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Literatur zeitkritische texte...gestern & heute

miriam
miriam
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von miriam
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 27.06.2010, 13:10:06
Und Kurt Tucholsky würde ich sagen, wenn er denn käme (was ausgeschlossen ist): "Du hast umsonst geschrieben, Kurt. Im nächsten Leben, falls es eins gibt, kommen wir in Frankreich auf die Welt und schreiben dort - nur für Franzosen und selbstverständlich in französisch."

--
Wolfgang


Er hat nicht umsonst geschrieben, der Kurt Tucholsky, der Theobald Tiger, der Peter Panter, und Ignaz Wrobel.


Ich würde ihn vielleicht sagen, dass alles etwas verfrüht war: seine Geburt - genau wie auch sein Selbstmord. Letzterer - auch wenn Werner Schnyder meint:

"Satiriker enden oft als Archivare ihrer Resignation"
Doch Werner Schneyder hat ihm dieses schöne, traurige Lied gewidmet - wobei ich mich nur an die ersten vier Zeilen erinnere:


"Schlafen Sie gut, Herr Tucholsky
Ihr Selbstmord war nicht übereilt
Ihr Werk hat zehn Bände, ich les sie zuende
Und bin von jeglicher Hoffnung geheilt."

Ich lese Tucholsky auch immer wieder - und werde nie von seinen Texten entmutigt. Nur traurig...
Zurzeit ist meine Tucholsky-Lektüre "Deutschland, Deutschland - über alles".

Miriam
longtime
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute: Klabund
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 23.06.2010, 18:27:56
Zu dem interessanten Beitrag von enigma fand ich noch einen anderen „Offenen Brief“ Klabunds (1890 – 1928).
Man darf ihn nicht nur als Verfasser von Gedichten und Übersetzungen in Erinnerung behalten; er war auch ein tapferer Verteidiger der Weimarer Demokratie. Als Dichter, Dramatiker, Übersetzer, Lyriker, Erzähler zwischen Impressionismus und Expressionismus war sein Werk, da eigenwillig erotisch, weltläufig und pazifistisch, häufigen Anfeindungen ausgesetzt.
Ironisch-kritisch macht er die Nazis (NSDAP) zur „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“

Gotteslästerung? - Offener Brief an die Nationalsozialistische Freiheitspartei Deutschlands

Meine Herren!

