Literatur Schulroman von Paul Ingendaay:
Hier sind schon öfter Schulromane, meist historische vorgestellt worden.
Heute verweise ich auf ein neues Hörspiel, das in zwei Folgen zu diesem Schulroman, geade vom NDR gesendet wurde:
Paul Ingendaay: „Warum du mich verlassen hast". Roman. SchirmerGraf Verlag, München 2006.
Bis zum 3. Januar 2008 kann das Hörwerk von diesem Mediencenter abgerufen werden:
http://www.gmx.de/mc/jKpEC62IiF48lhcJUMe4xVecuY6hfL
Ich werde noch einige Informationen zu diesem Schul-Roman, der ein heutiges, bekanntes Elite-Gymnasium als Vorbild hat, vorstellen.
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longtime
Heute verweise ich auf ein neues Hörspiel, das in zwei Folgen zu diesem Schulroman, geade vom NDR gesendet wurde:
Paul Ingendaay: „Warum du mich verlassen hast". Roman. SchirmerGraf Verlag, München 2006.
Bis zum 3. Januar 2008 kann das Hörwerk von diesem Mediencenter abgerufen werden:
http://www.gmx.de/mc/jKpEC62IiF48lhcJUMe4xVecuY6hfL
Ich werde noch einige Informationen zu diesem Schul-Roman, der ein heutiges, bekanntes Elite-Gymnasium als Vorbild hat, vorstellen.
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Zu dem Schulromann
"Warum hast du mich verlassen?"
... des Schülers Marko Kampf um die Wahrheit, fünf Stufen hoch, im Altarraum
Aus: Paul Ingendaays „Warum du mich verlassen hast". Roman. SchirmerGraf Verlag, München 2006 Kap. 21. (Inzwischen liegt der Roman als dtv-TB im 'Deutschen Taschenbuch Verlag' vor. 2007. 512 S. 9,90 €)
Der Schüler Marko hat sich vorbereitet: Er und zwei Klassenkameraden wissen um den Suizid des Erziehers und Lehrers, des Bruders Gregor; sie ahnen aber viel von den Hintergründen.
Des Lehrers Freitod wurde vertuscht, mit einer schamlos unwahren Erklärung (angegebeneTodesursache: "Herzprobleme"), mit den Unterschriften vom Präses und vom Direktor.
(Solche Wahrheitsproben hat jeder schon erlebt in seiner Entwicklungszeit; Kinde, Schüler; auch alte Gaesdoncker, oder irgendwo und irgendwann anders, als das eigene Gewissen sich nicht länger beschneiden ließ; die eigene und kollektive Wahrheit nicht mehr verdrängen, länger verleugnen ließ:
Er will bei den Fürbitten einen Satz vortragen, in einem Gedenkgottesdienst für den morgens in "Coesfeld" beerdigten Suizidanten Bruder Gregor.
Im Erzähltext lausche ich; Marco erzählt:
„Und dann waren die Fürbitten an der Reihe. Ich sollte Nummer vier sein. Oh, Mann, mein Herz schlug und schlug. Ich schwitzte unter den Armen wie ein Bär. Als ich an den Ambo trat und das Mikrofon sah, dachte ich, he, es läßt sich noch alles stoppen, den" ganze Plan läßt sich umwerfen, ich muß nichts von dem tun, was ich mir vorgenommen habe. Wir Nihilisten glauben Ja noch nicht einmal an den Himmel, an den Bruder Gregor geglaubt hat. Die Sonntagsglocken, meinetwegen müßten sie nicht dröhnen. Wenn ich Weihrauch rieche, empfinde ich nichts Besonderes. Und die alten Engel aus dem dritten Obergeschoß fliegen bestimmt nicht für mich. Keine einzige Flugstunde. He, Motte, sag mir doch mal, was du darin siehst! Weil ich nämlich nichts sehe. Meine Augen sind blind, meine Ohren sind taub, meine Sinne kennen nicht oben und unten. Oh, Mann, ich drehe mich wie ein Rad! Und deshalb dachte ich ganz kurz, ich könnte noch immer eine ganz normale Fürbitte vorlesen. Warum nicht? Ich hatte ja eine geschrieben, die ging. Ich brauchte nur in die andere Tasche zu greifen.
