Nostalgie Meine klingende Straße
Die klingende Strasse
Fest verknotet war die dünne Schnur, die den Schuhkarton aus Mutters Vitrine zusammenhielt. Unter vielen alten Fotos fand ich eins von der Straße mit den vielen Kindheitserinnerungen. - Meine klingende Straße...
Mutter lachte immer, wenn ich in jedem Geräusch eine Melodie zu hören glaubte. Kleine Träumerin hatte sie mich genannt.
Je länger ich nun das Bild betrachte, umso mehr beginnt es zu leben, und plötzlich klingt Pferdegetrappel an mein Ohr. Schon an der Gangart konnte ich erkennen, welches Fuhrwerk gerade die Straße herunter kam. Das kleine zierliche Pferd des Lumpenmanns hatte einen tänzelnden Gang. Der Klang seiner Hufe auf dem Straßenpflaster war wie das leise Aufeinanderschlagen von Kastagnetten. Um so lauter die Stimme des Kutschers, wenn er rief: »Luuuumpen, Luuuumpen!« Viele bunte Windräder drehten sich an seinem Karren. Wenn er auf der Flöte seine Melodie spielte, liefen wir Kinder hinterher und sangen: »Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgehauene Zähne sammeln wir!«
Dann, das Fuhrwerk der König-Brauerei. Das von zwei besonders dicken Pferden mit langen Mähnen und Zotteln an den Beinen gezogen wurde. Sie wirkten behäbig, gemütlich, und so war auch ihr Gang - tacke ,tacke, tacke..., schloften sie dahin. Diese kräftigen Pferde habe ich mir besonders oft und eingehend betrachtet. Ich wollte unbedingt herausfinden, weshalb mein Vater von der Nachbarin, Frau Pielke, immer gesagt hatte, sie habe einen Hintern wie ein Brauereipferd.
Regelmäßig kam der Eismann, der die Leute mit Roheis belieferte. Sein Pferd zog das rechte Hinterbein nach. Kein Wunder, wenn es Rheuma gehabt hätte, wo es doch ständig die feuchte Kälte im Rücken hatte. Den Eismann nannten alle »Goebbels«, weil er auch einen Klumpfuß hatte , wie Goebbels der Propagandaminister. »Goebbels« hinterließ überall eine feuchte Spur - weil sein Eis tropfte. Sein lautes »Brrrrr« war wie das Knurren eines bissigen Hundes. Wenn er den Eishaken in die durchsichtigen Stangen schlug, um sie auf die Schulter ziehen zu können, splitterten kleine Stücke ab, auf die wir Kinder uns stürzten, um sie zu lutschen. Mit Vorliebe steckten die Jungs sie uns Mädchen in die Blusen, dann gab's Gekreische. Meistens ging »Goebbels« in die Kneipe an der Ecke. Vorher band er dem Pferd einen Sack voll Hafer vor das Maul. Aber nach Stunden stand das Pferd, das Maul immer noch im Sack, traurig im Eiswasser. Die Stangen auf dem Wagen waren so dünn geworden, wie die Glasbaumeln am Kronleuchter meiner Großmutter. Kam »Goebbels« aus der Kneipe, grölte und schimpfte er. Vater sagte dann: das gleiche Großmaul wie der da oben. Dabei zeigte er mit dem Daumen immer in eine bestimmte Richtung. Natürlich meinte er den Propagandaminister, von dem behauptete wurde, dass sein Klumpfuß gar kein Klumpfuß sei, sondern das Versteck für die Batterie seiner großen Schnauze.
Am liebsten mochte ich den Milchmann, der jeden Morgen um die gleiche Zeit in unsere Straße kam. Der hatte zwar auch einen Klumpfuß, aber der war echt Der Milchmann war ein freundlicher Mann. Schon von weitem rief die Glocke, die an der Seite seines Fuhrwerks befestigt war, die Leute mit ihren Milchtöpfen aus den Häusern. Es war jedes Mal ein Vergnügen zuzusehen, wie er das Litermaß in die große Kanne tauchte, ganz lässig über den Rand der Kanne einen Topf nach dem anderen füllte, ohne das Maß heraus zu heben. Danach klinkte er es am Ines am Innenrand wieder ein. Wie ein Cowboys aus dem wilden Westen seinen Colt aus dem Gürteln zieht, lässig aus der Hüfte schießt und ihn wieder im Gürtel verschwinden lässt. Ich liebte den Geruch der frischen Milch, aber noch mehr die schlanken rehbraunen Pferde die vor dem Wagen gespannt waren. Wenn sie angetrabt kamen, klang das wirklich wie eine schöne Melodie...
