Plaudereien Man bereut im Leben nur das, was man nicht getan hat
Liebe Rispe,
dieses Thema kann auch aus philosophischer Sicht beleuchtet werden, das weiß ich. Fast keiner der "Grossen" hat nichts zum Thema Reue und Bedauern oder was auch immer - gesagt.😏
Dennoch moechte ich (fuer mich) es so belassen, wie es jetzt ist und die Philosophen diesmal draußen lassen und den Fokus auf die persoenlichen Geschichten und Erfahrungen unserer Gemeinschaft legen.
Nette Gruesse
Chris33
Keine Sorge, ich hatte nicht vor, einen großen philosophischen Diskurs zu beginnen.
Sollte nur ein kleiner Einschub von dem sein, was mir gerade so durch den Kopf ging sein, mehr nicht.
Trag’s mit Fassung, löschen kann ich’s nun nicht mehr. 😉
Und bei alledem, was ich hier so lese und selber erlebt habe, kommt in mir wieder die Frage hoch, wie weit wir überhaupt einen freien Willen haben. Es gibt Philosophen und Hirnforscher, die bestreiten den und behaupten, dass es Experimente gab, die bewiesen haben, dass wir Dinge tun, ohne sie selber zu entscheiden, weil sie in uns angelegt sind.
...
Aber es heißt für mich, dass „wer immer strebend sich bemüht“ (Goethe) gnädiger mit sich selbst umgehen kann und sich nicht selber in Grund und Boden stampfen muss, wenn er meint, etwas bereuen zu müssen.
Hier etwas zum Lesen: Hat der Mensch einen freien Willen?
Philosophie verträgt sich nicht mit Hirnforschung 😉- auch wenn ich in der Schlussfolgerung wieder völlig bei Dir bin.
Spass beiseite ..
Es war doch unbestritten, dass wir bewusste und unbewusste Entscheidungen treffen. Das widerspricht m.E. dennoch nicht der Fähigkeit zum freien Willen. Man muss ihn allerdings haben wollen - den freien Willen. Und das wiederum bedeutet: man muss bereit sein nachdenken zu wollen - notfalls mehrfach. Sowie auch bereit sein Geisteshaltungen zu modifizieren.
Ich halte allerdings gerade das Experiment mit Bewegungen durchzuführen für fragwürdig. In diesem Bereich findet zwangsläufig ein Zusammenspiel unterschiedlicher Hirnbereiche statt die willkürliche und unwillkürliche Abläufe steuern.
Dass wir nur Entscheidungen treffen können die nicht die biologischen Abläufe betreffen - davon bin ich ausgegangen.
Einen freien Willen verknüpfe ich dann doch mit etwas anderem.
Was Wille vermag, das hat mir mein Mann vor ein paar Jahren eindrucksvoll vor Augen geführt. Die Details würden hier den Rahmen sprengen. Nur soviel: Mein Mann kam im Koma während der ersten Lock-down-Phase ins Krankenhaus, lag dort mehrere Tage sediert, wachte entsprechend verwirrt wieder auf, und war wieder gelähmt. Alle Fortschritte der letzten Monate waren wie weg gewischt. Ich selbst konnte 2 Wochen lang nicht zu ihm. Telefonieren mit einem Aphasiker funktioniert nur bedingt. Ich weiss bis heute nicht was bei ihm während der täglichen Anrufe bei ihm ankam.
Nachdem er die Zuversicht haben konnte, dass er nicht "abgeschrieben" ist, d.h. nachdem ich endlich zu ihm durfte, stand er 2 Tage später wieder auf seinen eigenen Beinen und konnte, gestützt, wieder gehen. Damit hatte niemand gerechnet.
Lieber DW,
vielleicht ist das "Gute" daran, dass es Dir/Euch zeigt, wie dankbar man dem Leben sein darf, wenn einem im doch schon "älteren mittleren Alter" noch das Geschenk einer großen Lebensliebe gemacht worden ist.
Eure ist nicht nur nicht zerbrochen, ja, vielleicht ist Eure Liebe sogar größer geworden?!
Dieser Infarkt hatte mehrere (!) gute Folgen, nicht nur üble.
Liebe Grüße
Der Waldler
dankbar dafür, dass wir uns begegnet sind, das war ich schon vorher - und ich war glücklich und habe das auch so wahrgenommen. Gerade weil ich über Jahre hinweg glücklich war, fühle ich diesen (Teil)Verlust so schmerzhaft. Wir hatten auch davor schon einiges zusammen gemeistert, auch Unschönes. Und ich wusste, dass wir uns aufeinander verlassen können. Davon bin ich dann auch ausgegangen, als dann die Schwere des Schlaganfalls deutlich wurde. Ich war felsenfest überzeugt: WIR schaffen das irgendwie (als Team das wir immer waren)- zumindest so, dass wir irgendwann wieder Lebensqualität haben.
