Literatur Schöne Lyrik

Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Krieg.jpg
Absage
(Kurt Tucholsky)

Noch einmal? Ich dächte, wir hätten jetzt Frieden?
Über Gesetze wird friedlich entschieden…
Ein Straßensturm auf ein Parlament
ist kein Argument.

Diese Matrosen sind keine Matrosen.
Dazwischen Schwärme von Arbeitslosen.
Kämpfer. Banausen. Neugierige. Mob.
Nun aber Stop –!

Das Parlament ist ein Spiegel des Landes.
Da sitzen Vertreter jeden Standes.
Will euch die Politik verdrießen –:
Wählen! Nicht schießen!

Eine Gasse der Freiheit – nicht eine Gosse!
Rückt ab von jenem Lärmmachertrosse!
Wir brauchen Ruhezeit. So wird das nie
eine Demokratie –!



LisaK
LisaK
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
Ein Samariter 1.png
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Manchmal fallen mir Verse aus Gedichten ein, die ich gelesen habe, meist ohne daß ich genau zu sagen wüßte, warum gerade dieser Vers und warum gerade jetzt. So war es auch mit dem Vers "Schmerzen zu leiden, Schmerzen zuzufügen", worin, dem Gedicht zufolge, aus dem er stammt, das Leben wesentlich besteht, und der mir vor einiger Zeit unversehens durch den Kopf ging und seither immer mal wieder.

Er steht in dem monologischen Gedicht Der Jüngling und die Spinne von Hugo von Hofmannsthal, in dem es um den Verlust jugendlicher Illusionen und das Erwachen zur Realität des Lebens geht – ein Vorgang, den wohl viele früher oder später durchleben (wenn nicht, ist man als Realist auf die Welt gekommen oder man bleibt, was schlimm wäre, für immer Träumer...).


Der Jüngling und die Spinne


Der Jüngling
(vor sich mit wachsender Trunkenheit)
 
Sie liebt mich! Wie ich nun die Welt besitze
Ist über alle Worte, alle Träume:
Mir gilt es, daß von jeder dunklen Spitze
Die stillen Wolken tieferleucht′te Räume
Hinziehn, von ungeheurem Traum erfaßt:
So trägt es mich - daß ich mich nicht versäume! –
Dem schönen Leben, Meer und Land zu Gast.
Nein! wie ein Morgentraum vom Schläfer fällt
Und in die Wirklichkeit hineinverblaßt,
Ist mir die Wahrheit jetzt erst aufgehellt:
Nicht treib ich als ein Gast umher, mich haben
Dämonisch zum Gebieter hergestellt
Die Fügungen des Schicksals: Junge Knaben
Sind da, die Ernst und Spiele von mir lernten,
Ich seh, wie manche meine Mienen haben,
Geheimnisvoll ergreift es mich, sie ernten
Zu sehn; und an den Ufern, an den Hügeln
Spür ich in einem wundervoll entfernten
Traumbilde sich mein Innerstes entriegeln
Beim Anblick, den mir ihre Taten geben.
Ich schaue an den Himmel auf, da spiegeln
Die Wolkenreiche, spiegeln mir im Schweben
Ersehntes, Hergegebnes, mich, das Ganze!
Ich bin von einem solchen großen Leben
Umrahmt, ich habe mit dem großen Glanze
Der schönen Sterne eine also nah
Verwandte Trunkenheit –
Nach welcher Zukunft greif ich Trunkner da?
Doch schwebt sie her, ich darf sie schon berühren:
Denn zu den Sternen steigt, was längst geschah,
Empor, und andre, andre Ströme führen
Das Ungeschehene herauf, die Erde
Läßt es empor aus unsichtbaren Türen,
Bezwungen von der bittenden Gebärde!

 
So tritt er ans offene Fenster, das mit hellem Mondlicht angefüllt und von den Schatten wilder Weinblätter eingerahmt ist. Indem tritt unter seinen Augen aus dem Dunkel eines Blattes eine große Spinne mit laufenden Schritten hervor und umklammert den Leib eines kleinen Tieres. Es gibt in der Stille der Nacht einen äußerst leisen, aber kläglichen Laut und man meint die Bewegungen der heftig umklammernden Glieder zu hören.
 