In unserer Straße roch es immer nach Pferdeäpfel - nach braunen warmen Pferdeäpfeln die im Winter richtig dampften, und auf die sich die Spatzen setzten wie an einen reich gedeckten Tisch. Frau Pielke war im Frühjahr ganz scharf auf den Pferdemist, Sie brauchte ihn als Dünger für ihre Erdbeerbeete. »Aber warm missese soi, damit's Pflänzle ebbes wird«, ermahnte sie mich, wenn ich ihr einen Eimer voll brachte. Für die zwei Pfennige, die sie mir gab, kaufte ich an der Bude bei der dicken Berta Salmiakpastillen; davon klebte ich mir einem Stern auf den Handrücken und leckte so lange bis der Stern erloschen war.
An manchen Tagen marschierten in breiter Kolonne die Hitlerjungen mit ihren Fanfaren durch die Straße. Eine Hand in die Hüfte gestützt und mit der anderen das Instrument in den Himmel gerichtet, bliesen sie aus vollen Lungen. Da war sogar Herr Pielke, der als einziger in der Straßen ein Automobil besaß, respektvoll am Straßenrand stehengeblieben. Seine Brust blähte sich vor Stolz beim Anblick der »Neuen Generation«. Manchmal marschierte auch er mit seinen Parteigenossen. Dumpf klangen auf dem Pflaster die Stiefel im Takt mit seinem »Links zwo drei vier!« Dann kam sein Kommando: »Ein Lied«! Und die Männer in den braunen Uniformen sangen aus vollen Kehlen: »Die Fahne hoch die Reihen fest geschlossen!« »Jetzt schnappt Pielke über«, hatte Vater eines Tages gesagt, »jetzt will er wohl Adolf Hitler persönlich sein«. Und tatsächlich hatte sein Gesicht Hitler-ähnliche Merkmale bekommen. Sein glattes dunkles Haar war in die Stirn gekämmt, und unter seiner Nase war ganz deutlich der Ansatz einer Rotzbremse zu sehen.
Meine klingende Straße mündet in einen langen Tunnel. Vom fünften Stock des großen roten Backsteinhauses aus, in dem ich gewohnt hatte, erschien der Tunnel wie ein großes Loch, in das alles hineinplumpste, was sich darauf zu bewegte. Stand ich aber davor, war das Licht des Tages erst wieder hinter einer kleinen runden Öffnung zu sehen, so, als schaute ich durch die falsche Seite von Opas Fernglas. Damals glaubte ich, die Bahnlinien der ganzen Welt führten über den Tunnel hinweg. Wenn ich abends aus dem Fenster schaute, war das Bahngelände ein großes Lichtermeer. Ich konnte das Quietschen der rangierenden Züge hören, das laute Tuuuuut, wenn sie ihren heißen Dampf in den Himmel pusteten, das immer schneller werdende Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, wenn sie sich in Bewegung setzten und das Geräusch der vorbeirasenden Züge - das sich näherte, anschwoll und wieder verhallte. Und mit jedem Zug träumte ich mich in die Ferne.
Eines Tages geschah etwas, dass ich nicht verstand. Ein dunkler Wagen hielt in unserer Straße. Die Tür öffnete sich - schwarze blanke Stiefel wurden sichtbar. Zwei Männer stiegen aus. Als sie sich aufrichteten, verschwanden die Stiefelschäfte unter ihren langen schwarzen Mänteln. Ihre Hüte, tief in die Stirn gezogen, verdeckten einen Teil ihrer Gesichter. Sie betraten das Nachbarhaus. Als sie es wieder verließen, war das Ehepaar aus der ersten Etage in ihrer Begleitung - nette alte Leute - für die ich öfter einkaufte. Zur Belohnung bekam ich dann selbstgebackene Zimtplätzchen. Nun aber schauten diese Leute mich überhaupt nicht an, gingen mit gesenktem Blick an mir vorbei zum Wagen.