Sie erweisen mir die Ehre, sich in einem Antrag mit meiner bescheidenen Person zu beschäftigen. Ein Gedicht von mir, „Die Heiligen Drei Könige“, hat, so erklären Sie, Ihr religiöses Gefühl verletzt, und Sie rufen gegen dieses Gedicht, Kanonen gegen einen Sperling, den Staatsanwalt auf. Ich bin, so darf ich wohl sagen: entzückt, daß es in dieser stumpfen, dumpfen Zeit noch Menschen gibt, die durch ein Gedicht, ein Kunstwerk also, im tiefsten Herzen erregt und erschüttert werden. Die Aufgabe der Kunst ist ja grade, die Seele zu bewegen und aufzuwühlen. Zu bewegen, wie der Wind die Blüte bewegt. Aufzuwühlen, wie der Sturm das Meer aufwühlt. Während der heutige Mensch allen möglichen mechanischen Reizen wie Radio, Rassenhaß, Boxsport, Theosophie, Weltkrieg und Jazz leicht zugänglich ist, verhärtet und verkrustet sich sein Inneres immer mehr, und es muß schon allerlei geschehen, bis er vor einem Kunstwerk, positiv oder negativ eingestellt, sich elektrisch oder explosiv entlädt. Was also, meine Herren von der Reaktion, Ihre Reaktion auf mein Gedicht betrifft, so bin ich durch sie sehr beglückt. Was aber nun die Folgerungen angeht, die Sie aus Ihrem erregten Zustand zu ziehen belieben, so muß ich vor allem meiner höchsten Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß Sie, meine Herren vom Hakenkreuz, in deren Reihen dem altgermanischen Wodanskult das Wort geredet wird, für die das Paradies in Mecklenburg liegt und die sich über den schlappen Christusglauben so oft offenkundig lustig gemacht haben – daß Sie, meine Herren Heiden, die allenfalls für Wodanslästerung zuständig wären, daß ausgerechnet Sie für den von Ihnen immer über die Achsel angesehenen Christengott eintreten und über Gotteslästerung wehklagen. Und was ist das für eine »Gotteslästerung«? Ich kann in dem fraglichen, inkriminierten Gedicht weit und breit keine Gotteslästerung finden – dagegen finde ich bei Ihnen, die sich so gern als Deutscheste der Deutschen bezeichnen, ein gradezu hanebüchene Unkenntnis deutscher Volksbräuche. Denn das Gedicht Die Heiligen Drei Könige bezieht sich gar nicht, wie von Ihnen wohl angenommen, auf die drei Weisen aus dem Morgenland, sondern auf einen am Heiligendreikönigstag in vielen Gegenden Deutschlands geübten Brauch: da ziehen nämlich, als Heilige Drei Könige karikaturistisch kostümiert, drei Burschen im Dorf herum, um mit mehr oder weniger ruppigen Versen bei den Bauern Bier und Schnaps zu schnorren. Diese Verse sind derb, frech, witzig – aber gotteslästerlich? Du lieber Gott! Ich glaube, du hast deine rechte, recht göttliche Freude an ihnen. Denn du bist ja kein nationalsozialistischer Abgeordneter. Du hast ja sogar den Teufel geschaffen, weil dir in deiner ewigen Güte gar nicht wohl war und du eine Art Gegengewicht brauchtest. Ja, ohne den Teufel wärst du eigentlich gar nicht denkbar, gar nicht vorstellbar. Gott und Teufel, Tag und Nacht, Mann und Weib – eines wird erst am andern, an seinem Gegensatz recht sichtbar. Wie ja auch die Nationalsozialistische Freiheitspartei notwendig ist, damit man sieht, daß es auch gescheite Leute auf der Welt gibt. Diese, wozu hoffentlich auch der Staatsanwalt gehört, mögen der Partei klarmachen, sofern man den Dunklen etwas klarmachen kann: daß, wenn ein zwar derbes, aber harmloses Gedicht wie „Die Heiligen Drei Könige“ eine Gotteslästerung sein soll (was dem einen sein Gott, ist dem andern sein Teufel), Goethes „Faust“ von Gotteslästerungen nur so strotzt, daß Goethe auch ein Gedicht von den Heiligen Drei Königen geschrieben hat, „Epiphanias“ betitelt, das für den Antrag auf Gotteslästerung vielleicht noch in Betracht kommt.
Neben Goethe auf der Anklagebank zu sitzen, würde sich zu einer besonderen Ehre schätzen
Ihr ergebener Klabund
Nachschrift
Um Weiterungen vorzubeugen: Ich bin kein Jude! Ich habe keine jüdische Großmutter! Ich bin auch kein Mischling! Ich heiße nicht Krakauer und bin auch nicht aus Lemberg. Ich heiße schlicht mit bürgerlichem Namen Alfred Henschke. Und mein Großvater hat als Erzieher des ehemaligen Kaisers sein Bestes dazu beigetragen, daß wir den Krieg verloren, aber statt dessen die Nationalsozialistische Freiheitspartei gewonnen haben. Das nächste Mal wird es uns hoffentlich umgekehrt gehen.
*
(Veröffentlicht in „Die Weltbühne“. 21. Jg. 1925)

*

Und so lautet das Gedicht „Die Heiligen Drei Könige“:

Klabund (1890-1928):
Die heiligen drei Könige
(Bettelsingen)

Wir sind die drei Weisen aus dem Morgenland,
Die Sonne, die hat uns so schwarz gebrannt.
Unsere Haut ist schwarz, unsere Seel ist klar,
Doch unser Hemd ist besch... ganz und gar.
Kyrieeleis.

Der erste, der trägt eine lederne Hos',
Der zweite ist gar am A... bloß,
Der dritte hat einen spitzigen Hut,
Auf dem ein Stern sich drehen tut.
Kyrieeleis.

