Literatur zeitkritische texte...gestern & heute
Marc-Uwe Kling: Wer hat uns verraten?
Es gibt da sonen Spruch von den alten Kommunisten
Mit dem die 1918 ihre falschen Freunde dissten.
Natürlich hamwa heute ne andere politische Lage.
Doch trotzdem passt der Spruch irgendwie in unsre Tage.
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat uns verraten? Wer hat uns verkauft?
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Die haben uns verraten und die haben uns auch verkauft.
Ich glaub ich mach ein Lied daraus mit nem Arbeiterkinderchor
Die singen den Refrain dann ihren arbeitlosen Eltern vor.
Es singen schon die Angestellten, die Studenten und die Bauern.
Bald singens sogar die, die noch um Ludwig Ehrhard trauern.
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat uns verraten? Wer hat uns verkauft?
Wer hat uns schlecht beraten? Sozialdemokraten!
Die haben gesagt wir helfen euch, und so viele haben ihnen geglaubt.
Karl Liebknecht hatte diesen Spruch auf seinem Schreibtisch stehn.
Und er hängt als Poster heut bei Oskar Lafontaine.
Und auch in Schleswig-Holstein versteht man gut den Sinn
Dort flüstersts Heise Simonis beim Tango vor sich hin.
Wer hat mich verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat mich verraten? Wer hat mich verkauft?
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Die haben uns verraten und die haben uns auch verkauft.
Und die Neuwahl die haben die verloren, damit muss man sich ja befassen
Jetzt kann man endlich aus vollstem Herzen die Regierung wieder hassen.
Ja das Schiff das ist am sinken und die Ratten die flohen sofort.
Doch sie kamen wieder zurück und brachten die schwarze Pest an Bord.
Wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Das waren doch, sag mal waren das nicht… Sozialdemokraten.
Das waren die Sozialdemokraten, die haben uns verraten.
Die haben uns verraten, die haben uns verkauft.
Der Sozialstaat und der Sozialismus die sind beide tot.
Übrig sind nur hohle Phrasen und literweise rot.
Und wer steht an ihren Gräbern und hält lächelnd noch die Spaten?
Sagt nichts, lasst mich raten… Sozialdemokraten.
Und das ganze schöne Geld, wer hats an die Reichen verbraten?
Das waren doch, sag mal waren das nicht… Sozialdemokraten.
Wer hat uns verraten, wer hat so viel Geld?
Wer hat so viel PinkePinke, wer hat das bestellt?
Ja, wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Ja, wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Wer, wer, wer, wer, wer hat uns verkauft?
Es gibt da sonen Spruch von den alten Kommunisten
Mit dem die 1918 ihre falschen Freunde dissten.
Natürlich hamwa heute ne andere politische Lage.
Doch trotzdem passt der Spruch irgendwie in unsre Tage.
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat uns verraten? Wer hat uns verkauft?
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Die haben uns verraten und die haben uns auch verkauft.
Ich glaub ich mach ein Lied daraus mit nem Arbeiterkinderchor
Die singen den Refrain dann ihren arbeitlosen Eltern vor.
Es singen schon die Angestellten, die Studenten und die Bauern.
Bald singens sogar die, die noch um Ludwig Ehrhard trauern.
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat uns verraten? Wer hat uns verkauft?
Wer hat uns schlecht beraten? Sozialdemokraten!
Die haben gesagt wir helfen euch, und so viele haben ihnen geglaubt.
Karl Liebknecht hatte diesen Spruch auf seinem Schreibtisch stehn.
Und er hängt als Poster heut bei Oskar Lafontaine.
Und auch in Schleswig-Holstein versteht man gut den Sinn
Dort flüstersts Heise Simonis beim Tango vor sich hin.
Wer hat mich verraten? Sozialdemokraten!
Wer hat mich verraten? Wer hat mich verkauft?
Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Die haben uns verraten und die haben uns auch verkauft.
Und die Neuwahl die haben die verloren, damit muss man sich ja befassen
Jetzt kann man endlich aus vollstem Herzen die Regierung wieder hassen.
Ja das Schiff das ist am sinken und die Ratten die flohen sofort.
Doch sie kamen wieder zurück und brachten die schwarze Pest an Bord.
Wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Das waren doch, sag mal waren das nicht… Sozialdemokraten.
Das waren die Sozialdemokraten, die haben uns verraten.
Die haben uns verraten, die haben uns verkauft.
Der Sozialstaat und der Sozialismus die sind beide tot.
Übrig sind nur hohle Phrasen und literweise rot.
Und wer steht an ihren Gräbern und hält lächelnd noch die Spaten?
Sagt nichts, lasst mich raten… Sozialdemokraten.
Und das ganze schöne Geld, wer hats an die Reichen verbraten?
Das waren doch, sag mal waren das nicht… Sozialdemokraten.
Wer hat uns verraten, wer hat so viel Geld?
Wer hat so viel PinkePinke, wer hat das bestellt?
Ja, wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Ja, wer, wer, wer, wer, wer hat uns verraten?
Wer, wer, wer, wer, wer hat uns verkauft?
Toll, Milan,
den Kling mag ich auch sehr gerne, noch lieber (fast), wenn er den Text als Lied singt, was er ja kann.
Und nun, nehmt es mir nicht übel, weil wir ja eigentlich hier in diesem Thread ohne Ton sind, aber nun muss uns Marc Uwe Kling das Lied auch singen.
Und das tut er auch, in leicht veränderter textlicher Form, hier:
Als freiwillige Buße stelle ich auch wieder einen Text hier ein.
Gruß von Enigma
den Kling mag ich auch sehr gerne, noch lieber (fast), wenn er den Text als Lied singt, was er ja kann.
Und nun, nehmt es mir nicht übel, weil wir ja eigentlich hier in diesem Thread ohne Ton sind, aber nun muss uns Marc Uwe Kling das Lied auch singen.
Und das tut er auch, in leicht veränderter textlicher Form, hier:
Als freiwillige Buße stelle ich auch wieder einen Text hier ein.
Gruß von Enigma
Selten so gelacht!
Kürzlich habe ich etwas über die Buch-Illustratorin Rotraut Susanne Berner gelesen und rief mir dann interessehalber ihre Kurzbiografie bei Wikipedia auf, um noch mehr über Frau Berner zu erfahren.
