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Neuvorstellungen Einsamkeit eine Volkskrankheit?

Helmut35
Helmut35
Mitglied

RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Helmut35
als Antwort auf Malinka vom 11.01.2024, 13:33:17

Danke für die freundlich zustimmenden Anmerkungen, Malinka. Ich weiß nicht, ob meine Eltern von meinem,  Deiner Meinung nach klugen, hellen Kopf überzeugt waren, als sie mir 1936 den  Rufnamen Helmut (da fehlt allerdings ein „ll“) zugedachten. Aber positive Kritiken vernehme ich gerne. Du glaubst ja nicht, wieviel Lob und gute Worte ein Mensch ertragen kann, ohne leiblichen oder seelischen Schaden zu nehmen. 

Natürlich ist Einsamkeit ebensowenig ein „Krankheit“ wie „Altsein“ Daher hatte ich die Überschrift meines Beitrags auch mit einem Fragezeichen ausgestattet. Aber sich vereinsamt fühlen ist bei der ständig und rasch  wachsenden Gruppe unserer Altersstufe weit verbreitet, übrigens auch bei vielen, die von sich behaupten sie seien davor gefeit. Das habe ich versucht darzustellen. Es gibt dazu viele Facetten. Das Beispiel Deines Bruders ist eine davon.
Wenn Du, wie Du anmerkst weiteren  Gedankenaustausch möchtest, wer sollte uns daran hindern?
Für heute will ich es mit einem Gedicht belassen das mir kürzlichen „unterkam“, Autor oder Autorin unbekannt:

Das Alter

Ewig fliegt man nicht als Falter,
eines Tages kommt das Alter.

Aus dem Falter wird die Falte,
aus dem Schucki wird die Alte.
Aus dem Jüngling wird der Greis,
ewig ist nur der Verschleiss.

Gestern noch mit flotten Flügeln,
heute sind die Runzeln da.
Da hilft kein kosmetisch bügeln,
da hilft keine AOK.

Wer mit flinkem Fuss gewippt hat,
schlurft nun - mit knarrendem Gelenk.
Und Du merkst auf einmal deutlich:
Man ist älter als man denkt.

Auf des Lebens grüner Wiese
ist das duft'ge Gras gemäht,
abseits jeder Jugendkrise
lebt man funkstill und Diät.

Soll man flennen nun und jammern,
weil man nun mehr ausgeschirrt,
soll man sich an früher klammern,
weil man täglich klammer wird?

Ist in dieser engen Runde 
auch die Welt nicht mehr so bunt,
Freundchen auch die Abendstunde
hat noch manchmal Gold im Mund.

Sei vor'm Alter nicht so feige,
ändre einfach dein Pogramm.
Spielt man nicht mehr erste Geige,
blässt man eben auf dem Kamm.
Autor unbekannt
 

Zaunkönigin
Zaunkönigin
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Zaunkönigin
als Antwort auf Helmut35 vom 10.01.2024, 22:20:10

Zitat:
Aber einsame Menschen erkennen oft nicht, dass sie nicht mehr Teil eines  sozialen Geflechts sind. Sie haben es entweder ungewollt verlassen, weil Entwicklungen im persönlichen Bereich sich grundlegend verändert haben, oder alte Bindungen haben sich mit fortschreitendem  Alter gelockert. Der Lebenspartner oder die Partnerin ist nicht mehr da, die Kinder leben weitab vom Elternhaus, Freunde und Bekannte sind mit zunehmendem Alter nicht mehr zu persönlichen Kontakten fähig. Wer sich in seine „vier Wände“ zurückzieht, und sich anderen nicht mehr durch Sprache und Äußerungen des Körpers wie Lachen, Stirnrunzeln oder Bewegungen mitteilt, wird nicht mehr wahrgenommen. Er selbst versinkt in dem dumpfen Gefühl allein zu sein. Das Gefühl, nicht mehr Teil der Gesellschaft zu sein, führt zu Unsicherheiten. Die Gefahr, sich weiter in sich selbst zurückzuziehen, und Begegnungen mit anderen zu vermeiden, steigert sich. Die Einsamkeit kommt also nicht von außen, sondern von innen. Sie wie eine körperliche oder seelische Erkrankung  zu diagnostizieren, ist kaum möglich, nicht zuletzt auch wegen des Verlustes an Kontakten zu Freunden, Nachbarn oder Verwandten.