Der erste, der hat den Kopf voll Grind,
Der zweite ist ein unehlich' Kind.
Der dritte nicht Vater, nicht Mutter preist,
Ihn zeugte höchstselbst der heilige Geist.
Kyrieeleis.

Der erste hat einen Pfennig gespart,
Der zweite hat Läuse in seinem Bart,
Der dritte hat noch weniger als nichts,
Er steht im Strahl des göttlichen Lichts.
Kyrieeleis.

Wir sind die heiligen drei Könige,
Wir haben Wünsche nicht wenige.
Den ersten hungert, den zweiten dürst',
Der dritte wünscht sich gebratene Würst.
Kyrieeleis.

Ach, schenkt den armen drei Königen was.
Ein Schöpflöffel aus dem Heringsfass -
Verschimmelt Brot, verfaulter Fisch,
Da setzen sie sich noch fröhlich zu Tisch.
Kyrieeleis.

Wir singen einen süßen Gesang
Den Weibern auf der Ofenbank.
Wir lassen an einem jeglichen Ort
Einen kleinen heiligen König zum Andenken dort.
Kyrieeleis.

Wir geben euch unseren Segen drein,
Gemischt aus Kuhdreck und Rosmarein.
Wir danken für Schnaps, wir danken für Bier.
Anders Jahr um die Zeit sind wir wieder hier.
Kyrieeleis.
longtime
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von longtime
als Antwort auf miriam vom 27.06.2010, 14:18:25
Ich möchte, eben so wie miriam, keine Zeile von Tucholsky missen.

Schöne dass es nicht nur die Tachenbuchausgabe in zehn Bänden gibt, sondern eine neue, große, mit vielen Erläuterungen und Ergänzungen und auch aufgefundenen, bisher ungedruckten Texten:

Tucholskys Werk im rowohlt Verlag

Neu erschienen ist endlich auch der erste Band der Brief-Ausgabe:

Tuxholskys Briefe (1911-1918)

*

Ich verweise hier zu Ehren Tucholskys und Klabunds auf deren gemeinsames Politik- und Literaturverständnis mit dem Hinweise auf die Rezension Tucholsky: "Harfenjulius Klabund"; s. Link.

Aus Klabunds Werk, eben aus der "Harfenjule" (1927), füge ich dieses Gedicht hinzu:

Klabund:
Pogrom


Am Sonntag fällt ein kleines Wort im Dom,
Am Montag rollt es wachsend durch die Gasse,
Am Dienstag spricht man schon vom Rassenhasse,
Am Mittwoch rauscht und raschelt es: Pogrom!

Am Donnerstag weiß man es ganz bestimmt:
Die Juden sind an Rußlands Elend schuldig!
Wir waren nur bis dato zu geduldig.
(Worauf man einige Schlucke Wodka nimmt...)

Der Freitag bringt die rituelle Leiche,
Man stößt den Juden Flüche in die Rippen
Mit festen Messern, daß sie rückwärts kippen.
Die Frauen wirft man in diverse Teiche.

Am Samstag liest man in der »guten« Presse:
Die kleine Rauferei sei schon behoben,
Man müsse Gott und die Regierung loben...
(Denn andernfalls kriegt man eins in die Fresse.)

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enigma
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 28.06.2010, 11:39:13
Die Gettysburg Address

Die Gettysburg Address gehört zu den berühmtesten Reden des 16. US-Prädidenten Abraham Lincoln.. Er hielt sie am 19. November 1863 anlässlich der Einweihung des Soldatenfriedhofs auf dem Bürgerkriegsschlachtfeld von Gettysburg und fasste darin das demokratische Selbstverständnis der Vereinigten Staaten zusammen.

