Soziales Gratismut
Hallo,
Hans Magnus Enzensberger prägte einst den Begriff „Gratismut“. Damit bezeichnet man eine Haltung, mit der Aussagen gemacht oder Handlungen begangen werden, die keinerlei Risiken oder negative Konsequenzen mit sich bringen, also nichts „kosten“ und demnach „gratis“ sind.
Werden z.B. Menschen öffentlich beleidigt, bedroht oder gar geschlagen, sind nur wenige bereit, sich einzumischen oder zu helfen. Wird über solche Fälle im Nachhinein in Zeitschriften/Fernsehen berichtet, ist der Aufschrei, besonders in sozialen Medien meist groß. Die Leute empören sich und versichern einander „gratismutig“, dass sie eingreifen würden, ja eingegriffen hätten, wären sie selbst dabei gewesen. „Es gibt eine vielfach empirisch belegte Diskrepanz zwischen Werten und Handeln“, so Veronika Brandstätter, eine Züricher Psychologieprofessorin.
Mit „Gratismut“ verbindet sich manchmal eine offen zur Schau gestellte, moralische Selbsterhöhung, die mit der gelebten Wirklichkeit wenig zu tun hat.
Auch die vehemente Verurteilung der Menschen, die z.B. den Nationalsozialismus miterlebten, fällt darunter – es ist ein „Mut“, der keinerlei Risiko birgt. Ich bin überhaupt sehr zurückhaltend mit der Verurteilung von Menschen. Heute las ich auf der Rückfahrt aus unserem Urlaub in einem Buch den indianischen Spruch: „Bitte lass mich meinen Nachbarn nicht kritisieren, bevor ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bin!“ Da ist viel Wahres dran - denn, kann ich mir wirklich sicher sein, dass ich in einem diktatorischen System den Mund aufgemacht hätte?
Was meint Ihr?
Gruß Mane
kann ich mir wirklich sicher sein, dass ich in einem diktatorischen System den Mund aufgemacht hätte?Das ist eine gute Frage, mane. Wir haben diese hier auch schon öfters gestellt und ich z. B. weiß nicht, ob ich zum Helden geboren wäre. Wahrscheinlich wie die meisten von uns, nein.
geschrieben von mane
Welche Schlussfolgerungen sind aber daraus zu ziehen?
M. E. wäre es doch verfehlt den "Gratismut" deshalb lächerlich zu machen, sondern die negative Antwort auf deine Frage macht doch gerade deutlich, wie enorm wichtig es ist, den Mund aufzumachen und eine klare Haltung zu zeigen, solange dies recht kostengünstig möglich ist.
Wenn es so weit ist, dass Widerstand gegen Faschismus den Tod bedeuten kann, dann ist es zu spät!
Deshalb ist der Satz "Wehret den Anfängen!" so enorm wichtig und Gold wert.
Widerstand ist immer angesagt gegen faschistische Tendenzen in der Gesellschaft. Die Biedermänner, die immer nur abwiegeln, sind die Wegbereiter der Brandstifter, denke an das Drama von Max Frisch:
Biedermann und die Brandstifter
Die Brandstifter waren im ursprünglichen Stück Kommunisten, aber Max Frisch sah dies keineswegs als rein antikommunistisches Stück. So "schrieb ich für die deutschen Bühnen ein Nachspiel: Herr Biedermann als deutscher Bourgeois, der mit den Nazi fraternisiert."
Karl
Hallo Karl,
die Parabel von Biedermann steht für die unheilvolle Fähigkeit des Menschen, eine erkennbar drohende Gefahr auszublenden, und mit dem Untertitel „Lehrstück ohne Lehre“ will Frisch möglicherweise darauf hinweisen, dass Theaterstücke keine gesellschaftlichen Veränderungen bewirken können.
Meine Worte sollten nur als Beispiel dienen, den Unterschied von „echtem“ Mut (oder Zivilcourage) und „Gratismut“ klar zu machen und nicht zum Auftakt zu einem erneuten Kampf gegen „Rechts“ und zum Widerstand gegen faschistische Tendenzen aufrufen. Dieser ist wichtig, da gebe ich dir Recht, sollte jedoch in diesem Thread nicht das Thema sein.
Also, der Mut der Political Correctness, von Hans Magnus Enzensberger einst Gratismut genannt, kostet bekanntlich nichts.