Der einsame Mensch erkennt sehr deutlich, dass er nicht mehr Teil eines sozialen Geflechts, der Gesellschaft im allgemeinen, ist. Gerade das ist es doch, was schmerzt.

Und energisch widersprechen muss ich der Aussage: Einsamkeit kommt nicht von Außen. 

Niemand sucht sich Einsamkeit aus und dem Rückzug geht häufig die Zurückweisung voran. 

Von mir ausgehend:
Ich bin ein Mensch der sehr gut und auch länger mit sich alleine klar kommen kann und damit auch zufrieden ist. Das funktioniert aber nur dann, wenn ich weiß, dass es Menschen "da draußen" in dieser Welt gibt, denen ich wichtig bin - und umgekehrt.

Es gab in den letzten Jahren eine lange Phase in der das nicht der Fall war. Da war ich zwar wichtig für 2 Menschen weil sie von mir versorgt werden wollten, aber ich als Mensch war bedeutungslos geworden. Und das begann deutlich zu werden als Corona begann Einzug zu halten.

Ich kürze ab. Es war schlimm. Richtig schlimm. Ohne in die Details gehen zu wollen ... ich bin in meiner Not nachts regelmässig in den Wald gefahren um aus vollem Hals schreien und damit Druck abbauen zu können. Das liest sich absurd, das war es auch. Aber es war das Einzige was mir half am nächsten Tag wieder funktionieren zu können.

Bei uns brach der komplette Bekannten/"Freundeskreis" weg als sie gewahr wurden was die Krankheit meines Mannes bedeutet - und vermutlich auch deshalb, weil ich ja lange Zeit wenig zu erzählen hatte was auch nur ansatzweise deren Lebenswirklichkeit betraf. Nein, das habe ich mir nicht ausgesucht und nein, ich habe mich nicht zurück gezogen. Aber ja, ich war kein Teil dieser Gesellschaft mehr weil ich in einer Doppelpflegewelt gefangen war. Meine Lebenswirklichkeit war eine andere geworden. Eine, mit der man gemein hin wenig Berührung haben möchte, denn sie ängstigt auch.

Heute hat sich die Lage bei uns gebessert. Einiges wurde leichter, auch weil meine Mutter nach 2 Jahren verstarb, aber nicht nur. Mein Mann wurde wieder etwas mehr Teil dieser Welt. 

Ich konnte auch wieder Kontakte aufbauen. Wenige, aber für mich ausreichend weil sie gut und echt sind. Und meinen Mann konnte ich dahin gehend auch unterstützen. Einen Mensch hat er inzwischen auf den er sich freut. 

Jetzt könnte man sagen: die Einsamkeit hat für mich ein Ende. 

Nun ja, beendet ist sie noch nicht, aber weniger heftig geworden. Ich weiß, dass ich wichtigen Dingen völlig auf mich allein gestellt bin, darüber darf ich nicht nachdenken. Ich muss lernen (und das ist eine harte Lektion für mich) Dinge auf mich zukommen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass ich dann schon eine Lösung finden werde. Aber ... dieses Wissen verdeutlicht das Gefühl "Einsamkeit".
Meine zwei Kontakte sind dennoch einsamkeitslindernd. Sie könnten zwar aus diversen Gründen wenig Unterstützen falls handfest Not am Mann wäre, aber sie sind da mit Ohr, Herz, Verstand und Lachen und auch das ist sehr viel wert. 

Die Phase der absoluten Einsamkeit hat mich aber verändert. Und ob ich dieses Gefühl "nicht mehr dazu zu zugehören" je noch einmal abschütteln kann, das muss sich erst noch zeigen.

Jetzt habe ich einen halben Roman geschrieben zu den oben fett markierten Punkten. Eigentlich hätte ich auch nur kurz und knackig schreiben können:

Einsame wissen sehr wohl, dass sie nicht mehr Teil eines sozialen Geflechts, noch nicht einmal mehr Teil dieser Gesellschaft sind.

Und...

Die Einsamkeit kommt von Außen und landet dann im Innen um sich dann dort möglicher Weise auszubreiten. Aber der Beginn liegt im Außen. 