Die Rede gilt allgemein als rhetorisches Meisterwerk und ist Teil des historisch-kulturellen Erbes der USA.
geschrieben von Wikipedia


Und nun der Text der Rede in der sogenannten “Bliss-Version, auf Englisch und Deutsch:

„Four score and seven years ago our fathers brought forth on this continent a new nation, conceived in liberty, and dedicated to the proposition that all men are created equal. Now we are engaged in a great civil war, testing whether that nation, or any nation, so conceived and so dedicated, can long endure. We are met on a great battle-field of that war. We have come to dedicate a portion of that field, as a final resting place for those who here gave their lives that that nation might live. It is altogether fitting and proper that we should do this. But, in a larger sense, we can not dedicate...we can not consecrate...we can not hallow this ground. The brave men, living and dead, who struggled here, have consecrated it, far above our poor power to add or detract. The world will little note, nor long remember what we say here, but it can never forget what they did here. It is for us the living, rather, to be dedicated here to the unfinished work which they who fought here have thus far so nobly advanced. It is rather for us to be here dedicated to the great task remaining before us—that from these honored dead we take increased devotion to that cause for which they gave the last full measure of devotion—that we here highly resolve that these dead shall not have died in vain—that this nation, under God, shall have a new birth of freedom—and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“

In deutscher Übersetzung:
„Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Nun stehen wir in einem großen Bürgerkrieg, um zu erproben, ob diese oder jede andere so gezeugte und solchen Grundsätzen geweihte Nation, dauerhaft bestehen kann.
Wir haben uns auf einem großen Schlachtfeld dieses Krieges versammelt. Wir sind gekommen, einen Teil davon jenen als letzte Ruhestätte zu weihen, die hier ihr Leben gaben, damit diese Nation leben möge. Es ist nur recht und billig, dass wir dies tun.
Doch in einem höheren Sinne können wir diesen Boden nicht weihen – können wir ihn nicht segnen – können wir ihn nicht heiligen. Die tapferen Männer, Lebende wie Tote, die hier kämpften, haben ihn weit mehr geweiht, als dass unsere schwachen Kräfte dem etwas hinzufügen oder etwas davon wegnehmen könnten. Die Welt wird wenig Notiz davon nehmen, noch sich lange an das erinnern, was wir hier sagen, aber sie kann niemals vergessen, was jene hier taten.
Es ist vielmehr an uns, den Lebenden, dem großen Werk geweiht zu werden, das diejenigen, die hier kämpften, so weit und so edelmütig voran gebracht haben. Es ist vielmehr an uns, geweiht zu werden der großen Aufgabe, die noch vor uns liegt:
– auf dass uns die edlen Toten mit wachsender Hingabe erfüllen für die Sache, der sie das höchste Maß an Hingabe erwiesen haben,
– auf dass wir hier einen heiligen Eid schwören, dass diese Toten nicht vergebens gefallen sein mögen,
– auf dass diese Nation eine Wiedergeburt der Freiheit erleben und auf dass die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge.“

Einige weitere Informationen über Anlass und Bedeutung dieser Rede hier:

Das offizielle Ende des Sezessionskrieges erlebte Abraham Lincoln nicht mehr.
Er wurde von einem Südstaaten-Anhänger angeschossen und erlag am 15. April 1865 seinen schweren Verletzungen.

Der Dichter Walt Whitman widmete dem toten Abraham Lincoln das Gedicht “O Captain! My Captain!”


Oh Captain! My Captain!

O Captain! my Captain! our fearful trip is done,
The ship has weather'd every rack, the prize we sought is won,
The port is near, the bells I hear, the people all exulting,
While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring;

But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red!
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.


O Captain! my Captain! rise up and hear the bells;
Rise up-- for you the flag is flung-- for you the bugle trills,
For you bouquets and ribbon'd wreaths-- for you the shores crowding,
For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;

Here, Captain! dear father!
This arm beneath your head!
It is some dream that on the deck
You've fallen cold and dead.


My Captain does not answer, his lips are pale and still,
My father does not feel my arm, he has no pulse nor will;
The ship is anchor'd safe and sound, its voyage closed and done,
From fearful trip the victor ship comes in with object won;

Exult, O shores! and ring, O bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.

Am 18. Dezember 1865 wurde vom US-Kongresss der 13. Zusatzartikel zur Verfassung der USA ratifiziert, der die Sklaverei offiziell aufhob.
Die Konföderierten waren besiegt bzw. in die Union zurückgekehrt.