»Raus ihr Juden! Ihr habt hier nichts zu suchen!«, rief einer aus der Menge, die sich inzwischen versammelt und ein Spalier gebildet hatte. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben spürte ich Feindseligkeit und Hass.
Den ganzen nächsten Tag klirrten Fensterscheiben. Geschäfte wurden geplündert. Sogar Nachbarn machten mit - schrien »Judenpack!« SA-Männer verprügelten Passanten, warfen Steine - Männer wie Herr Pielke, die mir vertraut waren. »Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen«, erklärte uns der Lehrer in der Schule. Dann mussten sich die Geschwister Sarah und David in die letzte Reihe setzen. Ganz allein saßen sie da, direkt unter dem Bild unseres »Führers« Adolf Hitler...
Von dem Tag an begannen die Männer in den braunen Uniformen öfter zu marschieren, traten fester entschlossener auf. Manchmal, wenn ich gerade eine Schaufel geholt hatte, um für Frau Pielke Pferdemist aufzusammeln, lag er zertreten da. Sie waren einfach drüber wegmarschiert - ohne hinzusehen - immer geradeaus - mit der ganzen Sauerei unter ihren Sohlen. Mir war es noch einerlei wohin sie marschierten. Was wusste ich schon von Aufrüstung, Mobilmachung und Krieg? Meine kindliche Unbekümmertheit ließ mich weiter träumen - abends, wenn die Geräusche zu mir aus dem Lichtermeer herüberkamen. Doch eines Tages erloschen die Lichter. Die ersten Bomben fielen. Die Angst ließ mir keine Zeit mehr zum Träumen...
Fest verknotet war die dünne Schnur, die den Schuhkarton aus Mutters Vitrine zusammenhielt. Unter vielen alten Fotos fand ich eins von der Straße mit den vielen Kindheitserinnerungen. - Meine klingende Straße...
Mutter lachte immer, wenn ich in jedem Geräusch eine Melodie zu hören glaubte. Kleine Träumerin hatte sie mich genannt.
Je länger ich nun das Bild betrachte, umso mehr beginnt es zu leben, und plötzlich klingt Pferdegetrappel an mein Ohr. Schon an der Gangart konnte ich erkennen, welches Fuhrwerk gerade die Straße herunter kam. Das kleine zierliche Pferd des Lumpenmanns hatte einen tänzelnden Gang. Der Klang seiner Hufe auf dem Straßenpflaster war wie das leise Aufeinanderschlagen von Kastagnetten. Um so lauter die Stimme des Kutschers, wenn er rief: »Luuuumpen, Luuuumpen!« Viele bunte Windräder drehten sich an seinem Karren. Wenn er auf der Flöte seine Melodie spielte, liefen wir Kinder hinterher und sangen: »Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgehauene Zähne sammeln wir!«
Dann, das Fuhrwerk der König-Brauerei. Das von zwei besonders dicken Pferden mit langen Mähnen und Zotteln an den Beinen gezogen wurde. Sie wirkten behäbig, gemütlich, und so war auch ihr Gang - tacke ,tacke, tacke..., schloften sie dahin. Diese kräftigen Pferde habe ich mir besonders oft und eingehend betrachtet. Ich wollte unbedingt herausfinden, weshalb mein Vater von der Nachbarin, Frau Pielke, immer gesagt hatte, sie habe einen Hintern wie ein Brauereipferd.