Ganz zweifellos gehört sie auch über den deutschen Sprachraum hinaus zu den international bekannten Illustratorinnen und Buchgestalterinnen.
Sehr bekannt sollen ihre sogenannten “Wimmelbücher” sein.
Und jetzt kommt`s:
2007 ging eine Lizenzanfrage der amerikanischen Boyds-Mills-Press beim Verlag von Frau Berner ein, die zunächst an einem guten Geschäft interessiert war, aber dann aus dem Staunen über die Auflagen nicht mehr herauskam. Die Amerikaner hatten nämlich gefordert, dass aus den Büchern alle Raucher entfernt werden sollten, und zudem wollten sie in einer Museumsszene einen weiblichen Akt und eine kleine nackte männliche Skulptur (im Original 7 mm groß) entfernt haben.
Da verzichtete Frau Berner, die zunächst an einen Scherz geglaubt hatte, lieber auf das lukrative Angebot.
Inzwischen hat aber der US-Verlag Chronicle Books die Buchreihe im Herbst 2008 unzensiert veröffentlicht.
Ja, das geschah im 21. Jahrhundert in den sittenstrengen USA. Da hatte sich zunächst mal wieder die starke Lobby der Moralwächter durchgesetzt, aber glücklicherweise nicht endgültig.
Einen bebilderten Artikel von Herbert Debes mit dem Titel “Die Angst der Amerikaner vor dem Pimmelchen” aus dem Jahre 2007 stelle ich mal ein, hier:
Da habt Ihr vielleicht auch was zu lachen.
Gruß von Enigma
Kürzlich habe ich etwas über die Buch-Illustratorin Rotraut Susanne Berner gelesen und rief mir dann interessehalber ihre Kurzbiografie bei Wikipedia auf, um noch mehr über Frau Berner zu erfahren.
Ganz zweifellos gehört sie auch über den deutschen Sprachraum hinaus zu den international bekannten Illustratorinnen und Buchgestalterinnen.
Sehr bekannt sollen ihre sogenannten “Wimmelbücher” sein.
Und jetzt kommt`s:
2007 ging eine Lizenzanfrage der amerikanischen Boyds-Mills-Press beim Verlag von Frau Berner ein, die zunächst an einem guten Geschäft interessiert war, aber dann aus dem Staunen über die Auflagen nicht mehr herauskam. Die Amerikaner hatten nämlich gefordert, dass aus den Büchern alle Raucher entfernt werden sollten, und zudem wollten sie in einer Museumsszene einen weiblichen Akt und eine kleine nackte männliche Skulptur (im Original 7 mm groß) entfernt haben.
Da verzichtete Frau Berner, die zunächst an einen Scherz geglaubt hatte, lieber auf das lukrative Angebot.
Inzwischen hat aber der US-Verlag Chronicle Books die Buchreihe im Herbst 2008 unzensiert veröffentlicht.
Ja, das geschah im 21. Jahrhundert in den sittenstrengen USA. Da hatte sich zunächst mal wieder die starke Lobby der Moralwächter durchgesetzt, aber glücklicherweise nicht endgültig.
Einen bebilderten Artikel von Herbert Debes mit dem Titel “Die Angst der Amerikaner vor dem Pimmelchen” aus dem Jahre 2007 stelle ich mal ein, hier:
Da habt Ihr vielleicht auch was zu lachen.
Gruß von Enigma
Lied der Arbeitslosen ("Stempellied")
Text: David Weber (= Robert Gilbert); Musik: Hanns Eisler
STEMPELLIED 1929 - jetzt auch 2010
Keenen Sechser in der Tasche,
bloß 'n Stempelschein.
Durch die Löcher der Kledaasche
kiekt die Sonne rein.
Mensch, so stehste vor der Umwelt
jänzlich ohne was;
wenn dein Leichnam plötzlich umfällt,
wird keen Ooge naß.
Keene Molle schmeißt der Olle,
wenn er dir so sieht ..-.. Tscha
die Lage sieht sehr flau aus,
bestenfalls im Leichenschauhaus
haste noch Kredit.
Stellste dir zum Stempeln an
wird det Elend nich behoben. –
Wer hat dir, du armer Mann,
abjebaut so hoch da droben?
Ohne Arbeit, ohne Bleibe
biste null und nischt.
Wie 'ne Fliege von der Scheibe
wirste wegjewischt.
Ohne Pinke an der Panke
stehste machtlos da,
und der Burschoa sagt: Danke!
rückste ihm zu nah.
Äußerst schnell schafft
die Jesellschaft Menschen uff 'n Müll –
Wenn de hungerst, halt de Fresse;
denn sonst kriegste 'ne Kompresse –
und das mit Jebrüll.
Stellste dir zu pampich an,
setzt et jleich 'n Wink von oben –
denn es hab 'n dich armen Mann
abjebaut die hoch da droben.
Und so kieken dir de Knochen
sachte aus der Haut.
Und du bist in wen'gen Wochen
völlig abjebaut.
Und du koofst dir een paar Latten
für 'ne letzte Mark;
denn für eenen dünnen Schatten
reicht 'n dünner Sarg.
Nur nich drängeln
zu die Engeln
kommste noch zur Zeit.
„Holde Rationalisierung“
singt dir de Jewerkschaftsführung
sinnig zum Geleit.
Stell dir vorsichtshalber dann
Jleich zum Stempeln an auch oben –
denn du bleibst, als armer Mann,
abjebaut auch hoch da droben.
Text: David Weber (= Robert Gilbert); Musik: Hanns Eisler
STEMPELLIED 1929 - jetzt auch 2010
Keenen Sechser in der Tasche,
bloß 'n Stempelschein.
Durch die Löcher der Kledaasche
kiekt die Sonne rein.
Mensch, so stehste vor der Umwelt
jänzlich ohne was;
wenn dein Leichnam plötzlich umfällt,
wird keen Ooge naß.
Keene Molle schmeißt der Olle,
wenn er dir so sieht ..-.. Tscha
die Lage sieht sehr flau aus,
bestenfalls im Leichenschauhaus
haste noch Kredit.