Tja, das WIR war dann lange Zeit ziemlich einseitig. Ich schob, er machte. So kannte ich das bisher nicht. Da schoben und machten wir beide.
Was ich aber gelernt habe ist tatsächlich, dass wir eine Verbindung haben die sehr viel aushält. Dass wir Schmerz, Angst, Wut, Zorn, Hilflosigkeit auch einseitig aushalten und tragen können. (Ich vermute, dass auch mein Mann in meine Richtung ähnliche Gefühle gehabt haben muss. Er war auf einmal nicht mehr mein Fels in der Brandung. Die Rollen hatten sich vertauscht. Daran erinnert er sich allerdings nicht mehr.)
Nicht unendlich - aber lange. Die ersten Monate die mein Mann zu Hause war, war das emotional absolut kein Spaziergang. Mein Mann hatte sich anfangs in seiner Persönlichkeit sehr zum Negativen hin verändert. Erst nach seinem epileptischen Anfall, der auch zum Tode oder zur absoluten Hilflosigkeit hätte führen können, hat sich das langsam geändert. Ich kann also nachvollziehen weshalb manche Ehen an solchen Schicksalsschlägen scheitern können. Unendlich hätte ich das sicherlich ebenfalls nicht in dieser Form tragen können. Aber ich bin sehr froh darüber nicht so schnell das Handtuch geworfen zu haben und statt dessen nachts in den Wald gegangen zu sein um mir die Angst und die Hilflosigkeit und auch die Verletztheit von der Seele zu schreien.
Da meine Mutter fast zeitgleich mit meinem Mann zum Pflegefall wurde, ebenfalls mit kognitiven Einschränkungen (Delir) und ich als einzige Tochter und nahe Verwandte auch an der Stelle gefragt war, hat die Sache auch nicht leichter gemacht. Aber dafür konnte ja mein Mann nichts.
Was ich allerdings auch begriffen habe ist: gleichgültig wie sehr er sich verändert, die Liebe zu dem was ihn im Kern ausmacht, die verschwindet nicht so schnell. Das ist eine Erkenntnis, die mich auch heute noch staunen lässt.
Wunderbar finde ich es zu erleben, dass ich meinen Mann nicht seiner vielen Talente und Fähigkeiten wegen geliebt habe, sondern sein Wesen. Und dass ich genau dieses Wesen so sehr in den Anfangsmonaten vermisst habe. Dass ich das nicht mehr entdecken konnte, daran wäre ich fast zerbrochen. Über diese Erkenntnis denke ich immer wieder nach. Da ist noch viel was ich intellektuell noch nicht fassen kann.
Gelernt habe ich in den letzten 5 Jahren viel. Auch und vor allem über mich. Ob das gut ist? Ob's das gebraucht hätte? Och nö! Oder? 😉
Im Moment, bzw. seit Anfang 2023, gehen wir ja das große Projekt "Umzug" an. Das wird eine Aktion die aus unterschiedlichen Gründen nicht so ablaufen kann wie ich das früher abgewickelt hätte. Plan und Struktur sind meilenweit nicht in Sicht - und das entspricht mir gar nicht, ist aber nicht anders machbar. Tja, da werde ich wohl auf meine alten Tagen noch einmal etwas über mich lernen müssen.
Aber wir freuen uns beide auf diesen Umzug - und jetzt komme ich - über viele Umwege - zum ersten Guten was sich aus dem Schlaganfall entwickelt haben könnte. (ob, wird sich zeigen wenn wir dort leben)
Denn, der Umzug ist m.E. die einzig richtige Entscheidung die wir ohne die Erkrankung meines Mannes wohl noch 10 Jahre lang (mindestens) nicht getroffen hätte. Wir kamen ja noch gut klar mit dem Haus und Grundstück und mein Mann liebte seinen Garten. Und wenn das dann nicht mehr der Fall gewesen wäre, dann hätten wir aber nicht mehr die Kraft gehabt diesen Umzug inkl Immobiliensuche zu wuppen.
Wir freuen uns auf den Umzug. Jeder von uns hat dafür andere Gründe und wir haben einen großen gemeinsamen Nenner. Nämlich, wenn das alles über die Bühne ist, haben wir endlich mehr Zeit für uns und das Schöne. Mein Mann lässt erstmalig sogar den Gedanken an einen Rollator zu. Der angedachten Museumsbesuche wegen 😃 (und meiner Weigerung einen solchen als lebenden Krückstock hinter mich zu bringen)
Wenn es nicht zu privat ist.. magst Du uns nicht erzählen was sich für Dich Gutes aus diesem einschneidenden Erlebnis entwickelt hat?