Regelmäßig kam der Eismann, der die Leute mit Roheis belieferte. Sein Pferd zog das rechte Hinterbein nach. Kein Wunder, wenn es Rheuma gehabt hätte, wo es doch ständig die feuchte Kälte im Rücken hatte. Den Eismann nannten alle »Goebbels«, weil er auch einen Klumpfuß hatte , wie Goebbels der Propagandaminister. »Goebbels« hinterließ überall eine feuchte Spur - weil sein Eis tropfte. Sein lautes »Brrrrr« war wie das Knurren eines bissigen Hundes. Wenn er den Eishaken in die durchsichtigen Stangen schlug, um sie auf die Schulter ziehen zu können, splitterten kleine Stücke ab, auf die wir Kinder uns stürzten, um sie zu lutschen. Mit Vorliebe steckten die Jungs sie uns Mädchen in die Blusen, dann gab's Gekreische. Meistens ging »Goebbels« in die Kneipe an der Ecke. Vorher band er dem Pferd einen Sack voll Hafer vor das Maul. Aber nach Stunden stand das Pferd, das Maul immer noch im Sack, traurig im Eiswasser. Die Stangen auf dem Wagen waren so dünn geworden, wie die Glasbaumeln am Kronleuchter meiner Großmutter. Kam »Goebbels« aus der Kneipe, grölte und schimpfte er. Vater sagte dann: das gleiche Großmaul wie der da oben. Dabei zeigte er mit dem Daumen immer in eine bestimmte Richtung. Natürlich meinte er den Propagandaminister, von dem behauptete wurde, dass sein Klumpfuß gar kein Klumpfuß sei, sondern das Versteck für die Batterie seiner großen Schnauze.
Am liebsten mochte ich den Milchmann, der jeden Morgen um die gleiche Zeit in unsere Straße kam. Der hatte zwar auch einen Klumpfuß, aber der war echt Der Milchmann war ein freundlicher Mann. Schon von weitem rief die Glocke, die an der Seite seines Fuhrwerks befestigt war, die Leute mit ihren Milchtöpfen aus den Häusern. Es war jedes Mal ein Vergnügen zuzusehen, wie er das Litermaß in die große Kanne tauchte, ganz lässig über den Rand der Kanne einen Topf nach dem anderen füllte, ohne das Maß heraus zu heben. Danach klinkte er es am Ines am Innenrand wieder ein. Wie ein Cowboys aus dem wilden Westen seinen Colt aus dem Gürteln zieht, lässig aus der Hüfte schießt und ihn wieder im Gürtel verschwinden lässt. Ich liebte den Geruch der frischen Milch, aber noch mehr die schlanken rehbraunen Pferde die vor dem Wagen gespannt waren. Wenn sie angetrabt kamen, klang das wirklich wie eine schöne Melodie...
In unserer Straße roch es immer nach Pferdeäpfel - nach braunen warmen Pferdeäpfeln die im Winter richtig dampften, und auf die sich die Spatzen setzten wie an einen reich gedeckten Tisch. Frau Pielke war im Frühjahr ganz scharf auf den Pferdemist, Sie brauchte ihn als Dünger für ihre Erdbeerbeete. »Aber warm missese soi, damit's Pflänzle ebbes wird«, ermahnte sie mich, wenn ich ihr einen Eimer voll brachte. Für die zwei Pfennige, die sie mir gab, kaufte ich an der Bude bei der dicken Berta Salmiakpastillen; davon klebte ich mir einem Stern auf den Handrücken und leckte so lange bis der Stern erloschen war.
An manchen Tagen marschierten in breiter Kolonne die Hitlerjungen mit ihren Fanfaren durch die Straße. Eine Hand in die Hüfte gestützt und mit der anderen das Instrument in den Himmel gerichtet, bliesen sie aus vollen Lungen. Da war sogar Herr Pielke, der als einziger in der Straßen ein Automobil besaß, respektvoll am Straßenrand stehengeblieben. Seine Brust blähte sich vor Stolz beim Anblick der »Neuen Generation«. Manchmal marschierte auch er mit seinen Parteigenossen. Dumpf klangen auf dem Pflaster die Stiefel im Takt mit seinem »Links zwo drei vier!« Dann kam sein Kommando: »Ein Lied«! Und die Männer in den braunen Uniformen sangen aus vollen Kehlen: »Die Fahne hoch die Reihen fest geschlossen!« »Jetzt schnappt Pielke über«, hatte Vater eines Tages gesagt, »jetzt will er wohl Adolf Hitler persönlich sein«. Und tatsächlich hatte sein Gesicht Hitler-ähnliche Merkmale bekommen. Sein glattes dunkles Haar war in die Stirn gekämmt, und unter seiner Nase war ganz deutlich der Ansatz einer Rotzbremse zu sehen.