Stellste dir zum Stempeln an
wird det Elend nich behoben. –
Wer hat dir, du armer Mann,
abjebaut so hoch da droben?
Ohne Arbeit, ohne Bleibe
biste null und nischt.
Wie 'ne Fliege von der Scheibe
wirste wegjewischt.
Ohne Pinke an der Panke
stehste machtlos da,
und der Burschoa sagt: Danke!
rückste ihm zu nah.
Äußerst schnell schafft
die Jesellschaft Menschen uff 'n Müll –
Wenn de hungerst, halt de Fresse;
denn sonst kriegste 'ne Kompresse –
und das mit Jebrüll.
Stellste dir zu pampich an,
setzt et jleich 'n Wink von oben –
denn es hab 'n dich armen Mann
abjebaut die hoch da droben.
Und so kieken dir de Knochen
sachte aus der Haut.
Und du bist in wen'gen Wochen
völlig abjebaut.
Und du koofst dir een paar Latten
für 'ne letzte Mark;
denn für eenen dünnen Schatten
reicht 'n dünner Sarg.
Nur nich drängeln
zu die Engeln
kommste noch zur Zeit.
„Holde Rationalisierung“
singt dir de Jewerkschaftsführung
sinnig zum Geleit.
Stell dir vorsichtshalber dann
Jleich zum Stempeln an auch oben –
denn du bleibst, als armer Mann,
abjebaut auch hoch da droben.
Danke, Milan,
ich habe auch noch einen Text, den man mit Fug und Recht als zeitkritisch bezeichnen kann, gerichtet als Brief an den damaligen Kaiser Wilhelm II.:
Klabund
(Alfred Henschke)
Offener Brief
an Kaiser Wilhelm II.
"Majestät!
Mehr als Sie in Ihrer politischen und menschlichen Vereinsamung und Einsamkeit ahnen: flehend, werbend, fordernd sind die Blicke der ganzen Welt auf Sie gerichtet. Mag die Ihnen feindliche Presse noch immer in Ihnen den Vandalen und Barbaren an die Wand malen, mögen unfähige und fade Diplomaten und Staatsmänner, die besser als Staatskrüppel gekennzeichnet wären, noch immer den irren Plan hegen, den Teufel Militarismus durch den Beelzebub Imperialismus, den Unterteufel Mechanismus durch den Oberteufel Rationalismus auszutreiben: in allen Ländern blicken die Augen der Menschen, die Menschen geblieben sind, blicken auch die Augen der Muschiks, Poilus, Tommys, Hecht- und Feldgrauen und Olivgrünen auf Sie. Denn Sie, Majestät, haben es in der Hand, der Welt den baldigen Frieden zu geben... Sie berufen sich darauf, daß Sie im November vorigen Jahres schon einmal bereit waren »zum Frieden«. In der Tat: Sie streckten dem Feind die Hand zum Frieden hin – aber die Hand war zur Faust gekrampft und war keine menschliche, blutdurchpulste Hand. Es war die eiserne Faust des Götz von Berlichingen.
Majestät: erkennen Sie die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewigkeit! Erkennen Sie, daß alle, gleichviel welche, Machtideen in diesem Kriege Schiffbruch gelitten haben. Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muß es vorbei sein mit den Prinzipien der Macht und ihren »Untergebenen«: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzendienerei, Byzantinismus, Mammonismus... (welch letztere beide immer parasitär nebeneinander wuchern).
Majestät, Ihre Osterbotschaft hat die Herzen der Deutschen erhellt und die Stirnen mit einem schwachen Strahle zukünftigen Lichtes beglänzt. Begreifen Sie aber, daß man zu einem Volk, das frei sein will und das man ehrt und achtet – als Freier zu den Freien sprechen sollte. Sie aber sprachen freiherrlich. Noch immer spukt in den öffentlichen und geheimen Kabinetten Berlins das »Untertanenprinzip.« Und Sie waren schlecht beraten, als Sie die Osterbotschaft auf den Ton der Gnade stimmten. Rechte, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren.
Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Errichten Sie das wahre Volkskönigtum der Hohenzollern. Machen Sie sich frei von den Ahnen; frei von dem Wahne, als könnten Sie sich auf eine kleine kapitalistisch-junkerliche Sippe, die Beamtentum und oberes Offizierskorps aus sich »rekrutiert«, stützen, die paukend und trompetend den Schmerzensschrei des Volkes übertönt. Die in Wahrheit den Thron zerspellen und den geblendeten Simson solange peinigen wird, bis er einst die Säulen des Staates stürzt.
Jetzt, Majestät, sind Sie ein Schattenkaiser! Denn Sie stehen im Schatten der autokratischen Barone und plutokratischen Munitionsfabrikanten. Seien Sie Sie selbst: offenbaren Sie sich als erlauchter Christ, indem Sie dem Volk, dessen Diener Sie sein wollen (vergessen sei Ihre Inschrift in das Münchner Goldene Buch: regis voluntas suprema lex: Sie büßen sie willig...), aus einem übervollen Herzen der Liebe heraus die Freiheit seines Willens und seiner Seele schenken. Frei-willig schenken. Als Gnade nicht: als von einer mit dem Volke gleichen Stufe der Rechtlichkeit und Genossenschaft. Des wechselseitigen Vertrauens. Der Brüderlichkeit. Was für ein unbeschreiblicher himmlischer Jubel würde durch die Lande gehen, wenn es hieße: Wilhelm II. verzichtet auf das veraltete, unheilvolle, unmenschliche Recht, allein unfehlbar über Krieg und Frieden zu entscheiden. Er bedarf der Mitarbeit, der Zustimmung des Volkes bei solchen, das Volkswohl betreffenden, schwerwiegendsten Entschlüssen. Er will nicht mehr der Herr, er will der Diener der deutschen Seele sein. Das Heer werde künftig vereidigt auf den Namen des Vaterlandes. Denn es ist ein Volksheer. Unverzüglich sollen Abgeordnetenhaus und Reichstag zusammentreten, die Umgestaltung der Verfassung vorzubereiten: daß unter dem gleichen, direkten, allgemeinen Proporzwahlrecht, in welchem die Majoritäten nicht mehr vergewaltigt, die Minoritäten nicht unterdrückt werden können, ein parlamentarisch und demokratisch regiertes Reich erstehe, in dem die Minister vom Volkswillen ernannt und getragen und vor ihm und nicht vor einem einzelnen mehr verantwortlich sind.
