete. Vater freute sich auf das Wiedersehen, der Rest der Familie, den Onkel endlich kennenzulernen. Aber Lisa beschäftigte viel mehr Mutters Versprechen, sie in die Kirche mitzunehmen. Zum ersten Mal durfte sie mit! Sie fühlt noch heute wie Mutter sie hochhob, auf den Tisch setzte, ihr weiße Kniestrümpfe mit Bommeln an den Seiten und schwarze Lackschuhe anzog. Noch nie hatte sie so schöne Schuhe besessen. Sie glänzten wie der Linoleumboden in der Küche, der von Vater immer mit dem schweren Bohnerblock bearbeitet worden war. Zuletzt holte Mutter aus dem Schrank das Festtagskleid, das schon seit langem fertiggenäht im Verborgenen auf diesen Tag gewartet hatte.
Zum Kirchenportal hinauf führten mächtig hohe Stufen, die für Lisas kurzen Beinchen viel zu hoch waren. Fast klettern mußte sie und wäre sicher hingefallen, nach rechts, links, auf den Po, oder vielleicht auch nach vornüber, hätte ihr nicht Mutters warme Hand Halt und Sicherheit gegeben. Als sie dann die Kirche betrat, legte sich die Stille auf ihr Plappermäulchen - machte sie stumm und andächtig. Die Sitzfläche der Holzbank, in die sie gesetzt wurde, war groß und breit, so breit daß ihre Fußspitzen gerade so eben über den Rand hinausragten. Sie saß direkt neben einer Säule, an der auf einem kleinen Podest die Mutter Maria mit dem Jesuskind stand die das Jesuskind genauso lieb anschaute, wie Mutter Lisa immer lieb anschaute. Lisa wußte damals noch nicht, wer die Frau da oben an der Säule war. Sie hieß, wie ihre Mutter lächelte ebenso wie sie und war wunderschön. Auf dem Weg nach Hause nußte Lisa immer an sie denken.
Lisas Vater, der zu Hause geblieben war, weil er auf Onkel Franz warten mußte, hatte inzwischen wie jeden Weihnachten einen Tannenbaum gezaubert. Dafür nahm er einen Besenstiel, bohrte in ihn viele Löcher, in die er Zweige steckte, die er beim Händler aufgelesen hatte. Für einen echten Tannenbaum fehlte meistens das Geld. Aber Vater wußte sich immer zu helfen. Die Vorbereitungen waren wohl erledigt, denn er saß mit Onkel Franz, der inzwischen angekommen war, im Schlafzimmer auf der Chaiselongue, die ihren Platz vor den Betten hatte. Die Tür zur Wohnküche war verschlossen, und es duftete geheimnisvoll. Lisas Geduld war zum Zerreißen gespannt. Onkel Franz war ihr gar nicht so wichtig, und das Gerede um sie herum wollte kein Ende nehmen.
Irgendwann verschwand Vater hinter der geheimnisvollen Tür. Dann war das vertraute Läuten der kleinen Engel zu hören, die, auf der Spitze des Tannenbaumes, angetrieben von der Wärme der brennenden Stearinkerzen, die Weihnacht einläuteten. Endlich öffnete sich die Tür! Was da alles unter dem Tannenbaum stand! Ein Pferdefuhrwerk für Lisas Bruder, ein Kaufladen für die Schwester und für sie eine Puppenküche, die genauso aussah, wie die Küche in der alle wohnten und die Vater auch selbst geschreinert hatte - hellgrün mit kleinen Perlleisten verziert. Sogar die kleine Uhr hatte einen grünen Rahmen wie die große, die über dem Ledersofa hing. Die Puppen trugen alle neue, von Mutter genähte Kleider. Natürlich gab es auch etwas anzuziehen. Und statt des Häufchens Zucker, das Mutter nach jedem Mittagessen auf den Tisch gab, um allen den Süßhunger zu stillen, lagen richtige Süßigkeiten auf den Tellern.
Ins Bett brachte Mutter Lisa erst, als sie zwischen ihren Spielsachen eingeschlafen war. Aber Lisa spürte noch, wie Mutter sie zudeckte. Und als sie noch einmal die Augen öffnete, sah sie über sich ihr Gesicht, und im Schein der Lampe aus dem Nebenzimmer sah sie tatsächlich aus wie die Mutter Maria an der Säule...
nostalgie
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Re: Weihnachten 1936
geschrieben von nostalgie
als Antwort auf etti2 vom 13.10.2013, 19:19:36
Schöne Erzählung! Es werden Erinnerungen wach.

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