Und zuerst tat ich es auch. Ich griff in die falsche Tasche! Mann, ich holte die Tralala-Fürbitte heraus, merkte schon beim Auseinanderfalten, daß es ein Fehler war, und zerknüddelte den Zettel im selben Augenblick, aber so nah am Mikrofon, daß alle es hörten. Sofort sahen sie mich an, alle. Sie dachten, das wäre der Auftakt. Ich kramte nach dem anderen Zettel, fand ihn, wollte ihn auseinanderfalten, aber da legte ich schon los.
»Daß der Herr uns Wahrhaftigkeit gebet«, sagte ich, ohne den Zettel zu öffnen. »Oder schenke. Daß er... also ... daß er uns verzeihe, wenn wir lügen, weil wir nicht weiterwissen oder so. Denn wir haben gelogen bei Bruder Gregor, es war nämlich kein Herzversagen, er konnte nicht mehr. Er hat dieses Leben ... selbst verlassen.«
Es war draußen. Es war draußen. Ich hatte es gesagt.
»Oh, Mann... er hat sich umgebracht. Und es heißt, sein Tod war Herzversagen, aber das stimmt nicht. Es stimmt nicht. Er hat sich das Leben genommen.«
Jetzt war es ganz still, so still, daß ich es spüren konnte. Ich hätte die Stille berühren können, eine atemlose Stille, die zuzunehmen schien, auch wenn längst kein Geräusch mehr zu hören war, nicht einmal aus der Ferne, nicht einmal von den Läusen der Fledermäuse irrt Glockenturm. Mein Kopf ich hielt ihn schön gesenkt, damit ich niemanden ansehen mußte, das hätte mir jetzt gefehlt. Ich glaube, wenn ich jemanden angeguckt hätte, wäre ich an Ort und Stelle zu einem Häufchen Staub zerfallen, und man hätte mich nach der Andacht auf ein Kehrblech fegen können. Spürte ich den Blick von Bruder Albertus in meinem Rücken? Vielleicht. Aber es geschah nichts, obwohl ich jeden Augenblick eine strenge Stimme erwartete, eine kräftige Hand an meinem Arm, die mich vom Ambo fortzieht ... Es geschah nichts. Also hatte ich noch ein paar Sekunden, die hatte ich mindestens.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß alle es wissen wollten. Sie wollten wissen, wohin Bruder Gregor verschwunden war und warum. Und obwohl ich ihnen nichts darüber sagen konnte, weil ich fast so wenig wußte wie sie, war mir klar, daß ich ihnen sehr weit voraus war. Dorthin, wo ich war, wollten sie auch. Wieder schwebte ich am Himmel und sah auf die Ländereien hinunter. Ich war frei. Die Lappen, welche ich Kleider nannte, flappten im Wind. Ihr wißt ja, daß meine Füße in den halbhohen Stiefeln steckten, die Bruder Gregor damals gefilzt hatte. Jetzt hätte ich ihm gern gesagt, daß der Tabak im Gebüsch bei Drei Steine lag. Ich wäre hingegangen und hätte gesagt, hier, nehmen Sie! Mein Tabak. Wir kennen doch keine Geheimnisse, Sie und ich. Ich fliege doch für Sie, und alle Menschen und Tiere und Pflanzen da unten sind mir gleichgültig. Ich habe mich von allen losgesagt.
So hätte ich gesprochen, das spürte ich. Und deshalb machte ich weiter.
