Literatur Schöne Lyrik

LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
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November
Solchen Monat muß man loben:
Keiner kann wie dieser toben,
keiner so verdrießlich sein
und so ohne Sonnenschein!
Keiner so in Wolken maulen,
keiner so mit Sturmwind graulen!
Und wie naß er alles macht!
Ja, es ist ′ne wahre Pracht.
 
Seht das schöne Schlackerwetter!
Und die armen welken Blätter,
wie sie tanzen in dem Wind
und so ganz verloren sind!
Wie der Sturm sie jagt und zwirbelt
und sie durcheinander wirbelt
und sie hetzt ohn′ Unterlaß:
Ja, das ist Novemberspaß!
 
Und die Scheiben, wie sie rinnen!
Und die Wolken, wie sie spinnen
ihren feuchten Himmelstau
ur und ewig, trüb und grau!
Auf dem Dach die Regentropfen:
Wie sie pochen, wie sie klopfen!
Schimmernd hängt′s an jedem Zweig,
einer dicken Träne gleich.
 
Oh, wie ist der Mann zu loben,
der solch unvernüft′ges Toben
schon im voraus hat bedacht
und die Häuser hohl gemacht;
sodaß wir im Trocknen hausen
und mit stillvergnügtem Grausen
und in wohlgeborgner Ruh
solchem Greuel schauen zu.
Heinrich Seidel (1842- 1906)

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Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
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Alleingelassen bei Erinnerungen


Jetzt sitzt der weiße Schlaf vor allen Wintertüren,
Die Fenster sind gleich blassen Eierschalen,
Dahinter leben Straßen voll Gespenster
Und Stimmen, die uns ferne Menschen malen.

Man kann die Welt nicht sehen und nur spüren.
Wie Blinde ahnt man dunkel das Geschehen,
Alleingelassen bei Erinnerungen,
Die an den Türen wie die Bettler stehen,

Die bei den Ofenflammen warm sich rühren,
Erregt mit nimmersatten Hungerzungen.
Sie können uns an magern Händen führen
Und haben in der Asche noch nicht ausgesungen.


Max  Dauthendey

 
LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
Drossel.png

Wintermärchen
Auf dem Baum vor meinem Fenster
Saß im rauhen Winterhauch
Eine Drossel, und ich fragte:
»Warum wanderst du nicht auch?
 
Warum bleibst du, wenn die Stürme
Brausen über Flur und Feld,
Da dir winkt im fernen Süden
Eine sonnenschöne Welt?«
 
Antwort gab sie leisen Tones:
»Weil ich nicht wie andre bin,
die mit Zeiten und Geschicken
Wechseln ihren leichten Sinn.
 
Die da wandern nach der Sonne
Ruhelos von Land zu Land,
Haben nie das stille Leuchten
In der eignen Brust gekannt.
 
Mir erglüht's mit ew'gem Strahle
– Ob auch Nacht auf Erden zieht –,
sing' ich unter Flockenschauern
Einsam ein erträumtes Lied.
 
Wundersamer Trost der Schmerzen!
Doch nur jene kennen ihn,
Die in Nacht und Sturm beharren
Und vor keinem Winter fliehn.
 
Dir auch leuchtet hell das Auge;
Deine Wange zwar ist bleich;
Doch es schaut der Blick nach innen
In das ew'ge Sonnenreich.
 
Laß uns hier gemeinsam wohnen,
Und ein Lied von Zeit zu Zeit
Singen wir von dürrem Aste
Jenem Glanz der Ewigkeit.«

Otto Ernst (1862 - 1926), deutscher Erzähler
 

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Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
winterfenster.jpg
Adventszeit  - Verfasser unbekannt

Zwei Menschen dort am Fenster sitzen
man sieht nur ihre Brillen blitzen,
ein jeder scheint allein zu sein,
am Fenster bei strahlendem Sonnenschein.

Keine Gesten, kein freundliches Wort,
warum sind Menschen so verbohrt.
Ein Lächeln kann schnell Brücken schlagen,
man sollte es nur einfach wagen.