Denn das deutsche Volk ist in Jahren unsagbaren Leidens gereift und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.
Majestät! Lastet das Gefühl der grenzenlosen Verantwortlichkeit in schlaflosen Nächten nicht manchmal schwer auf Ihnen? Wie leicht würden Sie die Bürde erfinden, wenn das Volk selbst Ihnen hülfe, sie zu tragen, teilhabend an der Verantwortung, weil teilhabend an der Regierung.
Majestät, Sie haben es in der Hand, den Frieden baldigst zu beschwören.
Der Friede eines solchen Krieges kann nicht geschlossen werden: zwischen den vom Volk gewählten und vor dem Volk verantwortlichen Leitern freiheitlich regierter Länder einerseits und zwischen einem einzig autoritären Manne anderseits, der verfassungsmäßig der einzig befugte zum Friedensschluß ist und seine Macht nicht direkt vom Volk, sondern von der übernatürlichen, übermenschlichen Idee des Gottesgnadentums empfing. Die neue russische Regierung und Wilson in Amerika – die friedensfreundlichsten Ihrer Feinde –, sie warten nur darauf, daß Sie den Weg zur Freiheit Ihres Volkes beschreiten, der es ihnen ermöglichen würde, die Stimme dieses Volkes zu hören und mit seinen Erwählten zu verhandeln.
Denn darauf kommt es an: eine Basis zu finden, wo Mensch zum Menschen sprechen kann. Nicht: Fürst zum Untertanen. Nicht: Herr zum Diener. Nicht: Feind mehr zum Feinde.
Republik ist nur ein Wort: Wilson und Kerenski denken nicht daran, sie für Deutschland zu propagieren. Sie wollen nur mit einer vor dem Volke verantwortlichen Regierung Frieden schließen: einen Frieden, den das ganze Volk vertritt.
Die innerpolitische Frage in Deutschland – erkennen Sie das, Majestät! – ist die wichtigste, um zu einem nahen Frieden zu gelangen. Bei weitem wichtiger als irgendein wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Sieg im Westen, den die deutsche Heeresleitung vielleicht noch immer für möglich hält. Denn in einem künftigen Weltreich – es wird nur mehr einen Imperialismus der Menschlichkeit geben – wird es nicht mehr ankommen auf militärische Erfolge. Das militärische Zeitalter, in dem es noch möglich war, Kriege durch Waffen zu entscheiden, geht seinem Ende entgegen. Schon heute kämpfen nicht mehr die Heere, sondern die Völker gegeneinander.
Wichtiger als Soldatenmacht ist Wirtschaftsmacht: Kulturmacht.
Seien Sie der erste Fürst, der freiwillig auf seine fiktiven Rechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Ihr Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Koalitions-, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werden Sie das Volkskönigtum der Hohenzollern auf Felsen gründen; während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.
Ich bin Euer Majestät ergebenster "
ich habe auch noch einen Text, den man mit Fug und Recht als zeitkritisch bezeichnen kann, gerichtet als Brief an den damaligen Kaiser Wilhelm II.:
Klabund
(Alfred Henschke)
Offener Brief
an Kaiser Wilhelm II.
"Majestät!
Mehr als Sie in Ihrer politischen und menschlichen Vereinsamung und Einsamkeit ahnen: flehend, werbend, fordernd sind die Blicke der ganzen Welt auf Sie gerichtet. Mag die Ihnen feindliche Presse noch immer in Ihnen den Vandalen und Barbaren an die Wand malen, mögen unfähige und fade Diplomaten und Staatsmänner, die besser als Staatskrüppel gekennzeichnet wären, noch immer den irren Plan hegen, den Teufel Militarismus durch den Beelzebub Imperialismus, den Unterteufel Mechanismus durch den Oberteufel Rationalismus auszutreiben: in allen Ländern blicken die Augen der Menschen, die Menschen geblieben sind, blicken auch die Augen der Muschiks, Poilus, Tommys, Hecht- und Feldgrauen und Olivgrünen auf Sie. Denn Sie, Majestät, haben es in der Hand, der Welt den baldigen Frieden zu geben... Sie berufen sich darauf, daß Sie im November vorigen Jahres schon einmal bereit waren »zum Frieden«. In der Tat: Sie streckten dem Feind die Hand zum Frieden hin – aber die Hand war zur Faust gekrampft und war keine menschliche, blutdurchpulste Hand. Es war die eiserne Faust des Götz von Berlichingen.
Majestät: erkennen Sie die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewigkeit! Erkennen Sie, daß alle, gleichviel welche, Machtideen in diesem Kriege Schiffbruch gelitten haben. Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muß es vorbei sein mit den Prinzipien der Macht und ihren »Untergebenen«: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzendienerei, Byzantinismus, Mammonismus... (welch letztere beide immer parasitär nebeneinander wuchern).
Majestät, Ihre Osterbotschaft hat die Herzen der Deutschen erhellt und die Stirnen mit einem schwachen Strahle zukünftigen Lichtes beglänzt. Begreifen Sie aber, daß man zu einem Volk, das frei sein will und das man ehrt und achtet – als Freier zu den Freien sprechen sollte. Sie aber sprachen freiherrlich. Noch immer spukt in den öffentlichen und geheimen Kabinetten Berlins das »Untertanenprinzip.« Und Sie waren schlecht beraten, als Sie die Osterbotschaft auf den Ton der Gnade stimmten. Rechte, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren.
Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Errichten Sie das wahre Volkskönigtum der Hohenzollern. Machen Sie sich frei von den Ahnen; frei von dem Wahne, als könnten Sie sich auf eine kleine kapitalistisch-junkerliche Sippe, die Beamtentum und oberes Offizierskorps aus sich »rekrutiert«, stützen, die paukend und trompetend den Schmerzensschrei des Volkes übertönt. Die in Wahrheit den Thron zerspellen und den geblendeten Simson solange peinigen wird, bis er einst die Säulen des Staates stürzt.