Zaunkönigin
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Zaunkönigin
als Antwort auf Zaunkönigin vom 12.01.2024, 12:22:15

noch eine kleine Ergänzung - einfach weil ich gerade aufgrund des Themas verstärkt darüber nachdenke.

Es gibt unterschiedliche Formen von Einsamkeit. Zumindest erlebe ich das so. Das was ich z.Zt. durchlebe ist nicht die alles umfassende schmerzhafte Form die handlungsunfähig macht. Im Gegenteil

Ich fand zwar mein Leben vor dem großen Schlag schöner und erfüllender. Ich war glücklich über viele Jahre hinweg (wer kann das schon für sich in Anspruch nehmen? Also hatte ich so richtig viel Glück). Ich empfinde den aktuellen Stand aber nicht als schlecht. Er macht, seltsamer Weise, zumindest mich, lebendig und aktiver als in meiner "Glücksphase".

Ich war aber auch in der äußerst schmerzhaften Einsamkeitsphase nicht handlungsunfähig. Es gibt ja Gründe, warum ich aus der fast völligen Isolation heraus immerhin 2 sehr gute und bereichernde Kontakte gewinnen konnte und auch so einiges für meinen spracheingeschränkten Mann auf den Weg bringen konnte. Das kam nicht von Außen auf mich zu. Nein, Einsamkeit macht nicht zwingend handlungsunfähig. Im Gegenteil. 

Ich habe durch diese Phase viele gelernt. Über mich, über andere. Mich hat das zwar nicht im Kern meiner Persönlichkeit verändert, aber.. tja, wie beschreibe ich das? ... Ich traue mir mehr zu - frei nach dem Motto: "was habe ich zu verlieren"? Abgesehen davon stelle ich fest, dass ich seitdem mehr Menschen anziehe die mich auch aufgrund ihrer Persönlichkeit interessieren als das früher der Fall war. Es fällt mir leichter auf Menschen, über den Höflichkeitskontakt hinaus, zuzugehen.
Irgendwie ist das auch schön. 

Ich benutze gerade diesen Strang um die Gedanken zum Thema laufen zu lassen. Möglicher Weise liest sich das etwas unstrukturiert. Mir ist es aber wichtig ein Gegengewicht zu: "Einsamkeit" = "durchgängig negativ" setzen. Denn das muss so nicht sein. (übrigens überrascht mich gerade diese Erkenntnis selbst)
 


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schorsch
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf Zaunkönigin vom 12.01.2024, 14:13:11

Ich freue mich, dass du fähig bist, auch aus den negativen Erlebnissen noch positive Zukunfts-Strategien zu entwickeln. Auch ich muss das. Und ich kann dir sagen: Für einen Mann ist dies noch einiges schwerer als für eine Frau. Denn die Frau kann auch in der Trauer noch ihre gewohnten Tagesstrukturen "automatisch abwickeln". Der Mann aber muss das, was seine Frau zu Lebzeiten nicht aus den Händen geben wollte, neu erarbeiten und lernen.

schorsch
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf Helmut35 vom 12.01.2024, 11:30:11
..................

Ofen und Burgunder rot
Und zuletzt ein sanfter Tod -
Aber später, noch nicht heute.
Hermann Hesse (1877-1962)
Doch eins vergass der liebe Hessen:
den "sanften Tod" kann er vergessen.
Weil, weil das Schicksal uns will lenken,
gibts diesen nur in Wunsch-Geschenken.
Zaunkönigin
Zaunkönigin
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Zaunkönigin
als Antwort auf schorsch vom 12.01.2024, 16:18:30
Ich freue mich, dass du fähig bist, auch aus den negativen Erlebnissen noch positive Zukunfts-Strategien zu entwickeln. Auch ich muss das. Und ich kann dir sagen: Für einen Mann ist dies noch einiges schwerer als für eine Frau. Denn die Frau kann auch in der Trauer noch ihre gewohnten Tagesstrukturen "automatisch abwickeln". Der Mann aber muss das, was seine Frau zu Lebzeiten nicht aus den Händen geben wollte, neu erarbeiten und lernen.