Meine klingende Straße mündet in einen langen Tunnel. Vom fünften Stock des großen roten Backsteinhauses aus, in dem ich gewohnt hatte, erschien der Tunnel wie ein großes Loch, in das alles hineinplumpste, was sich darauf zu bewegte. Stand ich aber davor, war das Licht des Tages erst wieder hinter einer kleinen runden Öffnung zu sehen, so, als schaute ich durch die falsche Seite von Opas Fernglas. Damals glaubte ich, die Bahnlinien der ganzen Welt führten über den Tunnel hinweg. Wenn ich abends aus dem Fenster schaute, war das Bahngelände ein großes Lichtermeer. Ich konnte das Quietschen der rangierenden Züge hören, das laute Tuuuuut, wenn sie ihren heißen Dampf in den Himmel pusteten, das immer schneller werdende Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, wenn sie sich in Bewegung setzten und das Geräusch der vorbeirasenden Züge - das sich näherte, anschwoll und wieder verhallte. Und mit jedem Zug träumte ich mich in die Ferne.
Eines Tages geschah etwas, dass ich nicht verstand. Ein dunkler Wagen hielt in unserer Straße. Die Tür öffnete sich - schwarze blanke Stiefel wurden sichtbar. Zwei Männer stiegen aus. Als sie sich aufrichteten, verschwanden die Stiefelschäfte unter ihren langen schwarzen Mänteln. Ihre Hüte, tief in die Stirn gezogen, verdeckten einen Teil ihrer Gesichter. Sie betraten das Nachbarhaus. Als sie es wieder verließen, war das Ehepaar aus der ersten Etage in ihrer Begleitung - nette alte Leute - für die ich öfter einkaufte. Zur Belohnung bekam ich dann selbstgebackene Zimtplätzchen. Nun aber schauten diese Leute mich überhaupt nicht an, gingen mit gesenktem Blick an mir vorbei zum Wagen.
»Raus ihr Juden! Ihr habt hier nichts zu suchen!«, rief einer aus der Menge, die sich inzwischen versammelt und ein Spalier gebildet hatte. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben spürte ich Feindseligkeit und Hass.
Den ganzen nächsten Tag klirrten Fensterscheiben. Geschäfte wurden geplündert. Sogar Nachbarn machten mit - schrien »Judenpack!« SA-Männer verprügelten Passanten, warfen Steine - Männer wie Herr Pielke, die mir vertraut waren. »Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen«, erklärte uns der Lehrer in der Schule. Dann mussten sich die Geschwister Sarah und David in die letzte Reihe setzen. Ganz allein saßen sie da, direkt unter dem Bild unseres »Führers« Adolf Hitler...
Von dem Tag an begannen die Männer in den braunen Uniformen öfter zu marschieren, traten fester entschlossener auf. Manchmal, wenn ich gerade eine Schaufel geholt hatte, um für Frau Pielke Pferdemist aufzusammeln, lag er zertreten da. Sie waren einfach drüber wegmarschiert - ohne hinzusehen - immer geradeaus - mit der ganzen Sauerei unter ihren Sohlen. Mir war es noch einerlei wohin sie marschierten. Was wusste ich schon von Aufrüstung, Mobilmachung und Krieg? Meine kindliche Unbekümmertheit ließ mich weiter träumen - abends, wenn die Geräusche zu mir aus dem Lichtermeer herüberkamen. Doch eines Tages erloschen die Lichter. Die ersten Bomben fielen. Die Angst ließ mir keine Zeit mehr zum Träumen...
Schön beschrieben - Danke für die interessanten Erinnerungen!
() qilin
() qilin
Deine Erzählung ist wunderbar gelungen ,Etti. Du hast in Deinen Erinnerungen nicht nur die "klingende Strasse" Deiner Kindheit, sondern auch ein Stückchen deutscher Zeitgeschichte verpackt - so wie sie wohl sehr viele Menschen miterlebt haben.
Luchs
Luchs
qilin ist mir zuvor gekommen,ich finde Du schreibst so lebendig und einfühlsam. Es macht Freude,so etwas zu lesen!
Schade,mir würde es sehr gefallen,wenn Du auch im Forum Erinnerungen... mit schreiben würdest. Haoua
Schade,mir würde es sehr gefallen,wenn Du auch im Forum Erinnerungen... mit schreiben würdest. Haoua
.....Erinnerungen - eine schöne Geschichte, die einen wieder in die Kindheit versetzt. Herzlichen Dank
LG Hera
LG Hera
Eindrucksvoll hast du deine Erinnerungen an deine klingende Straße beschrieben, ich konnte nicht aufhören zu lesen!