Jetzt, Majestät, sind Sie ein Schattenkaiser! Denn Sie stehen im Schatten der autokratischen Barone und plutokratischen Munitionsfabrikanten. Seien Sie Sie selbst: offenbaren Sie sich als erlauchter Christ, indem Sie dem Volk, dessen Diener Sie sein wollen (vergessen sei Ihre Inschrift in das Münchner Goldene Buch: regis voluntas suprema lex: Sie büßen sie willig...), aus einem übervollen Herzen der Liebe heraus die Freiheit seines Willens und seiner Seele schenken. Frei-willig schenken. Als Gnade nicht: als von einer mit dem Volke gleichen Stufe der Rechtlichkeit und Genossenschaft. Des wechselseitigen Vertrauens. Der Brüderlichkeit. Was für ein unbeschreiblicher himmlischer Jubel würde durch die Lande gehen, wenn es hieße: Wilhelm II. verzichtet auf das veraltete, unheilvolle, unmenschliche Recht, allein unfehlbar über Krieg und Frieden zu entscheiden. Er bedarf der Mitarbeit, der Zustimmung des Volkes bei solchen, das Volkswohl betreffenden, schwerwiegendsten Entschlüssen. Er will nicht mehr der Herr, er will der Diener der deutschen Seele sein. Das Heer werde künftig vereidigt auf den Namen des Vaterlandes. Denn es ist ein Volksheer. Unverzüglich sollen Abgeordnetenhaus und Reichstag zusammentreten, die Umgestaltung der Verfassung vorzubereiten: daß unter dem gleichen, direkten, allgemeinen Proporzwahlrecht, in welchem die Majoritäten nicht mehr vergewaltigt, die Minoritäten nicht unterdrückt werden können, ein parlamentarisch und demokratisch regiertes Reich erstehe, in dem die Minister vom Volkswillen ernannt und getragen und vor ihm und nicht vor einem einzelnen mehr verantwortlich sind.
Denn das deutsche Volk ist in Jahren unsagbaren Leidens gereift und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.
Majestät! Lastet das Gefühl der grenzenlosen Verantwortlichkeit in schlaflosen Nächten nicht manchmal schwer auf Ihnen? Wie leicht würden Sie die Bürde erfinden, wenn das Volk selbst Ihnen hülfe, sie zu tragen, teilhabend an der Verantwortung, weil teilhabend an der Regierung.
Majestät, Sie haben es in der Hand, den Frieden baldigst zu beschwören.
Der Friede eines solchen Krieges kann nicht geschlossen werden: zwischen den vom Volk gewählten und vor dem Volk verantwortlichen Leitern freiheitlich regierter Länder einerseits und zwischen einem einzig autoritären Manne anderseits, der verfassungsmäßig der einzig befugte zum Friedensschluß ist und seine Macht nicht direkt vom Volk, sondern von der übernatürlichen, übermenschlichen Idee des Gottesgnadentums empfing. Die neue russische Regierung und Wilson in Amerika – die friedensfreundlichsten Ihrer Feinde –, sie warten nur darauf, daß Sie den Weg zur Freiheit Ihres Volkes beschreiten, der es ihnen ermöglichen würde, die Stimme dieses Volkes zu hören und mit seinen Erwählten zu verhandeln.
Denn darauf kommt es an: eine Basis zu finden, wo Mensch zum Menschen sprechen kann. Nicht: Fürst zum Untertanen. Nicht: Herr zum Diener. Nicht: Feind mehr zum Feinde.
Republik ist nur ein Wort: Wilson und Kerenski denken nicht daran, sie für Deutschland zu propagieren. Sie wollen nur mit einer vor dem Volke verantwortlichen Regierung Frieden schließen: einen Frieden, den das ganze Volk vertritt.
Die innerpolitische Frage in Deutschland – erkennen Sie das, Majestät! – ist die wichtigste, um zu einem nahen Frieden zu gelangen. Bei weitem wichtiger als irgendein wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Sieg im Westen, den die deutsche Heeresleitung vielleicht noch immer für möglich hält. Denn in einem künftigen Weltreich – es wird nur mehr einen Imperialismus der Menschlichkeit geben – wird es nicht mehr ankommen auf militärische Erfolge. Das militärische Zeitalter, in dem es noch möglich war, Kriege durch Waffen zu entscheiden, geht seinem Ende entgegen. Schon heute kämpfen nicht mehr die Heere, sondern die Völker gegeneinander.
Wichtiger als Soldatenmacht ist Wirtschaftsmacht: Kulturmacht.
Seien Sie der erste Fürst, der freiwillig auf seine fiktiven Rechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Ihr Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Koalitions-, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werden Sie das Volkskönigtum der Hohenzollern auf Felsen gründen; während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.
Ich bin Euer Majestät ergebenster "
Enigma, ich las das eben:
es hat mich sehr berührt!
Aber: waren nicht die Menschen (wieviele, weiss ich natürlich nicht) damals g e r n e "Untertanen" ??!
Mein Vater war Jahrgang 1896.
Ich danke dir, M
es hat mich sehr berührt!
Aber: waren nicht die Menschen (wieviele, weiss ich natürlich nicht) damals g e r n e "Untertanen" ??!
Mein Vater war Jahrgang 1896.
Ich danke dir, M
Hallo Marianne,
ja, das weiß ich auch nicht, ob die Menschen früher “gerne Untertanen” waren, wenn ja, dann vielleicht eher gewohnheitsmäßig als aus eigener Überzeugung, weil sie es nicht anders kannten?
Lebende Zeitzeugen gibt es ja kaum noch, die man darüber befragen könnte.
Also kann man sich eigentlich nur noch an Schilderungen aus der Literatur orientieren.
Allerdings hat eine meiner Großmütter (geboren 1891) noch den letzten deutschen Kaiser persönlich erlebt und selbst sehr lange gelebt. Sie ist im Alter von 94 Jahren gestorben, mit ihr konnte ich noh über diese Zeit sprechen.
Allerdings war da nie eine nachhaltige Begeisterung für die kaiserliche Regentschaft feststellbar. Von einem Kaiser, der für sich in Anspruch genommen hat, dass er “von Gottes Gnaden” für dieses hohe Amt ausersehen war, schien sie nicht sonderlich beeindruckt gewesen zu sein.