Ich kann Dir versichern, dass, als meine Welt in sich zusammen brach, nichts mehr an Struktur vorhanden war so wie ich das kannte.

Das war, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte.

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Zaunkönigin
Zaunkönigin
Mitglied

RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Zaunkönigin
als Antwort auf schorsch vom 12.01.2024, 16:18:30
Ich freue mich, dass du fähig bist, auch aus den negativen Erlebnissen noch positive Zukunfts-Strategien zu entwickeln. Auch ich muss das. Und ich kann dir sagen: Für einen Mann ist dies noch einiges schwerer als für eine Frau. Denn die Frau kann auch in der Trauer noch ihre gewohnten Tagesstrukturen "automatisch abwickeln". Der Mann aber muss das, was seine Frau zu Lebzeiten nicht aus den Händen geben wollte, neu erarbeiten und lernen.

Mich hat Deine Anmerkung, die Du hier ja nicht zum ersten Mal äusserst, darüber nachdenken lassen, warum mir es gelang so etwas wie Ziele zu entwickeln.

Das war der Drang zu überleben und das war Fürsorge. Ich wusste, für wen ich mich ins Zeug legte, auch wenn meine Beiden anfangs alles boykottierten was nur ging und sich speziell meine Mutter durch ihre Sturheit erst richtig in Probleme hinein manövriert hat. Bösartig waren beide ... bei meinem Mann hatte das dann nach einigen Monaten zum Glück wieder ein Ende. Meine Mutter blieb dabei. 

Ich hatte keine Struktur mehr. Ich habe nur Löcher gestopft, lange nur reagiert und nicht mehr agiert. Irgendwann wurde mir klar, dass, wenn ich weiterhin mich nur jagen lasse, dann gehen wir alle 3 den Bach runter. Da fehlte auch nicht mehr viel. Ich glaube diese Erkenntnis hat mir geholfen in Minischritten zu agieren. Einer meiner ersten Schritte war der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für Aphasiker. Das lief zwar nicht optimal, aber dadurch ergeben sich wiederum kleine Randerscheinungen aus denen für meinen Mann Gutes entstanden ist.

Vielleicht gehört auch der Mut der Verzweiflung dazu. 

(meine Gedanken hier erheben nicht den Anspruch darauf, eine Allgemeingültigkeit zu erheben. Ich sinniere nur - und blicke zurück)

 
schorsch
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf Zaunkönigin vom 12.01.2024, 17:02:03

Was oder wen immer man unternimmt, einspannt oder aufsucht: Ohne "Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es" geht nichts. Heisst: Ohne dass man selber etwas unternimmt, wird auch von aussen nichts unternommen.

Übrigens: Die Sturheit, die du von deiner Mutter erleb(t)est, erlebe ich von meiner Schwiegertochter nun auch schon ein halbes Jahr.

Helmut35
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RE: Einsamkeit eine Volkskrankheit?
geschrieben von Helmut35
als Antwort auf schorsch vom 12.01.2024, 16:18:30

Nette Ergänzung Dein Reim. Deine dichterische Freiheit, ihn „Hessen“ zu nennen, könnte mißverstanden werden. Nur zur Sicherheit: Hermann Hesse ist in Calw, also im sog. Musterländle aufgewachsen und in Montagnola einem hübschen Ort im Tessin, in der Nähe von Lugano gestorben. Er hat den „sanften Tod“ als Wunsch formuliert. Vielen gelingt er offenbar. Jedenfalls ist in jenen Anzeigen mit der schwarzen Umrandung oft genug zu lesen „sanft eingeschlafen“. Meine Frau ist vor einigen Monate,  kurz nachdem wir den 60. Hochzeitstag noch ordentlich gefeiert hatten, ebenfalls sanft hinübergeschlafen. Was mir geschieht, ist  „todsicher“. Ob sanft oder unsanft, das wird sich dann herausstellen.
“…Tut uns die Uhr den letzten Schlag,
sind wieder 1000 Jahr ein Tag.
Und aus der Zeit sind wir entlassen. 
Wohin?
Kein Sterblicher wird´s fassen“ Eugen Roth 
Hesse würde darauf wahrscheinlich im Italienisch seiner Wahlheimat, Tessin, antworten. Ma é securo, in Pradiso!
 


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