Literatur Schöne Lyrik

Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona



Am Walde
E. Mörike (1804 - 1875)

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen;
er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
wo ich auf eigne Weise mich behage.

Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.

Denn des Sonetts gedrängte Kränze flechten
sich wie von selber unter meinen Händen,
indes die Augen in der Ferne weiden.

Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen-
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona



Herbst
Th. Storm 1817 - 1888

Schon ins Land der Pyramiden
flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
und die Sonne scheint nicht mehr.

Seufzend in geheimer Klage
streift der Wind das letzte Grün;
und die süßen Sommertage,
ach, sie sind dahin, dahin!

Nebel hat den Wald verschlungen,
der dein stilles Glück gesehn;
ganz in Duft und Dämmerungen
will die schöne Welt vergehn.

Nur noch einmal bricht die Sonne
unaufhaltsam durch den Duft,
und ein Strahl der alten Wonne
rieselt über Tal und Kluft.

Und es leuchten Wald und Heide,
dass man sicher glauben mag:
hinter allem Winterleide
liegt ein ferner Frühlingstag.

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Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna





Herbstliebe

Eine Rose, nicht im Lenze
Aufgeblühet, weih’ Ich dir;
Nicht mehr ist die Zeit der Kränze:
Herbst gewähr’ ich dort und hier.
Nicht mehr an den grünen Lauben
Unter vielen, einsam nur
Prangte sie, als sie zu rauben
Ich durchschritt die Nachbarflur.

In des Jahres später’n Tagen
Knospete sie, kurz zu blüh’n!
Rauhe Stürme weh’n und klagen,
Und die Blätter fallen hin.
Doch zum Lenze kehrt mein Leben,
Und mir strahlt die Sonn’ und glüht,
Wenn die Rose im Erbeben
Dir am jungen Herzen blüht.

Suche nicht mich zu vermeiden;
Mädchen, sinne nicht auf Flucht;
Diese Blume soll dich kleiden,
Folge dem, wer treu dich sucht.
Manches Glück ist spät gediehen, —
Deine Trän’ ist Rosentau:
Wenn im Herbst die Nebel fliehen,
Lacht das reinste Himmelsblau.

Sebastian Franz Daxenberger
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona



Im Herbste


(Theodor Storm)

Es rauscht, die gelben Blätter fliegen,

am Himmel steht ein fahler Schein;

du schauerst leis und drückst dich fester

in deines Mannes Arm hinein.



Was nun von Halm zu Halme wandelt,

was nach den letzten Blumen greift,

hat heimlich im Vorübergehen

auch dein geliebtes Haupt gestreift.



Doch reißen auch die zarten Fäden,

die warme Nacht auf Wiesen spann -

es ist der Sommer nur, der scheidet;

was geht denn uns der Sommer an!



Du legst die Hand an meine Stirne

und schaust mir prüfend ins Gesicht;

aus deinen milden Frauenaugen

bricht gar zu melancholisch Licht.



Erlosch auch hier ein Duft, ein Schimmer,

ein Rätsel, das dich einst bewegt,

dass du in meine Hand gefangen

die freie Mädchenhand gelegt?



O schaudre nicht!
Ob auch unmerklich der schönste Sonnenschein verrann -

es ist der Sommer nur, der scheidet;

was geht denn uns der Sommer an!



Milan
Milan
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Milan
@Sirona

Danke für die schönen Herbsgedichte,aber lasst doch bitte noch einige für nächstes Jahr übrig. Eine schöne Woche wünscht der

Milan

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Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Milan vom 04.10.2016, 16:43:01
Hast ja Recht, Milan. Aber momentan ist mir so „herbstlich“, muss wohl an der Jahreszeit liegen.
Dann mal ein Gedicht das vom „Herbst“ einer Mutter handelt.

LG Sirona


(Gerhardt Wilhelm von Reutern 1843)

Mutterns Hände
Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm -
un jewischt und jenäht
un jemacht und jedreht ...
alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
uns Bonbongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen -
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält ...
alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
bei jroßen Schkandal
auch n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht,
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben ...
alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.
Milan
Milan
Mitglied

Parasiten
geschrieben von Milan
Parasiten

Kennst du jene Menschen nicht?
Die da lungern wie Hyänen –
Sich wie Schlangen winden, dehnen,
Deren Aug' in Räthsel spricht? –

Kennst du jene Menschen nicht?
Die da lieblich zu dir reden,
Dein Vertrauen zu beleben,
Mit 'nem Janus-Angesicht –

Sieh! – in höhern Regionen
Gilt gar viel des Gleißners Wort,
Ja, selbst bis zu Fürstenthronen
Wagt sich der Dämonon-Sport.