Aber die Menschen zu der Zeit hatten ja auch ziemlich damit zu tun, ihre eigenen Probleme zu lösen.
Gruß von Enigma
ja, das weiß ich auch nicht, ob die Menschen früher “gerne Untertanen” waren, wenn ja, dann vielleicht eher gewohnheitsmäßig als aus eigener Überzeugung, weil sie es nicht anders kannten?
Lebende Zeitzeugen gibt es ja kaum noch, die man darüber befragen könnte.
Also kann man sich eigentlich nur noch an Schilderungen aus der Literatur orientieren.
Allerdings hat eine meiner Großmütter (geboren 1891) noch den letzten deutschen Kaiser persönlich erlebt und selbst sehr lange gelebt. Sie ist im Alter von 94 Jahren gestorben, mit ihr konnte ich noh über diese Zeit sprechen.
Allerdings war da nie eine nachhaltige Begeisterung für die kaiserliche Regentschaft feststellbar. Von einem Kaiser, der für sich in Anspruch genommen hat, dass er “von Gottes Gnaden” für dieses hohe Amt ausersehen war, schien sie nicht sonderlich beeindruckt gewesen zu sein.
Aber die Menschen zu der Zeit hatten ja auch ziemlich damit zu tun, ihre eigenen Probleme zu lösen.
Gruß von Enigma
Wir sind Kinder einer Erde
Worte: Volker Ludwig
Weise: Birger Heymann
1. Wir sind Kinder einer Erde,
die genug für alle hat.
Doch zu viele haben Hunger,
und zu wenige sind satt.
Viele Kinder fremder Länder
sind in unsrer Stadt zu Haus.
Wir sind Kinder einer Erde,
doch was machen wir daraus?
Ihre Welt ist auch die unsre,
sie ist hier und nebenan.
Und wir wollen sie verändern,
kommt wir fangen bei uns an!
2. Einer praßt, die andern zahlen,
das war bisher immer gleich.
Nur weil viele Länder arm sind,
sind die reichen Länder reich.
Viele Kinder fremder Länder ...
3. Wir sind Kinder einer Erde,
doch wir sind nicht alle frei.
Denn in vielen Ländern herrschen
Militär und Polizei.
Viele Kinder fremder Länder ...
4. Viele sitzen im Gefängnis,
Angst regiert von spät bis früh.
Wir sind Kinder einer Erde,
aber tun wir was für sie?
Viele Kinder fremder Länder ..
Worte: Volker Ludwig
Weise: Birger Heymann
1. Wir sind Kinder einer Erde,
die genug für alle hat.
Doch zu viele haben Hunger,
und zu wenige sind satt.
Viele Kinder fremder Länder
sind in unsrer Stadt zu Haus.
Wir sind Kinder einer Erde,
doch was machen wir daraus?
Ihre Welt ist auch die unsre,
sie ist hier und nebenan.
Und wir wollen sie verändern,
kommt wir fangen bei uns an!
2. Einer praßt, die andern zahlen,
das war bisher immer gleich.
Nur weil viele Länder arm sind,
sind die reichen Länder reich.
Viele Kinder fremder Länder ...
3. Wir sind Kinder einer Erde,
doch wir sind nicht alle frei.
Denn in vielen Ländern herrschen
Militär und Polizei.
Viele Kinder fremder Länder ...
4. Viele sitzen im Gefängnis,
Angst regiert von spät bis früh.
Wir sind Kinder einer Erde,
aber tun wir was für sie?
Viele Kinder fremder Länder ..
Joachim Gauck - Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten
Die Rede im Deutschen Theater
Freiheit - Verantwortung - Gemeinsinn - Wir in unserem Staat
22. Juni 2010
Hier der Beginn der Rede:
„Wenn ich mich Ihnen vorstelle, möchte ich meine Leitgedanken, meine politischen Schwerpunkte und Ziele nicht in Thesen fassen. Vielmehr möchte ich von Erfahrungen sprechen, die mich geprägt haben und den aus mir gemacht haben, der heute vor Ihnen steht. Es sind Erfahrungen, die die Leidenschaft für Freiheit, Demokratie und Recht in meinem Leben verankert haben.
Über der ersten Begegnung mit dem Leben könnte ein Titel von Thomas Mann stehen: „Unruhe und frühes Leid“. In meiner Kindheit war Krieg. Ich selbst bin der elementaren Bedrohung nur einmal begegnet, im Keller meines Großvaters. Die Bombe fiel damals nicht auf unser Haus, aber die Angst vor Tod und Zerstörung kam zu mir über die Augen der Erwachsenen. Sie kam auch bei Kriegsende zu mir über die Erwachsenen, als Männer abgeholt wurden, zum Arbeiten oder zum Erschießen, und als Frauen und Mädchen ihre Körper verhüllten und sich der Schrecken auf ihren Gesichtern spiegelte.
Ich bin 1940 geboren. An den Glanz in den Augen der Verführten, die jubelten, als ihr Führer aller Welt Angst machte, kann ich mich nicht erinnern. Ich erinnere mich erst an die Angstaugen, als der Krieg verloren war und Deutschland einem schrecklichen Ende entgegen ging. Und das Kind lernte: Da draußen ist es zum Fürchten.
Sechs Jahre später wurde mein Vater abgeholt. Er verschwand in Sibirien wie Abertausende, die denunziert und ohne jedes Vergehen bestraft wurden. Mein Vater hatte Glück. Nach fünf Jahren kehrte er zurück. Arno Esch und andere freiheitsliebende Jugendliche sind in Moskau erschossen worden. Meine Großmutter, meine Mutter, meine kleinen Geschwister und ich, sowie all die anderen Familien, die sich der neuen Zeit verweigerten - wir spürten: Da draußen ist es zum Fürchten.
Als mir Krieg, Diktatur, wieder Diktatur, Willkür und Rechtlosigkeit begegneten, war es die mütterliche Liebe, die dem kleinen Jungen, der sich ohnmächtig fühlte, letztlich das Zutrauen in sich selbst und in das Leben schenkte. Hass und Niedertracht um mich herum waren nicht ausgelöscht, aber ich wurde überlebensfähig. So erkannte ich im Nachhinein: Lange bevor Widerstand, Opposition oder Eigensinn gelebt werden, müssen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Deshalb sind Eltern und frühkindliche ermächtigende Erziehung so unglaublich wichtig.
