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Literatur zeitkritische texte...gestern & heute

enigma
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf myrja vom 01.07.2010, 12:13:35
Hallo Myrja,

nix zu entschuldigen, ganz im Gegenteil, denn, da sind wir ener Meinung, man kann sie nicht oft genug lesen oder/und hören, die Rede von Dr. Martin Luther King jr.

Enigma
Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken.

Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke...

Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken.

Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedesmal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was. Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität - und doch, es tut mir leid, dass alles nicht stimmt...

[...]

aus... Böll, Heinrich: An der Brücke (1950)

--
Wolfgang
senhora
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von senhora
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 16.07.2010, 11:11:30
Auszug :

Über die Barbarisierung des Alters

Über alte Leute ist vor allem eins zu sagen: dass sie unsympathisch sind. Warum? Nun, nachdem alle Weisheit des Alters zu Asche verbrannt ist, haben sie nichts mehr beizutragen als das Taschengeld für die geldgierigen Enkel oder die steingewordene Lebenslüge. Das erweckt ganz allgemein wenig Mitleid - vielmehr Abneigung. Die Art und Weise, wie Alte fast ausnahmslos von der unbedingten Richtigkeit der Meinungen, die sie vertreten, überzeugt sind, mach sie lästig und langweilig. Sie glauben vor allem sich selbst - und gegebenenfalls noch ihren Ärzten. [….]

Philemon und Baucis auf deutsch: Bescheiden lebt man im Häuschen und Garten und genießt die geordneten Verhältnisse. Beim geringsten Anlass allerdings entgleitet das Gespräch, das sich gerade noch um das Unkraut im Garten drehte, in eine kaltgepresste Tirade gegen Juden, Asylanten und Ausländer. "Verstockt" nennt Luthers Bibeldeutsch solche Haltung. […]

Warum also sind also alte Leute so unsympathisch? [.......]
In einem langen Prozess der Zivilisierung waren die Alten von unnützen Essern zur Quelle der Weisheit und damit zu Respektpersonen geworden. Die entfesselte Marktwirtschaft beseitigt die Möglichkeit zu Weisheit und den daraus erwachsenden Respekt. […]
Nicht von den "unnützen Essern" wird gesprochen, aber von der Belastung der Krankenkassen durch die Versicherungsleistungen an Senioren. Unnütze Pillenschlucker also. [….]

Die Alten sind aber keineswegs nur Opfer moderner Kaltherzigkeit. Sie haben jene Prozesse durch ihre Taten mit in Gang gesetzt, die nun die Möglichkeit zur Weisheit vernichtet. Aus ihrem Schoß ist der Turbokapitalismus geboren worden, der sie nun selbst wegsaugt. [....]

Reimer Gronemeyer

(Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer geboren 1939; Studium der Theologie in Hamburg, Heidelberg und Edinburgh; Promotion zu den Paulusbriefen; lutherischer Pfarrer in Hamburg. Studium der Soziologie, seit 1975 Professor für Soziologie an der Universität Gießen.)

Aus: „In einem reichen Land“ Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft
Herausgegeben von Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser

Senhora



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enigma
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf senhora vom 18.07.2010, 07:10:35
„Krieg ist eine Geißel. Er ist eine Plage. Er ist ein industrieller Mörder. Und bevor ihr Krieg unterstützt – besonders den im Irak und in Afghanistan, schaut in die ausgehöhlten Augen der Männer, Frauen und Kinder, die ihn kennen.“
(Zitat Chris Hedges, übersetzt von Christiane Dorloff)

Chris Hedges war u.a. langjähriger Korrespondent und Kriegsberichterstatter der New York Times.

Jeden Montag erscheint von ihm eine Kolumne in “truthdig”.
Die vom 4. Januar 2010 wurde von Christiane Dorloff nach ihren Angaben frei übersetzt unter dem deutschsprachigen Titel “Die Bilder des Krieges, die nicht für uns bestimmt sind.”

Es sind wirklich Bilder des Grauens, aber vielleicht gerade darum so wichtig, denn sie zeigen nur das, was geschehen ist und noch täglich geschieht.