»He, wir dürfen nicht lügen. Er war allein... Bruder Gregor, er hatte niemanden. Er hat auch niemanden! getraut, glaube ich, sonst wäre er doch nicht allein gewesen,. Er wollte nicht mehr leben, er wollte noch mit mir zu den Pferden gehen, aber sonst... Hier, Augenblick...«
Ich griff in den Ärmel der Kordjacke, mußte am Seneca zerren, bis das verkantete Ding sich aus dem Innern des Ärmels löste, und als ich dachte, ich habe ihn, fiel er mir mit lautem Klatschen auf den« Boden. »Oh...! Hier, sein Seneca«, sagte ich und hob ihn auf, »sein Seneca. Über die Vorsehung.«
Nachdem das Klatschen verhallt war, wurde es wieder still wie im Grab. Ich schaute kurz auf, zum erstenmal. Aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Augen wahrscheinlich. Augen und Münder. Und niemand sagte etwas, niemand kam, um mich zu unterbrechen.
»Hier. Er hat alles unterstrichen, darin halt er kurz vor seinem Tod gelesen, er hat sogar das Datum dazugeschrieben, das war die erste Lektüre, im vorletzten Jahr, am 24. Januar 1975, und als er mir davon erzählte, das war letzten Herbst. Da hat er mir davon erzählt. Und ganz am Ende lag der Seneca auf seinem Nachttisch, er hat sich von dem Buch nicht mehr getrennt. Lucilius, du hast mir die Frage gestellt: Warum, wenn eine Vorsehung die Welt lenkt, widerßihrt gutem Menschen soviel Unglück? Das hat er gelesen, und auf Seite 257 ist etwas angestrichen, hier: Es schlägt uns und -verwundet das Schicksal? Wir wollen es erdulden: Nicht ist es Roheit; Kampf ist es; je öfter wir ihn auf uns nehmen, desto tapfrer werden wir sein. Er hat es nicht nur angestrichen, er hat es auch hinten im Buch notiert: >Leiden, 23, 27<. Die Zahl 27 ist unterstrichen, weil er die Stelle wichtig fand. Mann, wir müssen es nur lesen! Oder das Ende, wo die Antwort kommt, hier, Seite 41, bitte... wir müssen es nur lesen: Mag nun den Hals eine Schlinge zudrücken, mag den Atem Wasser absperren, mag den, der auf den Kopf fällt, die Härte des Bodens zerschellen lassen, mag eingeatmete Feuerhitze dem Odem den Weg abschneiden, was immer es ist, es geschieht rasch. Schämt ihr euch nicht? Was so schnell eintritt, fürchtet ihr so lange! Das hat er am Ende gelesen, und wir hatten keine Ahnung. Wir wußten nichts, und jetzt... jetzt lügen wir. Vielleicht... also, vielleicht ist er ja gegangen, weil wir ihm ... zuwenig waren? Das könnte doch sein. Er hat sich nicht von uns verabschiedet. Aber wir haben uns auch nicht von ihm verabschiedet, glaube ich. Ich höre jetzt auf Ich habe noch eine Fürbitte. Daß der Herr ... also, er muß uns Wahrhaftigkeit geben, würde ich sagen. Das vor allem.« Ich guckte kurz in die vielen Gesichter, die großen Augen und offenen Münder. Dann ging ich und setzte mich auf meinen Platz.
»Wir bitten dich, erhöre uns«, sagte Bruder Albertus mit der schleppenden Gottesdienststimme, die bedeutete, daß die Gemeinde sich aufraffen und mitmachen soll. Aber die Gemeinde raffte sich nicht auf, und niemand machte mit.
Jetzt ging der fünfte Fürbittenvorleser zum Ambo und las seine Fürbitte vor. Diesmal war die Gemeinde zur Stelle und sagte: »Wir bitten dich, erhöre uns.«
Der Fürbittenvorleser ging die fünf Stufen wieder nach unten.
Als die Andacht vorbei war, drängelte ich mich zum Ausgang durch, ließ auch das Weihwasserbecken links liegen, an allen vorbei, die mich ansahen und mir Fragen stellten und sogar noch Sätze hinterherriefen, selbst von Motte wollte ich mich nichts fragen lassen, ich stieß alle beiseite und rannte, so schnell ich konnte, über den Marmorplatz, über die erste Collegiumsbrücke, dann am Graben entlang, vorbei am wilden Heiligen und Richtung Pferdewiese. Keiner folgte mir.