Liebe Zaunkönigin,
danke für Deine Offenheit, die mir zeigt, wie viel eine Liebe doch ertragen kann... Aber auch, dass das alles extrem schwer gewesen ist, vor allem für Dich. Seltsamerweise merkt der Betroffene eines Schlaganfalls manchmal gar nicht, wie viel Kraft sein/e Partner/in oder sonstige Angehörige brauchen, und "da zu bleiben". Ich habe das bei meiner Mutter gesehen, die mit 69 einen schweren Schlaganfall bekam, und die wir ja dann zu uns in unsere Familie holten.
Bei mir hat sich z.B,. meine Einstellung zur Arbeit massiv verändert. Ich war sehr ehrgeizig, ein "mittelmäßiger" Schul- oder Studienabschluss hätte mich verzweifeln lassen. Ich war Workaholic, hatte immer hunderte Überstunden im Schlepptau, war zu jedem Zusatzdienst bereit, usw.
4 Monate nach meinem ersten Infarkt bekam ich den zweiten, und war nochmal 7 Monate arbeitsunfähig, insgesamt 11 Monate. Dann begann ich wieder halbtags zu arbeiten, hatte nach einem halben Jahr aber wieder fast 200 Überstunden, also NICHTS dazu gelernt. Und dann kollabierte ich eines nachts, meine Frau rief die Rettung, ich kam ins Krankenhaus und der Aufnahmearzt sagte, ich stünde vor meinem dritten Infarkt. Da erst begriff ich, dass ich ständig mein Leben aufs Spiel setzte, um irgendwelchen selbst gesetzten Leistungs-Maßstäben zu genügen und noch am gleichen Tag kündigte ich nach intensiver Rücksprache mit meiner Frau meinen Job, weil ich wusste, dass er mich umbringt, obwohl ich unendlich gern dort gearbeitet habe.
Meine Frau konnte es kaum glauben, wie locker ich nach Aufgabe meines Jobs war, sie hatte immer Angst, dass ich da in eine üble Sinnkrise hinein geraten könnte. Aber das passierte nicht.
Eine weitere Veränderung bezog sich auf meine Einstellung gegenüber einer Freundin, die ich eher als "entfernte" Bekannte sah. Durch ihre wirklich tägliche Unterstützung bei meiner Rehabilitation wurde sie zur Familienfreundin und blieb es bis zu ihrem viel zu frühen Tod 2015.
Aber auch meine religiöse Einstellung änderte sich durch die beiden Infarkte und die erfahrene Todesnähe gravierend, aber ich habe mir vor einigen Monaten mal vorgenommen, im Forum über Religion nichts mehr zu schreiben, und daran werde ich mich weiter halten.
Lieben Gruß
DW
Lieber Waldler,
eine der Lektionen der letzten Jahre die ich gelernt habe ist: Häufig kann man nur mit Offenheit die guten und wichtigen Dinge im Leben gewinnen. 😉
Im Moment gewinne ich einen interessanten Gedankenaustausch.
Schwerer betroffene Schlaganfallpatienten sind meist dazu gar nicht in der Lage ihre Situation richtig einzuordnen. Möglicherweise ist das sogar gut so. Man erhält diese Information nur leider nicht von den behandelnden Ärzten der Anfangszeit sondern findet sich dann zu Hause in den seltsamsten Situationen wieder und ist erst einmal hilflos. Aber auch später hat keiner der Neurologen je ein Wort darüber verloren, dass es neben den bekannten und offensichtlichen Einschränkungen auch
- Veränderungen in der Persönlichkeit
- im Sozialverhalten
- im Bereich der Hygiene
- im Antrieb
....
geben kann. Mein Mann konnte z.B. Tränen nicht einordnen. Er wusste überhaupt nicht wie er damit umgehen soll und hat dann hilflos den Raum verlassen. Diese Erfahrung habe ich gemacht als meine Mutter verstorben war. Er war völlig überfordert damit. Da schluckt man dann doch erst einmal ordentlich wenn man das vorher anders gewohnt war. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht schon gewusst, dass es die oben beschriebenen Veränderungen geben kann, ich wäre betroffen gewesen. Aber auch hier haben wir Glück - das hat sich zum Positiven verändert. Es braucht halt viel Geduld und man darf sich nicht zu wichtig nehmen, was mir definitiv nicht leicht gefallen ist. Man möchte doch so gerne wahrgenommen werden. Es würde nicht schaden wenn man dann noch Menschen im Umfeld hat, die die nicht mehr vorhandene soziale Kompetenz des Partners abfedern könnten. Das hat mir in der Anfangszeit gefehlt.