Dieser ist z.B. unter Künstlern stark ausgeprägt. Das Bekenntnis zur guten Sache folgt in der Regel, wenn der Applaus garantiert ist.
Die Herzchen-Button-Vergabe halte ich (manchmal) für Gratismut. Einer Meinung zuzustimmen oder dem Gegner dieser Position, ohne befürchten zu müssen, dass es einem selbst Kritik oder Ärger einbringt.
Die Hühner- und die Heldenbrust
Gruß Mane
Ich denke, wir alle,die wir in den 60er Jahren politisiert wurden und aufgrund unserer stummen Eltern, die uns nicht vermitteln konnten und wollten, welche Rolle sie in der mörderischen Nazizeit spielten, haben später nochmals intensiver darüber nachgedacht ,wie wir eigentlich gehandelt hätte, wenn wir damals schon als Erwachsene gelebt hätten?
Ich denke für mich auch, dass ich mich nicht todesmutig in den Widerstand begeben hätte, mit dem Galgen vor Augen. ABer ich hoffe und glaube, dass ich nicht am Fenster gestanden hätte, um den Abtransport meiner jüdischen Nachbarn in den Tod zuzusehen.
Genau so würde ich heute als alte Frau mich in keinen Kampf in einer S-Bahn einschalten, wenn andere bedroht werden - ich würde die Polizei anrufen, bzw. - wenn ich den Mut aufbrächte - versuchen, Ruhe in die Angelegenheit zu bringen und zwar zusammen mit anderen Beteiligten.
Wo ich aber (hoffentlich) immer und sofort einschreiten würde, ist, wenn ein Kind in meiner Gegenwart misshandelt wird oder von Misshandlung bedroht ist. Auch da würde ich versuchen, Mithelfer zu organisieren.
Aber es ist in einem langen Leben auch so,dass sich die Ansprüch an sich selbst auch ändern, weil man zu viel und Unterschiedliches erlebte und versuchen muss, es einzuordnen. Diesen Prozess machte gerade Herr Enzensberger in seinem langen Leben auch mit sich durch; er spricht heute in vielen Dingen völlig anders als z.B. noch in den 60er Jahren. DAs macht auch das Leben aus einem und eben auch die Zeiten ,die sich ständig ändern - nichts ist ja bekanntlich so beständig wie der Wandel.
Nur die Basis sollte stimmig sein für den Menschen und diese wird gebaut und gelegt von den Eltern, der Schule und dem eigenen Umfeld. Dann bleibt man sicher immer ein wenig mutig - so hoffe ich es wenigstens, aber gratis wird dies nie sein. Olga
Ich denke, sicher sein kann sich niemand, wenn er in eine von Dir geschilderte Position kommt, ob er nun einschreitet oder nicht. Eher ist es die Erfahrung und die innere Haltung, ob ein Mensch sich mutig gegen Unrecht stellt oder lieber aus der Situation flieht. Menschen sind soziale Wesen, in denen es Alpha-Menschen und untergeordnete Menschen gibt. Die Mehrheit der Menschen geht wohl eher den Weg des geringsten Widerstandes. Da sind wir m.E. nicht anders veranlagt als im Sozialverbund lebende Tiere.
Die Frage stellt sich wohl auch, was zu verlieren auf dem Spiel steht, wenn man sich gegen eine Sache stellt, denen die meisten Menschen blindlings folgen oder aus dem Wege gehn. Wer könnte denn schon von sich behaupten, so mutig zu sein, wie die Geschwister Scholl es seinerzeit waren?
Von meinem Vater weiß ich, dass er als Kampfpilot im Krieg war und zu meinem Entsetzen immer, bis zuletzt, stolz darauf war. Schließlich hatte man ihm ja einen Orden verliehen. Er hatte Glück und kam unverletzt aus dem Krieg. Aber wieviele andere Menschen, die in den Krieg zogen, hat es teilweise grausig dahingerafft? Hätten sich all diese Menschen geschlossen gegen diesen Krieg gestellt, gäbe es wohl viele tausend Gräber weniger.
