Forum Kunst und Literatur Literatur Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....

Literatur Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf angelottchen vom 18.04.2007, 13:28:09
Die Tage der Vergangenheit überdecken allmählich alle, die auch ihnen noch vorausgegangen sind, und werden ihrerseits wiederum unter denen begraben, welche auf sie folgen.

Eine Sache, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sehen, ein Buch, das wir lesen, bleibt für immer nicht nur mit dem verknüpft, was um uns her vorhanden war, sondern ebenso treu bleibt es verbunden mit dem, was wir damals waren.

Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen.


Aus: Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

enigma
enigma
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 18.04.2007, 13:59:11
Jaa, an Barry Ryan erinnere ich mich auch gerne... :-

Aber "Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit" liebe ich wirklich. Ich habe früher und immer wieder darin gelesen, und Marcel Proust und seine Sicht der Dinge des Lebens haben mich stets aufs Neue begeistert.

Aus Anlass Deines Beitrags,Marina, habe ich mir heute folgendes "reingezogen" - she. Internet-Tipp!
Danke nochmal...

Aber jetzt auch noch ein Beitrag von mir:

Paul Fleming
Die Zeit ist, was ihr seyd
Gedancken über der Zeit

Ihr lebet in der Zeit
und kennt doch keine Zeit
So wisst Ihr Menschen nicht
von und in was
Ihr seyd.
Diß wisst Ihr
daß ihr seyd
in einer Zeit gebohren.
Und daß ihr werdet auch
in einer Zeit verlohren.
Was aber war die Zeit
die euch in sich gebracht?
Und was wird diese seyn
die euch
zu nichts mehr macht?
Die Zeit ist was
und nichts.
Der Mensch in gleichem Falle.
Doch was dasselbe was
und nichts sey zweifeln alle.
Die Zeit die stirbt in sich
und zeucht sich auch aus sich.
Diß kommt
aus mir und dir
von dem du bist und ich.
Der Mensch ist in der Zeit;
sie ist in ihm ingleichen.
Doch aber muß der Mensch
wenn sie noch bleibet
weichen.
Die Zeit ist was ihr seyd
und ihr seyd was die Zeit
Nur daß ihr wenger noch
als was die Zeit ist
seyd.
Ach daß doch jene Zeit
die ohne Zeit ist
kähme
Und uns aus dieser Zeit
in ihre Zeiten nähme.
Und aus uns selbsten uns
daß wir gleich köndten seyn
Wie der itzt
jener Zeit
die keine Zeit geht ein.
Paul Fleming (1609-1640)

--
enigma
Medea
Medea
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von Medea
als Antwort auf enigma vom 16.04.2007, 10:17:37
Vielleicht auch einmal etwas Erotisches?

Mit den Armen nackt, wie ihr Gewissen,
liegt die Liebste in den Kissen,
in den weißen.
Frühling hat die Fenster aufgerissen,
Sonne rollt den Leib den frühlingsheißen.
Mit der Lust von schönen wilden Tieren
kommt die Sonne breit auf allen Vieren,
Sonne hat für meine Liebste Zeit;

wie die Katzen liegen sie beisammen,
wie die Katzen, deren Haare Funken flammen.


(aus Frühlingslieder aus Franken,
Max Dauthendey - 1867 - 1918 -


Medea.



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eleonore
eleonore
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von eleonore
als Antwort auf Medea vom 19.04.2007, 16:31:20
Sappho an Alkaïos

Fragment

Und was hättest du mir denn zu sagen,
und was gehst du meine Seele an,
wenn sich deine Augen niederschlagen
vor dem nahen Nichtgesagten? Mann,

sieh, uns hat das Sagen dieser Dinge
hingerissen und bis in den Ruhm.
Wenn ich denke: unter euch verginge
dürftig unser süßes Mädchentum,

welches wir, ich Wissende und jene
mit mir Wissenden, vom Gott bewacht,
trugen unberührt, daß Mytilene
wie ein Apfelgarten in der Nacht
duftete vom Wachsen unsrer Brüste -.

Ja, auch dieser Brüste, die du nicht
wähltest wie zu Fruchtgewinden, Freier
mit dem weggesenkten Angesicht.
Geh und laß mich, daß zu meiner Leier
komme, was du abhältst: alles steht.

Dieser Gott ist nicht der Beistand Zweier,
aber wenn er durch den Einen geht

--
eleonore
enigma
enigma
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von enigma
als Antwort auf eleonore vom 19.04.2007, 16:45:53
CORONA

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
Paul Celan

--
enigma
angelottchen
angelottchen
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von angelottchen
als Antwort auf enigma vom 20.04.2007, 16:57:29
ein Gedicht vom wunderbaren Georg Trakl ..

Verklärter Herbst
Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.
Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise

Es ist der Liebe milde Zeit
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht
Das geht in Ruh und Schweigen unter.


--
angelottchen

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enigma
enigma
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von enigma
als Antwort auf angelottchen vom 20.04.2007, 19:14:16
Überlass es der Zeit

Erscheint dir etwas unerhört,
Bist du tiefsten Herzens empört,

Bäume nicht auf, versuch's nicht mit Streit,
Berühr es nicht, überlass es der Zeit.

Am ersten Tage wirst du feige dich schelten,
Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,

Am dritten hast du's überwunden,
Alles ist wichtig nur auf Stunden,

Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.
--
enigma
Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf enigma vom 21.04.2007, 09:16:21
Zu d e m Gedicht "überlass" ich es doch nicht dem Zufall oder der "Zeit":

--
elfenbein
Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 21.04.2007, 09:32:17
Theodor Fontane:
Einem Kranken

Über Deine Schwelle
Gestatte den Gruß
Leichter, spielender Ritornelle.

Brennende Nessel -
Wie lange noch kettet Dich
Der Krankheit Fessel?

Dunkle Verbenen -
Die Nacht ist lang,
O, wie die Stunden sich dehnen!

Apfelblüte -
So blüh' auch dir
Ein Trost im Gemüte.

Nickende Veilchen -
Der Frühling naht
Über ein Weilchen.

Blaue Cyanen -
Siehe, Genesung kommt
Und schwingt ihre Fahnen.

Rankende Winden -
Und Du selber schreitest hinaus
Sie zum Kranze zu binden.
*
Text nach:
http://de.wikisource.org/wiki/Einem_Kranken









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elfenbein
Medea
Medea
Mitglied

Re: Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen, Hoffnung....
geschrieben von Medea
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 22.04.2007, 07:49:21
An die Parzen (Friedrich Hölderlin)

Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättigt, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
doch ist mir einst das Heilge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen.

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
mich nicht hinabgeleitet;
einmal lebt ich, wie Götter,
und mehr bedarfs nicht.



Medea.

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