Deinen Bericht wie Du vom ersten Infarkt über den zweiten erst beim Dritten in der Lage warst zu begreifen und einen anderen Weg einzuschlagen fand ich auch gerade sehr hilfreich für mich. Einiges kann ich bestätigen. Ich war zwar nie ehrgeizig, aber ich habe den Hang zum Perfektionismus und immer den Gedanken "es muss doch eine Lösung geben". Das kostet Zeit, Einsatz und das führt zu Überstunden - zu vielen Überstunden. Mein Beruf war über Jahrzehnte hinweg ein Teil von mir. Die Krankheit meines Mannes hat mir geholfen mich zu lösen. D.h. ich werde Ende des Jahres in den vorgezogenen Ruhestand gehen ohne Bedauern, ohne etwas zu vermissen, sondern mit viel, sehr viel Erleichterung. Und das obwohl ich das Thema nach wie vor spannend finde.
Bei mir fand dieser Erkenntnisprozess allerdings schleichend statt. Bei Dir war es hingegen ein "Erkenntnisschlag". Mich beeindruckt Deine Konsequenz! Ich bin nicht sicher, ob ich das so hinbekommen hätte. Ich kann mir bei dem was ich bisher von Dir wahrgenommen habe nicht vorstellen, dass Du alleine aufgrund der Angst vor dem Tod diese Entscheidung getroffen hast. Sind Dir all Deine Motive bewusst und würdest Du diese mit uns teilen?
Darf ich fragen was Du danach getan hast?
Was das Thema Religion angeht... Deine Zurückhaltung verstehe ich. Zudem reicht es an dieser Stelle völlig aus, das so grob zu umreißen.
Ich danke Dir!
Zaunkönigin
Liebe Zaunkönigin,
manches von dem, was Du schreibst, kenne ich entweder aus ähnlichen Situationen, in denen ich war, oder von meiner Mutter bzw. einem Freund, die beide auch Schlaganfälle hatten.
ich glaube, am schwierigsten ist da, mit den Veränderungen des Menschen klarzukommen. Meine sehr emotionale Mutter z.B. war in den ersten Monaten nach dem Schlaganfall extrem unterkühlt, wie ich sie überhaupt nicht kannte.. Das kippte aber dann ins Gegenteil, dahingehend, dass sie unsagbar schnell in Tränen ausbrach und sich lange nicht beruhigen konnte, selbst wenn es "nur" üble Nachrichten im TV waren. Nach ca. 2 Jahren hatte sich das aber "eingependelt".
Ich bewundere Dich da sehr, wie Du das gehändelt hast und nach wie vor händelst...
Meine Hauptmotivation, überleben zu wollen (und das ging nur durch radikalen Strich unter diesen Job!) war meine Frau. ich wollte einfach nicht, dass sie alleine zurück bleiben musste. Todesangst war es auch, ich war so hauchdünn "vor dem Ende", dass es schon extrem beängstigend war. Aber diese Angst betraf auch meine Frau: SIE sollte keine Angst um mich haben, wie ich sie ja selbst um mich hatte.
Hinzu kam auch, dass ja unser Plan war, nach Bayern zu ziehen, wenn wir mal in Rente sein würden. Ich wollte unbedingt den Lebensabend mit meiner Frau dort verbringen, und das haben wir ja dann auch geschafft.
So, ich muss ins Bett. Schönen Abend und gute Nacht
DW
Mich bewegt, wie eindringlich und offen hier über Schicksalsschläge und den sich daraus ergebenden Folgerungen berichtet wird. Danke schön an die Beteiligten.
Wowwwww, hast du poetisch gut ge- und beschrieben.
Was das Versäumte angeht, gibt es ein „geflügeltes“ Wort: Wer weiß wozu es gut war, dass es nicht geklappt hat“ 😉. Weiß man denn, wenn man dieses oder jenes umgesetzt hätte, ob es wirklich so geworden wäre wie vorgestellt?
Was bringt es darüber nachzudenken, was wäre gewesen wenn…… Vielleicht kann man am ehesten seinen Frieden finden, indem man sagt: Es war gut so, wie es gewesen ist. Dann kann doch die verbleibende Zeit nach den noch vorhandenen Möglichkeiten so gut wie möglich genutzt werden, um es sich gut gehen zu lassen.
Mein Respekt und Dank für die Offenheit, mit der hier geschrieben wurde.
Roxanna