Literatur Vergessene Dichter und Gedichte
Der Mensch
Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret,
Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet, und verehret;
Hat Freude, und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts, und alles wahr;
Erbauet, und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst, und zehret;
Trägt braun und graues Haar etc.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.
Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.
Matthias Claudius (1740 - 1815), deutscher Dichter
Ein Gedicht aus der Biedermeierzeit von dem vergessenen österreichischen Dichter F. Sauter, 1804-1854.
Auf der Gass`n:
Auf der Gassen schaut der Dichter
Gern die wechselnden Gesichter.
Bringt in Reime die Grimassen,
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen waltet Gleichheit
Zwischen Armut, zwischen Reichheit.
Arme betteln, Reiche prassen,
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen ist kein Bleiben,
Nur ein rastlos Rennen, Treiben.
Dränget, die sich lieben, hassen,
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen prangt das Neue,
Dass es sich am Wechsel freue.
Lustig wimmeln bunte Massen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen rollen Leichen,
Die kein hartes Herz erweichen.
Sonderbare Menschenrassen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen unter Weinen,
Trennt ein Sohn sich von den Seinen.
Ach, du letztes Schmerzumfassen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen lärmen Buben,
Purzelnd aus den Schulenstuben,
Ob der Weisheit, die sie fraßen,
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen klingt die Zither
Abends unter manchem Gitter.
Ach, du traurig dummes Passen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Auf der Gassen wird es nächtlich,
Katzen, Schwärmer schleichen sächtlich
Bis die letzten Stern verblassen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Lydia
Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809)
Ochs und Esel
Ochs und Esel zankten sich
Beim Spaziergang um die Wette,
Wer am meisten Weisheit hätte:
Keiner siegte, keiner wich.
Endlich kam man überein,
Dass der Löwe, wenn er wollte,
Diesen Streit entscheiden sollte;
Und was konnte klüger sein?
Beide reden tief gebückt
Vor des Tierbeherrschers Throne,
Der mit einem edeln Hohne
Auf das Paar herunter blickt.
Endlich sprach die Majestät
Zu dem Esel und dem Farren:
Ihr seid alle beide Narren.
Jeder gafft ihn an und geht.
Noch einmal zu Ferdinand Sauter, der seine folgende Grabinschrift selbst vorbereitet hat:
Viel genossen, viel gelitten,
und das Glück lag in der Mitten;
viel empfunden, nichts erworben,
froh gelebt und leicht gestorben.
Fragt nicht nach der Zahl der Jahre,
kein Kalender ist die Bahre.
Und der Mensch im Leichentuch
bleibt ein zugeklapptes Buch.
Darum Wand´rer zieh´doch weiter,
denn Verwesung stimmt nicht heiter.
Er starb in Wien, im Bezirk Hernals, am 30. Oktober 1854 als erstes Opfer der Cholera.
Lydia
Wohin?
Wohin, du rauschender Strom, wohin?
»Hinunter, hinab die Bahn.
Will rasten, weil ich müde bin,
Im stillen Ozean.«
Wohin, du wehender Wind, wohin?
»Weit, weit hinein ins Land.
Will ruhen, weil ich müde bin,
An einer Felsenwand.«
Wohin, du ziehende Wolke, wohin?
»Ich weiß ein dürres Feld!
Dort ward mir, weil ich müde bin,
Ein Ruheplatz bestellt.«
Wohin, du fliehender Vogel, wohin?
»Tief in des Waldes Reich!
Will suchen mir, weil ich müde bin,
Zur Rast einen sicheren Zweig.«
Und du, meine Seele, wohin? wohin?
»Hoch über die Wolken hinauf!
Dort nimmt mich, weil ich müde bin,
Die ewige Liebe auf.«
Julius Sturm (1816 - 1896), deutscher Dichter und Liedertexter
CC BY 2.5 (Bild)
Ganz in Weiß die Birke
ich vorm Fenster fand,
schneebedeckt im silbern
leuchtenden Gewand.
An der Zweige Spitzen,
weich gesäumt von Schnee,
zarte weiße Fransen,
Pinselchen ich seh.
Sonnenhelle Stille
schließt die Birke ein,
gibt der Flockenhülle
feuergoldnen Schein.
Bis die Dämmrung sachte
ihren Bogen schließt,
und die Zweige neu mit
Silber übergießt.
Sergei Jessenin, russischer Volksdichter
Dieses Gedicht lernt in Russland jedes Kind in der Schule
(Nachdichtung von Margit Bluhm)
Seufz: Ich befürchte, dass ich auch (bald) mal zu denen gehören werde........ 😒😢😪👼
Vergessene Dichter und Gedichte
Seufz: Ich befürchte, dass ich auch (bald) mal zu denen gehören werde........ 😒😢😪👼