Diesen Lauf hatte ich mir oft vorgestellt, ist das nicht komisch? Den Lauf nach der Andacht für Bruder Gregor. Und immer, wenn ich mir diesen Lauf in den letzten dreißig oder vierzig Stunden vorgestellt hatte, sah ich mich dabei in kurzen Hosen, als das Kind, das ich bei Schwester Gemeinnutz gewesen war.“
~ * ~
Marko erlebt seine Befreiung; er hat seine schlimmen Erinnerungen aus Kampf- und Krampfzeiten im Juvenat und in den anderen Häusern der Internatsschule verarbeitet; er hat die Stunde der Wahrheit genutzt; er hat im Altarraum, fünf Stufen hoch, am Ambo, der der Verkündigung sich nicht als bestellter Lügner, als Täuscher missbrauchen lassen.
Er ist frei, er kann sich im Wegrennen als Kind fühlen, als Könner, als unbeschwerter Vertreter seiner Kreativität und Wahrheitsliebe; als Robinson, der sich gerettet hat von der "Insel der Einsamen".
Er hat eine eigenmotivierte Beichte abgelegt, er hat die passenden Worte gefunden; und sie sind das Gegenteil von den Inquisitionsinszenarien, die der Präses und der Bruder Hermann mit ihm geführt haben, als sie ihn vorführen wollten: als Onanisten, als mangelnden, nicht gut gerüsteten Antikommunismus-Kämpfer, als Verräter, als Marko nicht wusste, was er gestehen und wen er verraten sollte.
~ * ~
Diese psychiche und religiöse Auseinandersetzung eines einzelnen, wahrheits- und vernunftbegabten, nicht kuschenden Schülers gestaltet Paul Ingendaay mit dem Ernst einer Beichte, einer geistigen und körperlichen Befreiung...
... nachzulesen in - oder vorzulesen aus: "Warum du mich verlassen hast". Roman und literarisch-psychisches Transformatorium, d.h. inneres Realium (S. 468-472.)
~*~
Kurzüberblick über den Roman und viele, alle positiven Rezensionen (nicht nur in den ausgeschnittenen Zitaten):
S. TIPP:
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"Warum hast du mich verlassen?"
... des Schülers Marko Kampf um die Wahrheit, fünf Stufen hoch, im Altarraum
Aus: Paul Ingendaays „Warum du mich verlassen hast". Roman. SchirmerGraf Verlag, München 2006 Kap. 21. (Inzwischen liegt der Roman als dtv-TB im 'Deutschen Taschenbuch Verlag' vor. 2007. 512 S. 9,90 €)
Der Schüler Marko hat sich vorbereitet: Er und zwei Klassenkameraden wissen um den Suizid des Erziehers und Lehrers, des Bruders Gregor; sie ahnen aber viel von den Hintergründen.
Des Lehrers Freitod wurde vertuscht, mit einer schamlos unwahren Erklärung (angegebeneTodesursache: "Herzprobleme"), mit den Unterschriften vom Präses und vom Direktor.
(Solche Wahrheitsproben hat jeder schon erlebt in seiner Entwicklungszeit; Kinde, Schüler; auch alte Gaesdoncker, oder irgendwo und irgendwann anders, als das eigene Gewissen sich nicht länger beschneiden ließ; die eigene und kollektive Wahrheit nicht mehr verdrängen, länger verleugnen ließ:
Er will bei den Fürbitten einen Satz vortragen, in einem Gedenkgottesdienst für den morgens in "Coesfeld" beerdigten Suizidanten Bruder Gregor.