Eines solchen Menschen Auge
Birgt in sich die ganze Hölle,
Wie es funkelt nach dem Raube
In des Räubers Wimpernzelle.

Hüte dich – zu offenbaren
Einem solchen, was dich drückt!
Thust du's – wirst es schon erfahren,
Wie dein Glück ist bald geknickt!

Und vergebens ist dein Ringen
Nach dem, was verloren du,
Keines! – wird's dir wiederbringen,
Spott und Hohn hast noch dazu.

Weißt du, wie der Volksmund nennt
Solche tief verkomm'ne Geister,
Jeder wohl den Ausdruck kennt,
Heißt er doch: "Das sind Klug…!"

Leonidas und seine Treuen
Merk's dir! – fielen durch Verrath,
Kann man Solches! wohl verzeihen, –
Des Lumpen – Ephialtes – That?

Kennst du jene Menschen nicht?
Die da lungern wie Hyänen –
Sich wie Schlangen winden, dehnen,
Deren Aug' in Räthsel spricht? –

Kennst du jene Menschen nicht?
Die da lieblich zu dir reden,
Dein Vertrauen zu beleben,
Mit 'nem Janus-Angesicht –

Sieh! – in höhern Regionen
Gilt gar viel des Gleißners Wort,
Ja, selbst bis zu Fürstenthronen
Wagt sich der Dämonon-Sport.

Eines solchen Menschen Auge
Birgt in sich die ganze Hölle,
Wie es funkelt nach dem Raube
In des Räubers Wimpernzelle.

Hüte dich – zu offenbaren
Einem solchen, was dich drückt!
Thust du's – wirst es schon erfahren,
Wie dein Glück ist bald geknickt!

Und vergebens ist dein Ringen
Nach dem, was verloren du,
Keines! – wird's dir wiederbringen,
Spott und Hohn hast noch dazu.

Weißt du, wie der Volksmund nennt
Solche tief verkomm'ne Geister,
Jeder wohl den Ausdruck kennt,
Heißt er doch: "Das sind Klug…!"

Leonidas und seine Treuen
Merk's dir! – fielen durch Verrath,
Kann man Solches! wohl verzeihen, –
Des Lumpen – Ephialtes – That?

Verfasser unbekannt
Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Neue Liebe

Herz, mein Herz, warum so fröhlich,
So voll Unruh und zerstreut,
Als käm über Berge selig
Schon die schöne Frühlingszeit?

Weil ein liebes Mädchen wieder
Herzlich an dein Herz sich drückt,
Schaust du fröhlich auf und nieder,
Erd und Himmel dich erquickt.

Und ich hab die Fenster offen,
Neu zieh in die Welt hinein
Altes Bangen, altes Hoffen!
Frühling, Frühling soll es sein!

Still kann ich hier nicht mehr bleiben,
Durch die Brust ein Singen irrt,
Doch zu licht ist's mir zum Schreiben,
Und ich bin so froh verwirrt.

Also schlendr' ich durch die Gassen,
Menschen gehen her und hin,
Weiß nicht, was ich tu und lasse,
Nur, daß ich so glücklich bin.

Joseph Freiherr von Eichendorff
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
An die Musik
(Franz von Schober 1796-1882)

Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden,
wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,
hast mich in eine bessre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf' entflossen,
ein süßer, heiliger Akkord von dir
den Himmel bessrer Zeiten mir erschlossen,
du holde Kunst, ich danke dir dafür!

Vertont Franz Schubert


Diese Vertonung ist eines der bekanntesten Lieder von Franz Schubert. Er komponierte es im Jahr 1817, als er die Verse seines Freundes Franz von Schober gelesen hatte. 10 Jahre später und 1 Jahr vor seinem Tode widmete er es dem Wiener Klaviervirtuosen Albert Sowinsky.
Fast alle namhaften Sängerinnen und Sänger haben dieses Lied in ihr Repertoire aufgenommen; das obige Video gibt die Interpretation mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore wieder, ein Duo das fast alle Schubert-Lieder eingespielt hat.

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