Link zu der Übersetzung von Frau Dorloff und den Fotos
hier:

Ein weiterer Link führt zu der Originalkolumne in “truthdig” mit dem Titel
„The Pictures of War You Aren’t Supposed to See“,
hier:



Enigma


clara
clara
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von clara
als Antwort auf enigma vom 19.07.2010, 09:27:16
Schreckliche Bilder, liebe Enigma, aber wie Du sagst trotzdem wichtig, sie zu sehen. Und immer MENSCHEN mitten drin! Oft bleibt der Krieg zu abstrakt.
Der zynische Abspann...!!

Lieben Gruß, Clara
Mitglied_bed8151
Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38
Ein Ratschlag, der auf fruchtbaren Boden fiel (der übrigens schon wieder fruchtbar dafür ist)...

Ratschlag für Ehrgeizige. Willst du ›richtig liegen‹? Dies, mein Sohn, ist die Konjunktur des Tages: pazifistische Terminologie, nationalsozialistischer Inhalt [...]. Dergleichen schließt alle Möglichkeiten in sich, verpflichtet zu gar nichts, und du hast es gleich gesagt. [...]

Peter Panter (alias Kurt Tucholsky), Die Weltbühne, Nr. 5, 03.02.1931

--
Wolfgang

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Milan
Milan
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von Milan
als Antwort auf enigma vom 01.07.2010, 11:43:49

die botschaft hör ich wohl allein mir fehlt der glaube

Milan
Mitglied_bed8151
Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Als exemplarisch für einen persönlichkeitsbezogenen Zugriff [auf das Phänomen Faschismus] kann die Arbeit der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt angesehen werden, die nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Berkeley [USA] fortgesetzt wurde. Die Berkeley-Gruppe ging von der Existenz einer tief verankerten, stabilen autoritären Persönlichkeitsstruktur aus. Deren Träger, die autoritären Persönlichkeiten, unterwerfen sich Autoritäten und bezeugen Mächtigen Gehorsam, Schwachen gegenüber gebärden sie sich dagegen als überlegen und aggressiv. In ihrer Wertordnung rangieren Sicherheit, Ordnung und Pflichterfüllung an oberster Stelle. Adorno u.a. gingen überdies davon aus, dass die Träger einer autoritären Persönlichkeitsstruktur eine geschlossene rechtsextreme Ideologie aufwiesen. Die autoritäre Persönlichkeitsstruktur bestimme die Einstellungen zu konkreten Objekten wie zum Beispiel die Bewertung von Fremdgruppen und das politische Verhalten wie etwa die Unterstützung einer rechtsextremen Partei oder Regierung.

aus... Winkler, Jürgen R.: Rechtsextremismus. Gegenstand – Erklärungsansätze – Grundprobleme

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Wolfgang

enigma
enigma
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 01.08.2010, 09:05:36
Nicht nur mit Gedichten, sondern auch mit Liedern kann man den Zeitgeist beschreiben oder kritisieren.


Hier Reinhard Mey mit: “Sei wachsam!”

Video: hier:

Text: hier:




Enigma
Mitglied_bed8151
Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

"Es läuft eine Talkshow, eine der vielen, die regelmäßig zu Verhören ausarten, sobald ehemalige DDR-Bürger unter den Gästen sind. Jeder Westdeutsche darf seinem ostdeutschen Landsmann öffentlich die Gesinnungsfrage stellen, das gehört zur politischen Korrektheit; jeder Exbewohner der DDR, der nicht damit aufwarten kann, dass er von der Stasi beschattet wurde, ist verdächtig, ein potentieller Angeklagter, der dem westdeutschen Rechtsstaat in Gestalt eines x-beliebigen Wichtigtuers und Medienschwätzers seine Unschuld beweisen muss. Niemand stellt den westdeutschen Inquisitoren die Gegenfrage nach deren Moral, nach deren Lebensläufen. Eine völlig verschüchterte ostdeutsche Lehrerin wird ins Kreuzverhör genommen, man unterstellt ihr allein aufgrund ihres Berufs Zusammenarbeit mit der Stasi. Man spricht so mit den Leuten, als hätte die einzige Dauerfrage ihres Lebens darin bestanden, ob sie für oder gegen den Staat waren, darüber hinaus will niemand etwas von ihrem Leben in der DDR wissen."

Aus dem Roman 'Nachtgeschwister' von Natascha Wodin, Verlag Antje Kunstmann, München, 2009, ISBN 978-3-88897-560-8

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Wolfgang

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