Im Erzähltext lausche ich; Marco erzählt:
„Und dann waren die Fürbitten an der Reihe. Ich sollte Nummer vier sein. Oh, Mann, mein Herz schlug und schlug. Ich schwitzte unter den Armen wie ein Bär. Als ich an den Ambo trat und das Mikrofon sah, dachte ich, he, es läßt sich noch alles stoppen, den" ganze Plan läßt sich umwerfen, ich muß nichts von dem tun, was ich mir vorgenommen habe. Wir Nihilisten glauben Ja noch nicht einmal an den Himmel, an den Bruder Gregor geglaubt hat. Die Sonntagsglocken, meinetwegen müßten sie nicht dröhnen. Wenn ich Weihrauch rieche, empfinde ich nichts Besonderes. Und die alten Engel aus dem dritten Obergeschoß fliegen bestimmt nicht für mich. Keine einzige Flugstunde. He, Motte, sag mir doch mal, was du darin siehst! Weil ich nämlich nichts sehe. Meine Augen sind blind, meine Ohren sind taub, meine Sinne kennen nicht oben und unten. Oh, Mann, ich drehe mich wie ein Rad! Und deshalb dachte ich ganz kurz, ich könnte noch immer eine ganz normale Fürbitte vorlesen. Warum nicht? Ich hatte ja eine geschrieben, die ging. Ich brauchte nur in die andere Tasche zu greifen.
Und zuerst tat ich es auch. Ich griff in die falsche Tasche! Mann, ich holte die Tralala-Fürbitte heraus, merkte schon beim Auseinanderfalten, daß es ein Fehler war, und zerknüddelte den Zettel im selben Augenblick, aber so nah am Mikrofon, daß alle es hörten. Sofort sahen sie mich an, alle. Sie dachten, das wäre der Auftakt. Ich kramte nach dem anderen Zettel, fand ihn, wollte ihn auseinanderfalten, aber da legte ich schon los.
»Daß der Herr uns Wahrhaftigkeit gebet«, sagte ich, ohne den Zettel zu öffnen. »Oder schenke. Daß er... also ... daß er uns verzeihe, wenn wir lügen, weil wir nicht weiterwissen oder so. Denn wir haben gelogen bei Bruder Gregor, es war nämlich kein Herzversagen, er konnte nicht mehr. Er hat dieses Leben ... selbst verlassen.«
Es war draußen. Es war draußen. Ich hatte es gesagt.
»Oh, Mann... er hat sich umgebracht. Und es heißt, sein Tod war Herzversagen, aber das stimmt nicht. Es stimmt nicht. Er hat sich das Leben genommen.«
Jetzt war es ganz still, so still, daß ich es spüren konnte. Ich hätte die Stille berühren können, eine atemlose Stille, die zuzunehmen schien, auch wenn längst kein Geräusch mehr zu hören war, nicht einmal aus der Ferne, nicht einmal von den Läusen der Fledermäuse irrt Glockenturm. Mein Kopf ich hielt ihn schön gesenkt, damit ich niemanden ansehen mußte, das hätte mir jetzt gefehlt. Ich glaube, wenn ich jemanden angeguckt hätte, wäre ich an Ort und Stelle zu einem Häufchen Staub zerfallen, und man hätte mich nach der Andacht auf ein Kehrblech fegen können. Spürte ich den Blick von Bruder Albertus in meinem Rücken? Vielleicht. Aber es geschah nichts, obwohl ich jeden Augenblick eine strenge Stimme erwartete, eine kräftige Hand an meinem Arm, die mich vom Ambo fortzieht ... Es geschah nichts. Also hatte ich noch ein paar Sekunden, die hatte ich mindestens.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß alle es wissen wollten. Sie wollten wissen, wohin Bruder Gregor verschwunden war und warum. Und obwohl ich ihnen nichts darüber sagen konnte, weil ich fast so wenig wußte wie sie, war mir klar, daß ich ihnen sehr weit voraus war. Dorthin, wo ich war, wollten sie auch. Wieder schwebte ich am Himmel und sah auf die Ländereien hinunter. Ich war frei. Die Lappen, welche ich Kleider nannte, flappten im Wind. Ihr wißt ja, daß meine Füße in den halbhohen Stiefeln steckten, die Bruder Gregor damals gefilzt hatte. Jetzt hätte ich ihm gern gesagt, daß der Tabak im Gebüsch bei Drei Steine lag. Ich wäre hingegangen und hätte gesagt, hier, nehmen Sie! Mein Tabak. Wir kennen doch keine Geheimnisse, Sie und ich. Ich fliege doch für Sie, und alle Menschen und Tiere und Pflanzen da unten sind mir gleichgültig. Ich habe mich von allen losgesagt.