Die Tasse Tee bei Kerzenschein
schmeckt gemeinsam besser, als allein.
Und nächstes Jahr zur Weihnachtszeit
sind sie wieder am Fenster - doch diesmal zu zweit.



 
Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
DSCF0627.JPGEigenes Foto - Rothenburg o.T.

Ich geh‘ durch die alten Gassen
und wandre von Haus zu Haus,
ich kann mich noch immer nicht fassen,
sieht alles so trübe aus.

Da gehen viel Männer und Frauen
die alle so lustig sehn,
die fahren und lachen und bauen,
daß mir die Sinne vergehn.

Oft wenn ich bläuliche Streifen
seh‘ über die Dächer fliehn,
Sonnenschein draußen schweifen,
wo Wolken am Himmel ziehn.

Da treten mitten im Scherze
die Tränen ins‘ Auge mir,
denn die mich liebt von Herzen
ist so weit fort von mir.

(J. v. Eichendorff)


 
Jole
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Jole

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Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin - bereit
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

 

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Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Jole vom 14.12.2023, 10:55:56

Wow! Was für ein wunderschönes winterliches Bild, passend zu den Worten von Rilke. 😁
 

Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Hirten.jpg
Weihnachten - Eduard Mörike

Gesegnet sei die heilige Nacht,
die uns das Licht der Welt gebracht! –
Wohl unterm lieben Himmelszelt
die Hirten lagen auf dem Feld.
Ein Engel Gottes, licht und klar,
mit seinem Gruß tritt auf sie dar.

Vor Angst sie decken ihr Angesicht,
da spricht der Engel: “Fürcht’ euch nicht!”
“Ich verkünd euch große Freud:
Der Heiland ist geboren heut.”

Da gehn die Hirten hin in Eil,
zu schaun mit Augen das ewig Heil;
zu singen dem süßen Gast Willkomm,
zu bringen ihm ein Lämmlein fromm. –

Bald kommen auch gezogen fern
die heilgen drei König’ mit ihrem Stern.
Sie knieen vor dem Kindlein hold,
schenken ihm Myrrhen, Weihrauch, Gold.

Vom Himmel hoch der Engel Heer
frohlocket: “Gott in der Höh sei Ehr!”

Ich wünsche allen Lyrikfreunden/innen ein gesegnetes Weihnachtsfest - - verbunden mit der Hoffnung dass die Regierenden der Welt endlich Frieden auf Erden wollen.

Liebe Grüße
Helga





 
Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Christkind im Walde.jpg

Christkind im Walde


Christkind kam in den Winterwald,
der Schnee war weiß, der Schnee war kalt.
Doch als das heil'ge Kind erschien,
fing's an, im Winterwald zu blühn.

Christkindlein trat zum Apfelbaum,
erweckt ihn aus dem Wintertraum.
"Schenk Äpfel süß, schenk Äpfel zart,
schenk Äpfel mir von aller Art!"

Der Apfelbaum, er rüttelt sich,
der Apfelbaum, er schüttelt sich.
Da regnet's Äpfel ringsumher;
Christkindlein's Taschen wurden schwer.

Die süßen Früchte alle nahm's,
und so zu den Menschen kam's.
Nun, holde Mäulchen, kommt, verzehrt,
was euch Christkindlein hat beschert!

Ernst von Wildenbruch (1845-1909)


Damals - und auch noch zu meiner Kinderzeit - hatten sich die Kinder noch über Äpfel, Nuß und Mandelkern gefreut, gab es doch diese Köstlichkeiten nur selten im ganzen Jahr. Und wenn sie dann ausgerechnet vom Christkind kamen, schmeckten diese Köstlichkeiten dann natürlich ganz besonders.

Ich wünsche Euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest verbunden mit der Hoffnung dass es endlich Frieden auf Erden geben mag.

Herzliche Grüße
Helga


 
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
Ein Stern wie viele andre.png

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