Enigma




Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Was den Deutschen im Guten wie im Bösen auszeichnet, ist seine Maschinerie. Nun, sie ist Herr über ihn geworden: er ist untertan jeder Organisation, nur, weil sie einmal da ist – und das ist das Gegenteil aller Kultur. Hierzulande kann ja keinem gekündigt werden: sie sind alle da und bleiben alle da – Ideen, Beamte und Vereine. (Worunter auch der Staat.) Und was sollte aus einem Volke werden, das so geartet ist – so, mit seiner theoretischen Freiheit und seiner praktischen Sklaverei? »Die Stationen des Möglichen werden überflogen, bis zum Extrem dessen, was man erreichen könnte, wenn man allein in der Welt wäre: Mangel an echter Phantasie, die ja Anwendung ist.« Ist das nicht Ludendorff, wie er leibt und – im Gegensatz zu Landauer – lebt? Ist das nicht typisch deutsch, sich mit Moralgesetzen herumzuschlagen, solange sie nicht in Aktion treten – die protestantische Kirche ist groß auf diesem Gebiet –, und alles hintanzusetzen, wenns wirklich zum Klappen kommt? Und wenn man Skrupel hat, wenn diese Deutschen wirklich das Gewissen beißt? »Er flieht dahin«, sagt Flake, »wo das Massengefühl die Sicherheit wiederherstellt.« Masse deckt zu. Was deckt sie bei uns nicht alles zu –!

aus... Otto Flake (von Ignaz Wrobel, aka Kurt Tucholsky), in: Die Weltbühne, 27.10.1921, Nr. 43, S. 422

Ich empfehle, mehr von Flake zu lesen, vom heute so gut wie vergessenen Mann, der zwischen alle Stühle geriet.

--
Wolfgang
myrja
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von myrja
Dr. Martin Luther King Jr.
"I have a dream"
Ausschnitt aus der Rede zum Marsch auf Washington am 28. August 1963 vor 250.000 Menschen am Lincoln Memorial

Heute sage ich euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: "Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind."

Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Gerechtigkeit verwandelt.

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum heute...

Ich habe einen Traum, dass eines Tages in Alabama mit seinen bösartigen Rassisten, mit seinem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie "Intervention" und "Annullierung der Rassenintegration" triefen ..., dass eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüdern und Schwestern. Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.

Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.

Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln.

Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, dass wir eines Tages frei sein werden. Das wird der Tag sein, an dem alle Kinder Gottes diesem Lied eine neue Bedeutung geben können: "Mein Land von dir, du Land der Freiheit singe ich. Land, wo meine Väter starben, Stolz der Pilger, von allen Bergen lasst die Freiheit erschallen." Soll Amerika eine große Nation werden, dann muss dies wahr werden.

So lasst die Freiheit erschallen von den gewaltigen Gipfeln New Hampshires. Lasst die Freiheit erschallen von den mächtigen Bergen New Yorks, lasst die Freiheit erschallen von den hohen Alleghenies in Pennsylvania. Lasst die Freiheit erschallen von den schneebedeckten Rocky Mountains in Colorado. Lasst die Freiheit erschallen von den geschwungenen Hängen Kaliforniens. Aber nicht nur das, lasst die Freiheit erschallen von Georgias Stone Montain. Lasst die Freiheit erschallen von Tennesees Lookout Mountain. Lasst die Freiheit erschallen von jedem Hügel und Maulwurfshügel in Mississippi, von jeder Erhebung lasst die Freiheit erschallen.

Wenn wir die Freiheit erschallen lassen — wenn wir sie erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes — schwarze und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken — sich die Hände reichen und die Worte des alten Negro Spiritual singen können: "Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!"



Hat sich seit 1963 wirklich etwas verändert. Den Ku-KClux-Klan gibt es immer noch. Noch sind es die Schwarzen in Amerika, die zum größten Teil in Armut leben. Und auch bei uns werden Schwarze von weißen Rassisten noch immer verfolgt. Freiheit für alle sieht anders aus.

Myrja

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Mitglied_bed8151
Mitglied_bed8151
Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf myrja vom 01.07.2010, 10:37:09
stimmt. das paradies lässt auf sich warten.

immerhin wurde uns ein schwarzer präsident beschert. das verblüffende: bis auf die äußere erscheinung unterscheidet der sich gar nicht vom weißen vorgänger. das alte weiß im schwarzen schlauch. wie sich menschen in ihrem wesen doch gleichen.