So hätte ich gesprochen, das spürte ich. Und deshalb machte ich weiter.
»He, wir dürfen nicht lügen. Er war allein... Bruder Gregor, er hatte niemanden. Er hat auch niemanden! getraut, glaube ich, sonst wäre er doch nicht allein gewesen,. Er wollte nicht mehr leben, er wollte noch mit mir zu den Pferden gehen, aber sonst... Hier, Augenblick...«
Ich griff in den Ärmel der Kordjacke, mußte am Seneca zerren, bis das verkantete Ding sich aus dem Innern des Ärmels löste, und als ich dachte, ich habe ihn, fiel er mir mit lautem Klatschen auf den« Boden. »Oh...! Hier, sein Seneca«, sagte ich und hob ihn auf, »sein Seneca. Über die Vorsehung.«
Nachdem das Klatschen verhallt war, wurde es wieder still wie im Grab. Ich schaute kurz auf, zum erstenmal. Aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Augen wahrscheinlich. Augen und Münder. Und niemand sagte etwas, niemand kam, um mich zu unterbrechen.
»Hier. Er hat alles unterstrichen, darin halt er kurz vor seinem Tod gelesen, er hat sogar das Datum dazugeschrieben, das war die erste Lektüre, im vorletzten Jahr, am 24. Januar 1975, und als er mir davon erzählte, das war letzten Herbst. Da hat er mir davon erzählt. Und ganz am Ende lag der Seneca auf seinem Nachttisch, er hat sich von dem Buch nicht mehr getrennt. Lucilius, du hast mir die Frage gestellt: Warum, wenn eine Vorsehung die Welt lenkt, widerßihrt gutem Menschen soviel Unglück? Das hat er gelesen, und auf Seite 257 ist etwas angestrichen, hier: Es schlägt uns und -verwundet das Schicksal? Wir wollen es erdulden: Nicht ist es Roheit; Kampf ist es; je öfter wir ihn auf uns nehmen, desto tapfrer werden wir sein. Er hat es nicht nur angestrichen, er hat es auch hinten im Buch notiert: >Leiden, 23, 27<. Die Zahl 27 ist unterstrichen, weil er die Stelle wichtig fand. Mann, wir müssen es nur lesen! Oder das Ende, wo die Antwort kommt, hier, Seite 41, bitte... wir müssen es nur lesen: Mag nun den Hals eine Schlinge zudrücken, mag den Atem Wasser absperren, mag den, der auf den Kopf fällt, die Härte des Bodens zerschellen lassen, mag eingeatmete Feuerhitze dem Odem den Weg abschneiden, was immer es ist, es geschieht rasch. Schämt ihr euch nicht? Was so schnell eintritt, fürchtet ihr so lange! Das hat er am Ende gelesen, und wir hatten keine Ahnung. Wir wußten nichts, und jetzt... jetzt lügen wir. Vielleicht... also, vielleicht ist er ja gegangen, weil wir ihm ... zuwenig waren? Das könnte doch sein. Er hat sich nicht von uns verabschiedet. Aber wir haben uns auch nicht von ihm verabschiedet, glaube ich. Ich höre jetzt auf Ich habe noch eine Fürbitte. Daß der Herr ... also, er muß uns Wahrhaftigkeit geben, würde ich sagen. Das vor allem.« Ich guckte kurz in die vielen Gesichter, die großen Augen und offenen Münder. Dann ging ich und setzte mich auf meinen Platz.