Es war kein Zufall, dass ich mit zwölf Jahren dem Freiheitspathos von Friedrich Schiller verfiel, mit dreizehn Jahren wie ein Fiebernder am Radiogerät die Ereignisse des 17. Juni verfolgte und mit sechzehn am liebsten bei der Revolution in Ungarn mitgekämpft hätte.
Bis zu meinem 22. Lebensjahr war der Westen noch erreichbar. Ich fuhr hin, viele andere auch, an Wochenenden und in den Ferien. Die Demokratie dort war nicht perfekt, aber lebendig. Die Menschen wählten ihre Regierenden, sie lasen unterschiedliche Zeitungen, sie besaßen Gewerkschaften, die kämpften, es gab Bücher und Schallplatten, die bei uns verboten waren. Die Freiheit, die wir dort fanden, beflügelte uns. Auf Reisen im Westen tankten wir auf, um den Alltag im Osten besser zu bestehen.
Nach 1961 aber konnten wir nicht mehr zwischen dem Bleiben in der Heimat auch unter kommunistischer Herrschaft oder dem Neubeginn in der ersehnten, aber fremden Freiheit wählen. Der Ausweg war uns versperrt. Das Bild vom Westen setzte sich nur umso fester in unserem Innern fest. Sehnsucht nistete sich in unseren Herzen ein. Das wirkliche Westdeutschland entwickelte sich in eine uns unbekannte, von vielen Widersprüchen und Mängeln geprägte Richtung, unsere innere Wirklichkeit hingegen verklärte den abgetrennten Teil zu einem Staat ohne Runzeln und Abgründe. Wir haben die Freiheit idealisiert, die wir nicht besaßen.
Im eigenen Land trug die Freiheitsliebe einen Tarnanzug. Sie zitierte Heine, sie zitierte Schiller, sprach von der Französischen Revolution, siedelte - wie schon in der braunen Diktatur - in Innenräumen. „Die Gedanken sind frei“ sangen wir in der Kirche und in der Familie. Um uns herum gab es gleich gesinnte Freundeskreise, Kirchgemeinden, Cliquen, die Jugendgruppen der Kirchen.
Ich suchte Botschafter der geistigen Freiheit auch in der Diktatur. Immer wieder waren es Christen und Kirchenvertreter wie mein mecklenburgischer Landesbischof Heinrich Rathke, die mir Wegweisung und Mut gaben. Sie ließen mich glauben, dass die Wahrheit - ethisch wie politisch - nicht bei der Mehrheit sein muss. Wir erlernten damals die Minderheitenexistenz. Und indem wir sie annahmen, annehmen mussten, verloren wir zwar allerhand - aber nicht uns selbst.
Uns selber treu zu bleiben, halfen uns auch die, deren Ermutigung uns selbst noch erreichte, als die Staatsmacht sie außer Landes getrieben hatte. Wolf Biermann, Günter Kuhnert, Reiner Kunze, Erich Loest, Sarah Kirsch - um nur einige zu nennen - , deren Worte und Lieder versteckt in Koffern, Handtaschen oder über Diplomatenpost die Mauer überwanden. Wir fanden Trost und Zuspruch auch bei Martin Luther King - ich begegnete diesem Ermutiger persönlich in den sechziger Jahren in der Berliner Marienkirche: „I have a dream.“ Ähnliche Botschaften drangen aus der Ferne auch von Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, von Vaclav Havel und den Widerständigen aus der polnischen Solidarnosc zu uns. Und mochte Nelson Mandela am anderen Ende der Welt auch in seiner Zelle in Robben Island gefangen sein, so fühlten wir uns doch mit seiner Freiheitsbotschaft verbunden. Später, in der Rückschau erkannte ich die Bedeutung dieser realen und der Begegnungen im Geiste: Widerstand IST nicht, Widerstand WIRD.(...)
Bei Interesse weiterlesen oder anhören
hier:
Pressestimmen sind auf der gleichen Seite einsehbar.
Gruß von Enigma
Die Rede im Deutschen Theater
Freiheit - Verantwortung - Gemeinsinn - Wir in unserem Staat
22. Juni 2010
Hier der Beginn der Rede:
„Wenn ich mich Ihnen vorstelle, möchte ich meine Leitgedanken, meine politischen Schwerpunkte und Ziele nicht in Thesen fassen. Vielmehr möchte ich von Erfahrungen sprechen, die mich geprägt haben und den aus mir gemacht haben, der heute vor Ihnen steht. Es sind Erfahrungen, die die Leidenschaft für Freiheit, Demokratie und Recht in meinem Leben verankert haben.
Über der ersten Begegnung mit dem Leben könnte ein Titel von Thomas Mann stehen: „Unruhe und frühes Leid“. In meiner Kindheit war Krieg. Ich selbst bin der elementaren Bedrohung nur einmal begegnet, im Keller meines Großvaters. Die Bombe fiel damals nicht auf unser Haus, aber die Angst vor Tod und Zerstörung kam zu mir über die Augen der Erwachsenen. Sie kam auch bei Kriegsende zu mir über die Erwachsenen, als Männer abgeholt wurden, zum Arbeiten oder zum Erschießen, und als Frauen und Mädchen ihre Körper verhüllten und sich der Schrecken auf ihren Gesichtern spiegelte.
Ich bin 1940 geboren. An den Glanz in den Augen der Verführten, die jubelten, als ihr Führer aller Welt Angst machte, kann ich mich nicht erinnern. Ich erinnere mich erst an die Angstaugen, als der Krieg verloren war und Deutschland einem schrecklichen Ende entgegen ging. Und das Kind lernte: Da draußen ist es zum Fürchten.
Sechs Jahre später wurde mein Vater abgeholt. Er verschwand in Sibirien wie Abertausende, die denunziert und ohne jedes Vergehen bestraft wurden. Mein Vater hatte Glück. Nach fünf Jahren kehrte er zurück. Arno Esch und andere freiheitsliebende Jugendliche sind in Moskau erschossen worden. Meine Großmutter, meine Mutter, meine kleinen Geschwister und ich, sowie all die anderen Familien, die sich der neuen Zeit verweigerten - wir spürten: Da draußen ist es zum Fürchten.