Caya
Caya
Eine wirklich schöne und zum Nachdenken animierende Geschichte. Das mit den "Rossbollen", die wir als Buben von der Strasse einsammeln mussten, ist auch mir noch bestens in Erinnerung.
Aber eine Frage dazu sei mir noch erlaubt: Der Stil der Erzählung erinnert mich an andere hier schon gelesene. Könnte es sein, dass du auch noch unter anderen Nicks hier schreibst oder geschrieben hast?
Aber eine Frage dazu sei mir noch erlaubt: Der Stil der Erzählung erinnert mich an andere hier schon gelesene. Könnte es sein, dass du auch noch unter anderen Nicks hier schreibst oder geschrieben hast?
Re: Meine klingende Straße
Ich habe in Dein Profil geschaut,und schon ein paar Jahre mehr in diesen unruhigen Zeiten,da stehen auch viel mehr Erinnerungen an.
Schreibe weiter so,was wir nicht aufschreiben oder auch mümdlich unseren Kindern weiter geben,stirbt mit uns.
Diese Zeit war zu schlimm,und das nicht nur für uns Deutsche. Es sollte nichts aus diesem unschönen Kapitel unserer Geschichte verloren gehen.
Die Zeitzeugen sind authentisccher als unsere Geschichtsbücher. Haoua
Schreibe weiter so,was wir nicht aufschreiben oder auch mümdlich unseren Kindern weiter geben,stirbt mit uns.
Diese Zeit war zu schlimm,und das nicht nur für uns Deutsche. Es sollte nichts aus diesem unschönen Kapitel unserer Geschichte verloren gehen.
Die Zeitzeugen sind authentisccher als unsere Geschichtsbücher. Haoua
Beim Lesen von Ettis "klingender Straße" kamen auch mir Erinnerungen an die Zeit, als ich Kind war.
In unserem Nebenhaus wohnte ein Ehepaar mit einem behinderten Sohn, das war ein
etwa 20jähriger freundlicher junger Mann, der mit uns gern Ball spielte, wenn wir draußen waren. Sein Name war Helmut, aber er konnte nicht gut sprechen und nannte sich nur "Mut", und wir riefen ihn auch so. Er und seine Eltern waren bei allen sehr beliebt.
Eines Tages hörten wir: "Mut ist abgeholt worden, er soll jetzt in einer Anstalt leben". Und einige Zeit später: "Mut ist an einer Lungenentzündung gestorben". So stand es auf dem Totenschein, den uns seine untröstlichen Eltern zeigten.
Als ich von dem neuen Berliner Mahnmal für die Euthanasie-Opfer las, fiel mir auch Mut wieder ein.
G.
In unserem Nebenhaus wohnte ein Ehepaar mit einem behinderten Sohn, das war ein
etwa 20jähriger freundlicher junger Mann, der mit uns gern Ball spielte, wenn wir draußen waren. Sein Name war Helmut, aber er konnte nicht gut sprechen und nannte sich nur "Mut", und wir riefen ihn auch so. Er und seine Eltern waren bei allen sehr beliebt.
Eines Tages hörten wir: "Mut ist abgeholt worden, er soll jetzt in einer Anstalt leben". Und einige Zeit später: "Mut ist an einer Lungenentzündung gestorben". So stand es auf dem Totenschein, den uns seine untröstlichen Eltern zeigten.
Als ich von dem neuen Berliner Mahnmal für die Euthanasie-Opfer las, fiel mir auch Mut wieder ein.
G.
Damit nicht alles bei meinem Ableben verloren gehe, habe ich all meine Schreibereien, die wichtigsten Interviews bei Radio und Fernsehen, sowie sonstige Aufzeichnungen von Auftritten digitalisiert auf 2 DVDs gespeichert. Jedes Enkelkind hat eine Kopie erhalten. Reaktionen darauf sind noch keine eingetroffen; ich muss also annehmen, dass noch keines Zeit gefunden hat, drin zu wühlen. Vielleicht wird sich das ja ändern, wenn sie nach meinem Nicht-mehr-vorhanden-sein merken, dass da irgendetwas fehle?