»Wir bitten dich, erhöre uns«, sagte Bruder Albertus mit der schleppenden Gottesdienststimme, die bedeutete, daß die Gemeinde sich aufraffen und mitmachen soll. Aber die Gemeinde raffte sich nicht auf, und niemand machte mit.
Jetzt ging der fünfte Fürbittenvorleser zum Ambo und las seine Fürbitte vor. Diesmal war die Gemeinde zur Stelle und sagte: »Wir bitten dich, erhöre uns.«
Der Fürbittenvorleser ging die fünf Stufen wieder nach unten.
Als die Andacht vorbei war, drängelte ich mich zum Ausgang durch, ließ auch das Weihwasserbecken links liegen, an allen vorbei, die mich ansahen und mir Fragen stellten und sogar noch Sätze hinterherriefen, selbst von Motte wollte ich mich nichts fragen lassen, ich stieß alle beiseite und rannte, so schnell ich konnte, über den Marmorplatz, über die erste Collegiumsbrücke, dann am Graben entlang, vorbei am wilden Heiligen und Richtung Pferdewiese. Keiner folgte mir.
Diesen Lauf hatte ich mir oft vorgestellt, ist das nicht komisch? Den Lauf nach der Andacht für Bruder Gregor. Und immer, wenn ich mir diesen Lauf in den letzten dreißig oder vierzig Stunden vorgestellt hatte, sah ich mich dabei in kurzen Hosen, als das Kind, das ich bei Schwester Gemeinnutz gewesen war.“
~ * ~
Marko erlebt seine Befreiung; er hat seine schlimmen Erinnerungen aus Kampf- und Krampfzeiten im Juvenat und in den anderen Häusern der Internatsschule verarbeitet; er hat die Stunde der Wahrheit genutzt; er hat im Altarraum, fünf Stufen hoch, am Ambo, der der Verkündigung sich nicht als bestellter Lügner, als Täuscher missbrauchen lassen.
Er ist frei, er kann sich im Wegrennen als Kind fühlen, als Könner, als unbeschwerter Vertreter seiner Kreativität und Wahrheitsliebe; als Robinson, der sich gerettet hat von der "Insel der Einsamen".
Er hat eine eigenmotivierte Beichte abgelegt, er hat die passenden Worte gefunden; und sie sind das Gegenteil von den Inquisitionsinszenarien, die der Präses und der Bruder Hermann mit ihm geführt haben, als sie ihn vorführen wollten: als Onanisten, als mangelnden, nicht gut gerüsteten Antikommunismus-Kämpfer, als Verräter, als Marko nicht wusste, was er gestehen und wen er verraten sollte.
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Diese psychiche und religiöse Auseinandersetzung eines einzelnen, wahrheits- und vernunftbegabten, nicht kuschenden Schülers gestaltet Paul Ingendaay mit dem Ernst einer Beichte, einer geistigen und körperlichen Befreiung...
... nachzulesen in - oder vorzulesen aus: "Warum du mich verlassen hast". Roman und literarisch-psychisches Transformatorium, d.h. inneres Realium (S. 468-472.)
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Kurzüberblick über den Roman und viele, alle positiven Rezensionen (nicht nur in den ausgeschnittenen Zitaten):
S. TIPP:
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Dass man andere - Unbescholtene - durch einen längeren Text zum Lesen zwingen könnte - nein, das habe ich noch nie vermutet.
Wer das nicht versteht, kann darüber hinweg-lesen. (Na, klar!)
Ich beende also auch die Vorstellung dieses Romans und des flott nachvollziehbaren Hörspiels - und verweise nur noch auf eine Rezension, die man auch ("vorlesen") lassen kann.
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longtime
Wer das nicht versteht, kann darüber hinweg-lesen. (Na, klar!)
Ich beende also auch die Vorstellung dieses Romans und des flott nachvollziehbaren Hörspiels - und verweise nur noch auf eine Rezension, die man auch ("vorlesen") lassen kann.
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