--
Wolfgang
enigma
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf myrja vom 01.07.2010, 10:37:09
Doch, ich finde, dass sich doch viel verändert hat, auch wenn wir von einem Idealzustand, sowohl in Amerika als auch in Europa, noch weit entfernt sind.
Auch dann, wenn die Rechte als nur auf dem Papier erteilt angesehen werden, ist es eine wichtige Veränderung, denn seitdem gibt es sie offiziell.
Das ist in meinen Augen ein Fortschritt gegenüber einer Zeit, als beispielsweise die Sklaverei für legitim gehalten wurde und offiziell abgesegnet war.

Darum halte ich auch die Leistung der Menschen, die an einer entsprechenden Gesetzgebung beteiligt waren, nach wie vor für sehr wichtig, auch wenn dies teilweise aus politischem Kalkül geschah.

Rassisten gibt es auch heute noch, aber sie werden immer häufiger auch als solche bezeichnet und zumindest ins moralische Abseits gestellt.

Ja, es gibt noch viel zu viel Armut im “reichen Amerika”, auch nicht nur bei Schwarzen, leider.

Den Text der Rede von Martin Luther King kann man nicht oft genug lesen oder auch hören.
Ich war auch bereits am 5. April 2010 auf ihn gekommen, weil ich diese Rede nach wie vor für eine der wichtigsten des 20. Jahrhunderts halte.
Ein Video der Rede noch einmal hier:



Enigma


myrja
myrja
Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von myrja
als Antwort auf enigma vom 01.07.2010, 11:43:49
Entschuldige Enigma,

ich muss Deinen Beitrag wohl übersehen haben.

Aber Du hast recht, man kann diese Rede nicht oft genug lesen, bzw. hören. Dieser Traum, wenn er dann mal Realität geworden ist, wird unsere Welt verändern. Glücklich die Menschen, die dann in der Zukunft in dieser Zeit leben dürfen.

Myrja
myrja
myrja
Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von myrja
So lebte sie gestern, die feine Gesellschaft und so lebt sie auch heute noch!


Feine Gesellschaft
von Constantin Wecker
Aus: Stilles Glück, trautes Heim (1989),

Wieder tippeln sie los und machen Offerten,
verbeugen sich, stecken sich Schmiergelder zu,
erlaben sich in Kurkonzerten,
besichtigen Häuser in Malibu.
"Entzückend, gnä Frau, Ihr Kleid, keine Frage.
Nur erste Adresse. L.A., Paris."
Und so weiter. Am Ende: "Wir sehn uns, die Tage.
Die Kurse steigen. Das Wetter ist mies."

Die feine Gesellschaft am Rande des Abgrunds
hat immer noch alles fest im Griff.
Sie stehen am Ruder und lieben die Klippen
und verlassen als erste das sinkende Schiff.

Sie eröffnen am laufenden Band Galerien,
bestellen sich Kunst und Kleider en gros.
Tätigen wohl in den Tuillerien
und tätscheln dem Personal den Po.

"Pardon, ich wollte...
na, das kann doch passieren -
wir treffen uns im November, na klar,
soll doch der Pöbel zuhause frieren,
wir fahren mal wieder nach Sansibar."

Die feine Gesellschaft am Rande des Abgrunds
hat immer noch alles fest im Griff.
Sie stehen am Ruder und lieben die Klippen
und verlassen als erste das sinkende Schiff.

Manchmal treffen sie sich, geheim in Bünden,
kaufen sich wieder Politiker ein,
entstressen sich auf ihren Yachten und Pfründen,
schreiben sich in die Klatschspalten rein...

Ach, einmal möchten sie, so wie van Gogh,
an der Welt zerbrechen und an ihrem Genie!
Meine Herrschaften, etwas beruhigt mich doch:
Das schaffen sie nie!

Die feine Gesellschaft am Rande des Abgrunds
hat immer noch alles fest im Griff.
Sie stehen am Ruder und lieben die Klippen
und verlassen als erste das sinkende Schiff.

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