Als mir Krieg, Diktatur, wieder Diktatur, Willkür und Rechtlosigkeit begegneten, war es die mütterliche Liebe, die dem kleinen Jungen, der sich ohnmächtig fühlte, letztlich das Zutrauen in sich selbst und in das Leben schenkte. Hass und Niedertracht um mich herum waren nicht ausgelöscht, aber ich wurde überlebensfähig. So erkannte ich im Nachhinein: Lange bevor Widerstand, Opposition oder Eigensinn gelebt werden, müssen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Deshalb sind Eltern und frühkindliche ermächtigende Erziehung so unglaublich wichtig.
Es war kein Zufall, dass ich mit zwölf Jahren dem Freiheitspathos von Friedrich Schiller verfiel, mit dreizehn Jahren wie ein Fiebernder am Radiogerät die Ereignisse des 17. Juni verfolgte und mit sechzehn am liebsten bei der Revolution in Ungarn mitgekämpft hätte.
Bis zu meinem 22. Lebensjahr war der Westen noch erreichbar. Ich fuhr hin, viele andere auch, an Wochenenden und in den Ferien. Die Demokratie dort war nicht perfekt, aber lebendig. Die Menschen wählten ihre Regierenden, sie lasen unterschiedliche Zeitungen, sie besaßen Gewerkschaften, die kämpften, es gab Bücher und Schallplatten, die bei uns verboten waren. Die Freiheit, die wir dort fanden, beflügelte uns. Auf Reisen im Westen tankten wir auf, um den Alltag im Osten besser zu bestehen.
Nach 1961 aber konnten wir nicht mehr zwischen dem Bleiben in der Heimat auch unter kommunistischer Herrschaft oder dem Neubeginn in der ersehnten, aber fremden Freiheit wählen. Der Ausweg war uns versperrt. Das Bild vom Westen setzte sich nur umso fester in unserem Innern fest. Sehnsucht nistete sich in unseren Herzen ein. Das wirkliche Westdeutschland entwickelte sich in eine uns unbekannte, von vielen Widersprüchen und Mängeln geprägte Richtung, unsere innere Wirklichkeit hingegen verklärte den abgetrennten Teil zu einem Staat ohne Runzeln und Abgründe. Wir haben die Freiheit idealisiert, die wir nicht besaßen.
Im eigenen Land trug die Freiheitsliebe einen Tarnanzug. Sie zitierte Heine, sie zitierte Schiller, sprach von der Französischen Revolution, siedelte - wie schon in der braunen Diktatur - in Innenräumen. „Die Gedanken sind frei“ sangen wir in der Kirche und in der Familie. Um uns herum gab es gleich gesinnte Freundeskreise, Kirchgemeinden, Cliquen, die Jugendgruppen der Kirchen.
Ich suchte Botschafter der geistigen Freiheit auch in der Diktatur. Immer wieder waren es Christen und Kirchenvertreter wie mein mecklenburgischer Landesbischof Heinrich Rathke, die mir Wegweisung und Mut gaben. Sie ließen mich glauben, dass die Wahrheit - ethisch wie politisch - nicht bei der Mehrheit sein muss. Wir erlernten damals die Minderheitenexistenz. Und indem wir sie annahmen, annehmen mussten, verloren wir zwar allerhand - aber nicht uns selbst.
Uns selber treu zu bleiben, halfen uns auch die, deren Ermutigung uns selbst noch erreichte, als die Staatsmacht sie außer Landes getrieben hatte. Wolf Biermann, Günter Kuhnert, Reiner Kunze, Erich Loest, Sarah Kirsch - um nur einige zu nennen - , deren Worte und Lieder versteckt in Koffern, Handtaschen oder über Diplomatenpost die Mauer überwanden. Wir fanden Trost und Zuspruch auch bei Martin Luther King - ich begegnete diesem Ermutiger persönlich in den sechziger Jahren in der Berliner Marienkirche: „I have a dream.“ Ähnliche Botschaften drangen aus der Ferne auch von Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, von Vaclav Havel und den Widerständigen aus der polnischen Solidarnosc zu uns. Und mochte Nelson Mandela am anderen Ende der Welt auch in seiner Zelle in Robben Island gefangen sein, so fühlten wir uns doch mit seiner Freiheitsbotschaft verbunden. Später, in der Rückschau erkannte ich die Bedeutung dieser realen und der Begegnungen im Geiste: Widerstand IST nicht, Widerstand WIRD.(...)
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Gruß von Enigma
Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Der Geschlechtslose
Ich habe keine Zeugungsglieder.
Ich bin kein Mann – das steht mal fest.
Mir ist der Umsturz sehr zuwider –
ich hasse Lenin wie die Pest.
Was auch geschieht, ich respektiere
die Uniform voll Bürgersinn.
Und treten mich die Unteroffziere,
so schmerzt mich nur, daß ich es bin.
Mich zieren keine runden Brüste.
Ich bin kein Weib – das ist mal klar.
Wer mich im Kompromiß auch küßte:
noch nie geschahs, daß ich gebar.
An alle hab ich mich verloren,
ich gab mich allen einmal hin.
Wie kommts, daß die zum Sieg erkoren,
und daß ich stets der Dumme bin?
Was ist es nur –?
Ich seh mein Leibchen
im Spiegel an, und in der Tat:
Ich bin kein Männchen und kein Weibchen –
ich bin ein deutscher Demokrat.
Theobald Tiger (aka Kurt Tucholsky), in: Die Weltbühne, 04.09.1924, Nr. 36, S. 356
Wenn jetzt einer käme (womit zu rechnen ist) und würde sagen, "Das ist Geschichte, das gibt es hier nicht mehr", dann würde ich ihm vehement widersprechen: "Von wegen, das ist nicht Geschichte, das gibt es immer noch und nicht zu knapp." - Und Kurt Tucholsky würde ich sagen, wenn er denn käme (was ausgeschlossen ist): "Du hast umsonst geschrieben, Kurt. Im nächsten Leben, falls es eins gibt, kommen wir in Frankreich auf die Welt und schreiben dort - nur für Franzosen und selbstverständlich in französisch."
--
Wolfgang