LG - Naturella
@olga64,
dem meisten kann ich zustimmen, nur sollten wir eben auch die Generation unserer Eltern nicht pauschal betrachten, auch da gab es große Unterschiede, wenn die gesellschaftliche Großtendenz auch so war, wie Du schreibst: es herrschte vielerorts Schweigen. Ich habe mündliche und schriftliche Berichte meines Vaters über die Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft. Ihm vedanke ich einen tief angelegten Widerwillen gegen alle Tendenzen, die in diese Richtung gehen und dafür bin ich ihm dankbar.
@mane,
ich wollte das Thema nicht umbiegen. Ich hatte es als ein wenig Kritik an der Empörungskultur verstanden. Wie gesagt, nur im Vorfeld kann verhindert werden, dass das Kind in den Brunnen fällt.
Ich gebe Dir natürlich Recht, dass auch (z. B. im Theater) des Applaus wegen Dinge gesagt werden. Es gehört kein Mut dazu, sich einer Mehrheitsmeinung anzuschließen. Nur - ich weiß manchmal nicht mehr, was Mehrheit und was Minderheit ist und das macht mir schon Sorge.
Karl
Hallo mane,
ich habe gerade Enzensbergers Artikel von 1961, der über Gratisangst und Gratismut handelt, gelesen. Auch er schreibt am Ende ja "Nur in einer Diktatur ist Todesmut erforderlich, um etwas Richtiges zu sagen. "
Das Richtige zu sagen, sollten wir aber deshalb gerade in einer Demokratie nicht unterlassen.
Karl
Dieser ist z.B. unter Künstlern stark ausgeprägt. Das Bekenntnis zur guten Sache folgt in der Regel, wenn der Applaus garantiert ist.Ich stelle immer wieder fest, dass das Bekenntnis zur guten Sache mit Kritik statt mit Applaus bestraft wird, der Vorwurf, ein „Gutmensch“ zu sein, wenn man sich gegen Rassismus und Verharmlosung von Rechten einsetzt, folgt oft auf dem Fuß.
Gruß Mane
Und zu Karls Erklärungen: Mein Vater hat ein kleines Büchlein im Selbstverlag herausgebracht mit seinen Erinnerungen. Die sind ein ganz wertvoller Schatz für mich, weil ich auch da seine Einstellung zu dem, was damals passiert ist, nachlesen kann, abgesehen von seinen mündlichen Zeugnissen. Und ich bin unendlich dankbar, weil daraus eindeutig seine Antihaltung zu all dem hervorgeht und ich nicht darunter leiden muss, einen überzeugten Nazitäter als Vater gehabt zu haben. Er war kein Held und hätte sich nicht in Gefahr gebracht, das schreibt er auch. Aber es gab genug Möglichkeiten, Dinge zu verweigern und nicht mitzumachen, ohne etwas befürchten zu müssen, das wird von vielen damaligen Mitläufern und erst recht von den Mittätern bestritten, weil sie ihre Schuld nicht sehen wollen. Ich ziehe aus Äußerungen und dem schriftlich Niedergelegten den Schluss: Besser „Gratismut“ als gar kein Mut! Wir haben das Glück in einem System zu leben, in dem wir klar und deutlich warnen dürfen vor den Gefahren, dass es wieder erodieren oder zerstört werden könnte, wenn wir eine falsch verstandene Toleranz denen gegenüber aufbringen, die an den Grundfesten sägen und sägen und sägen. Wer sich an diesen Warnungen beteiligt, legt dann vielleicht „Gratismut“ an den Tag, aber was ist daran verwerflich? Nur wegen eines solchen Begriffs, der mir vorgeworfen werden könnte, werde ich nicht schweigen, wenn ich sehe, was da wieder auf uns zukommt. Da halte ich mich lieber an die Empfehlung von Stéphane Hessel Empört Euch!
Sollen sie mich als „Berufsempörerin“ beschimpfen, wie vor einigen Tagen hier geschehen. Dann bin ich das eben, ich pfeif auf derartige „Auszeichnungen“ von jemandem, der sich nie einbringt und nur andere kritisiert. Auch "Gratismut" lasse ich mir gern vorhalten, wenn es denn sein muss. Ein solcher Vorwurf ist auch ein Gratismut von denen, die gar nichts tun.
@olga64, an Ihrem Beitrag gibt es nichts zu kritisieren, sowie ich auch den Aussagen der anderen Schreiber meist zustimme.
Einige „küchenpsychologisch fundierte“ Gedanken liefere ich dennoch.
