Plaudereien Wie weit kann sich ein Mensch zurückerinnern?

Neulich nahm sich mein Sohn mal mehr Zeit für unseren turnusmäßigen Telefonkontakt, und wir kamen vom sprichwörtlich "Hundertsten ins Tausendste" .
Dabei erinnerte er sich auch an seine frühe Kindheit, und verblüffte mich mit der Behauptung, dass er sich an den Kerzenkranz zu seinem "Ersten Geburtstag" (!!!) gut erinnern könne, er habe große Angst vor dem flackernden Feuer gehabt (die Jahreskerze und das Lebenslicht).
Ich meinte: Kerzen haben wir zu jedem Geburtstag angezündet, es muss nicht der Erste gewesen sein!
Er blieb aber dabei und bewies seine Behauptung damit, dass er den Geburtstagskranz ZWEIMAL gesehen habe, weil an der Wand ein großer Spiegel hing.
Da wir noch vor seinem 2. Geburtstag in eine andere Wohnung zogen und besagter Spiegel darin einen ganz anderen Platz bekam, bin ich nun geneigt, ihm zu glauben .
Vielleicht überzeugt mich hier jemand mit einer ähnlich langen Erinnerungszeit?
G.

Ein interessantes Thema, liebe Gillian.

Bei mir blitzen wenige Fragmente von Erinnerungen auf, die wohl vor meinem 5. Lebensjahr lagen. Einer dieser Momente, gekoppelt an eine starke Emotion des "Verlassenseins" und anschließenden "Trostes" liegt nach Aussage meiner Eltern ungefähr in meinem 3. Lebensjahr.
Situation: Wochenmarkt in meiner Heimatstadt - ich in einem unbeobachteten Moment von der Hand meines Vaters losgerissen und ab ins Getümmel riesiger Menschen.
Große Angst - Weinen - dann das Gefühl, in den Armen meines Vaters getröstet zu werden, in meiner Erinnerung gekoppelt an ein wohliges Gefühl, völlig geschützt "von oben" auf "die Riesen" zu blicken.

LG - She

Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen, liebe Shenaya!
Als ich zweieinhalb Jahre alt war, war ich mit Eltern, Oma und großer Schwester an der Ostsee. Davon existieren noch viele Bilder im Fotoalbum.
Aber nicht davon, als meine Eltern eine Schiffsfahrt unternehmen wollten, und ich sollte nicht mitkommen, sondern bei der Oma im Strandkorb bleiben.
Ich hab gebrüllt wie am Spieß und sehe die beiden mit meiner älteren Schwester in der Ferne verschwinden.
Bis jetzt hab ich gedacht, dass "weiter zurück erinnern" nicht möglich ist!
Wahrscheinlich ist ein großer Schmerz prägend für das Erinnerungsgefühl!
LG
G.

Freu mich, Gillian, dass ich anscheinend doch nicht allein zu solchen "Gedächnisleistungen" fähig bin. Und in mir hat ein geistiges Bild sehr stark eingeprägt, das meine Mutter noch einwandfrei real erkannte und bestätigte, als ich schon selbst ein Kind hatte und deshalb auf ein Detail "aus Erfahrung" besonders achtete.

Also:
Meine Mutter legte mich in den Kinderwagen, es war ein kalter Tag, aber sonnig. Deshalb blieb das Dach unten. Ich sah auf dem Rücken liegend die Äste der Bäume über mir vorbeiziehen, das war ein sonderbares Gefühl- daran erinnere ich mich noch deutlich. Gleich darauf begannen meine Füsse kalt zu werden und ich fing an zu weinen. Meine Mutter redete auf mich ein (was,weiß ich nicht), aber meine kalten Füßchen gingen davon nicht weg, es wurde immer schlimmer. Plötzlich nahm mich meine Mutter dann aus dem Wagen, ging wohl in ein Haus, in dem es sehr gut roch (heute weiß ich, was das war, damals natürlich nicht). Dann wurden meine Füße an einen warmen braunen Kachelofen gehalten und gerieben, bis sie warm waren. Später wurde ich in eine Decke gewickelt und wieder in den Wagen gelegt, das Spiel mit den vorbeiziehenden Ästen begann wieder. Alles andere habe ich vergessen, es ist nur ein kurzer Ausschnitt.

Tatsächlich war es so, erzählte meine Mutter mir dann, dass sie Brot einkaufen wollte und mich natürlich im Kinderwagen mitnahm. Sie erinnerte sich noch genau, dass ich auf halbem Weg - etwa nach 1 km - brüllte bis zu dem Bäckerladen (der feine Geruch), dort bat sie die Bäckersfrau, dass sie mich kurz am Kachelofen aufwärmen wolle, weil sie sich mit der zu leichten Decke verschätzt habe. Sie rieb am Ofen meine Füße, bekam noch Wolldecke von der Bäckerin und dann ging es wieder nach Hause.

Laut meiner Mutter war ich etwa 10 1/2 Monate alt, müsste also im Herbst gewesen sein. Aber bis zum heutigen Tag blieben die Erinnerungen daran "wie neu".

Ab meinem 2. Lebensjahr habe ich aber noch viele Erinnerungen, nicht zusammenhängend, aber viele Details, die auch bestätigt wurden.

Jedenfalls ist mir die Babygeschichte mit den vorbeiziehenden Ästen und den kalten Füssen so sehr im Gedächtnis geblieben, dass ich bei meinen eigenen Kindern und Enkeln an kalten Tagen "pingelig" wurde mit warmen Decken

Luchs

(...) Wahrscheinlich ist ein großer Schmerz prägend für das Erinnerungsgefühl!