Ist die „Basis“ eines Menschen durch sein Umfeld gut gelegt worden, ist das für sein weiteres Leben eine gute Ausgangsbasis. Die Welt ist jedoch komplizierter und wenig ist voraussehbar. Widrige Umstände können dazu führen, dass ihnen der Mut abhandenkommt oder dunkle Seiten zum Vorschein kommen, die in jedem Menschen angelegt sind. Selbstkontrolle, Mitgefühl und die Akzeptanz moralischer Grundsätze halten meist aggressive Impulse in Schranken. Doch es gibt Geschehnisse, wo diese Fähigkeiten versagen oder gar nicht erst entstehen können.
@Naturella, du schreibst ganz richtig, dass sich niemand sicher sein kann, ob er oder sie einschreiten werden, wenn sie mitbekommen, dass andere Menschen Gewalt ausgesetzt sind. Ich schrieb oben über die auffällige Kluft zwischen Einstellung und Verhalten. Die meisten Menschen finden Zivilcourage zwar positiv und wichtig, aber nur wenige handeln im Ernstfall danach.
Manche Menschen, aber sehr wenige nur, das hat u.a. das Milgram-Experiment gezeigt, sind im Ernstfall in der Lage, gegen Unrecht aufzubegehren. Man kann bereits Kindern beibringen, indem man es ihnen z.B. vorlebt, dass es wichtig ist, seine Stimme zu erheben, zu zeigen, dass man anderer Meinung ist, als die schweigende Mehrheit.
@karl, es gilt die Verhältnisse zwischen Demokraten und Feinden der Demokratie ins richtige Licht zu rücken. Erstere sind für mich weit in der Mehrzahl. Wenn ich jedoch die hässlichen Bilder von Naziparolen grölenden Menschen in den Medien betrachte, denke ich, dass etwas für die Zukunft getan werden muss, um zu verhindern, dass es so weiter geht. Das darf, meiner Meinung nach, nur gewaltlos passieren. Wer sich auf der Seite der Anständigen weiß, kommt manchmal in Versuchung zu glauben, dass er, weil moralisch überlegen, Dinge tun oder sagen darf, die in anderen Kontexten moralisch zu verurteilen sind.
Wir neigen dazu, die schlechten Eigenschaften der Menschen der Menschen zu übernehmen, die wir am heftigsten bekämpfen“, meinte der polnische Aphoristiker Janislaw Jerzy Lec.
Unfrisierte Gedanken
@marina, ich sehe das anders. Der Applaus ist einem eher sicher, wenn es gegen „rechts“ geht. Auch meinen bekommst du und andere dafür.
Allerdings muss bei aller Empörung berücksichtigt werden, dass nicht auch Leute diese abbekommen, die nicht in diese Ecke gehören. Aber, dazu ist bereits viel geschrieben worden, was ich hier nicht wiederholen will. Auch ist zu bedenken, dass laute Empörung eher zum Widerstand gegen diese Meinung führt, wie auch mehrfach erläutert wurde. Will man nur mehr oder weniger laut seine Meinung kundtun, oder will man Leute aufrütteln und etwas bewirken?
Gruß Mane
@marina,
Allerdings muss bei aller Empörung berücksichtigt werden, dass nicht auch Leute diese abbekommen, die nicht in diese Ecke gehören. Aber, dazu ist bereits viel geschrieben worden, was ich hier nicht wiederholen will.
Allerdings muss bei aller Empörung berücksichtigt werden, dass nicht auch Leute sich einen Schuh anziehen, der ihm nicht von mir für sie bereitgestellt wurde.
Es gibt nämlich auch die umgekehrte Diskriminierung: gegen Leute, die sich gegen rechts engagieren von Leuten, die gar nicht angesprochen waren, sich aber damit in den Vordergrund spielen, dass sie sich gegen ein Phantom wehren, das nicht existiert. Das kann dann bis hin zu Verleumdungen gegen den/die sich Engagierende/n gehen. Du verstehen?
Dazu bedarf es allerdings einiger "Insiderkenntnisse" aus den letzten Tagen, die ich selber nicht verstanden habe und die eigentlich gar nicht in diesen interessanten Thread hineingehören.
Und deshalb sage ich mir selber:
. . .
und wer's nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund.
(Friedrich Schiller)