Ob das allgemeingültig ist, weiß ich nicht. Zumindest bei mir sind auch völlig banale Erinnerungen vorhanden. Ich kann mich nachweislich bis zu meinem etwa 2. Lebensjahr zurückerinnern - alles, was davor lag kann ich nicht genau sagen, ob es wirklich meine eigenen Erinnerungen sind.
Ich erinnere mich besonders an Umgebungen wie Wohnungen, Gärten, Geschäfte etc.
Ich erinnere mich auch an Menschen, ihre Frisuren, ihre Kleidung, Gespräche mit ihnen - woran ich mich nicht erinnere sind ihre Gesichter. Maximal ihre Münder und Accessoires wie Brillen.
Vor einigen Jahren las ich mal, dass in der Wissenschaft die Theorie geistert, dass sich der Mensch bewusst idR. nur bis zu seinem etwa 4. Lebensjahr erinnern kann (ob das heute noch gültig ist, weiß ich nicht). Daran glaube ich nicht. Ich kenne sehr viele Menschen die sich bis weit vor ihrem 4. Lebensjahr erinnern können. Trotzdem gucken viele (auch Mediziner) immer noch ungläubig, wenn man ihnen das erzählt und stellen Theorien auf, man habe die Erinnerungen von Fotos oder so.

Starke Emotionen verstärken aber sicher die Erinnerung bzw. steigern die Chance darauf, das Erlebnis nicht mehr zu vergessen. :)

Starke Emotionen sind Kitt für Gedächtnisinhalte. Solche Situationen brennen sich ein. Ich erinnere die Situation plötzlicher Vertrautheit durch ein Stofftier, einen Hasen. Als ich dies meinen Eltern einmal erzählte meinten sie, dies sei wohl der Moment gewesen als ich aus dem Kinderkrankenhaus im Alter von etwa 2 Jahren nach Hause gekommen sei.

Aus dieser Zeit des Kinderkrankenhauses stammen auch genau gegenteilige, mit Verlassenheitsgefühlen beladene Alpträume des Fremdseins, die mich als Kind sehr lange verfolgt haben. Damals (1950) war es Müttern ja nicht erlaubt, mit ihrem Kind auf Station zu gehen und wie meine Mutter erzählte, herrschte im Kinderkrankenhaus damals ein rüder und wenig liebevoller Ton. Außerdem war ich ja ein Zwilling, weshalb mir die Trennung wohl besonders viel ausgemacht hat.

Karl

Ganz wunderbar, deine Erinnerung, liebe Luchsi!
Nun werde ich wohl gleich meinen Sohn anrufen und mich für meine Zweifel entschuldigen!
Danke!
G.

Hallo Gillian,

ja, wirklich ein interessantes Thema. Dazu hatte ich im Bekanntenkreis auch schon öfters Diskussionen, wo Menschen steif und fest behauptet haben, sie könnten sich an die Zeit um das 1. Lebensjahr erinnern.

Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich glaube eher, dass sich manche ihre "Erinnerungen" auch durch Fotos und Geschichten "holen". Gab es viell. ein Foto vom 1. Geburtstag, wo man den Spiegel sah? Dein Sohn hat es vielleicht oft betrachtet?.
War jetzt nur eine Vermutung, ich möchte ihm seine Erinnerung nicht absprechen.

@Shenaya...solche Erlebnisse prägen sich natürlich ganz besonders ein und da kann ich mir gut vorstellen, dass man das bis ins hohe Lebensalter noch weiß.

Ich habe auch so ein paar Erinnerungen, aber ich weiß nicht, ob sie wirklich waren oder ob ich mir das im Kindesalter so eingebildet habe.

Klaro

Schönes Thema, liebe Gillian

Während des Krieges waren meine Mutter und ich auf einem Bauernhof evakuiert. Dort feierte ich meinen 2. Geburtstag und kann mich noch an den Duft des Streuselkuchens erinnern.

An diese Zeit habe ich viele Erinnerungen:
Eines Tages fuhr ein Jeep durchs Dorf, hielt bei mir an und ich sah den ersten dunkelhäutigen Menschen meines Lebens. Er schenkte mir Bonbons und einen etwas komischen Ball ..... dann erfuhr ich, dass es eine Orange war

Wenn Schlachttag war, sah ich die aufgeschlitzten Schweine an einem Gestell hängen, das fand ich sehr interessant.

Weniger schön war meine Erfahrung mit den Gänsen, welche hinter dem Haus frei herum liefen. Eins dieser Biester hat mich ins Bein gebissen

.

ich glaube das gillian...

ich habe auch erinnerungen an die zeit als ich zweieinhalb jahre war...

ich bin aufgewacht und niemand war zu hause, meine eltern waren weggegangen und ich stand im schlafzimmer meiner eltern am fenster und habe geweint und gebrüllt und gerufen: "lieber gott bring mir meine mama und meinen papa wieder"

dann erinnere ich mich noch, wie die nachbarin von oben an die tür klopfte und mich zu beruhigen versuchte, und sagte dass meine eltern sicherlich gleich wieder kommen...

das passierte leider sehr oft und ich stand immer im schlafzimmer der eltern und schrie... auch die ausrede, dass der papa auf dem sofa im wohnzimmer lag und geschlafen hätte, habe ich noch im ohr

ich habe sehr viele erinnerungen aus dieser zeit...