Der Jüngling
(muß zurücktreten)
 
Welch eine Angst ist hier, welch eine Not.
Mein Blut muß ebben, daß ich dich da sehe,
Du häßliche Gewalt, du Tier, du Tod!
Der großen Träume wundervolle Nähe
Klingt ab, wie irgendwo das ferne Rollen
Von einem Wasserfall, den ich schon ehe
Gehört, da schien er kühn und angeschwollen,
Jetzt sinkt das Rauschen, und die hohe Ferne
Wird leer und öd aus einer ahnungsvollen:
Die Welt besitzt sich selber, o ich lerne!
Nicht hemme ich die widrige Gestalt,
So wenig als den Lauf der schönen Sterne.
Vor meinen Augen tut sich die Gewalt,
Sie tut sich schmerzend mir im Herzen innen,
Sie hat an jeder meiner Fibern Halt,
Ich kann ihr - und ich will ihr nicht entrinnen:
Als wärens Wege, die zur Heimat führen,
Reißt es nach vorwärts mich mit allen Sinnen
Ins Ungewisse, und ich kann schon spüren
Ein unbegreiflich riesiges Genügen
Im Vorgefühl: ich werde dies gewinnen:
Schmerzen zu leiden, Schmerzen zuzufügen.
Nun spür ich schaudernd etwas mich umgeben,
Es türmt sich auf bis an die hohen Sterne,
Und seinen Namen weiß ich nun: das Leben.
 
(Hugo von Hofmannsthal)
 

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Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Liebespaar.jpg
In meiner Verborgenheit
Wilhelm Busch (1832 - 1908)

Ade, ihr Sommertage
wie seid ihr so schnell enteilt,
gar mancherlei Lust und Plage
habt ihr uns zugeteilt.

Wohl war es ein Entzücken,
zu wandeln im Sonnenschein,
nur die verflixten Mücken
mischten sich immer darein.

Und wenn wir auf den Waldeswegen
dem Sange der Vögel gelauscht,
dann kam natürlich ein Regen
auf uns hernieder gerauscht.

Die lustigen Sänger haben
nach Süden sich aufgemacht,
bei Tage krächzen die Raben,
die Käuze schreien bei Nacht.

Was ist das für ein Gesause!
Es stürmt bereits und schneit.
Da bleiben wir zwei zu Hause
in trauter Verborgenheit.

Kein Wetter kann uns verdrießen.
Mein Liebchen, ich und du,
wir halten uns warm und schließen
hübsch feste die Türen zu. 

 
LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 19.10.2023, 15:59:50

Hallo Wilfried_54
ich muss gestehen, dass ich das Gedicht mehrmals lesen musste, um es inhaltlich zu verstehen.
Sehr hilfreich fand ich dabei deinen erklärenden Einstieg.
 
Der Jüngling und die Spinne von Hugo von Hofmannsthal, in dem es um den Verlust jugendlicher Illusionen und das Erwachen zur Realität des Lebens geht – ein Vorgang, den wohl viele früher oder später durchleben (wenn nicht, ist man als Realist auf die Welt gekommen oder man bleibt, was schlimm wäre, für immer Träumer...).
 
Deine von mir zitierte und fett gedruckte Aussage über Realisten und Träumer gefällt mir gut.
LG Lisa

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf LisaK vom 24.10.2023, 11:54:34

Deine von mir zitierte und fett gedruckte Aussage über Realisten und Träumer gefällt mir gut.

Freut mich, Lisa, daß dir meine Anmerkung zu Hofmannsthals Gedicht gefällt. Aber ich hoffe, das Gedicht gefällt dir noch viel mehr.

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LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
 
Um.png

Der Segen des Geizigen
Einst ging ein Bischof durch die Stadt.
Ein Bettelbube zu ihm trat,
Zog vor ihm ab gar tief den Hut
Und sagt: "Herr, seien Sie so gut,
Bis an den Hals steck ich in Schulden,
Und schenken Sie mir einen Gulden
Zu diesem lieben neuen Jahr,
Das wär' ein christlich Werk fürwahr!"
"Was", schrie der Bischof eifersvoll,
"Ich glaube, Junge, du bist toll!
Ein Gulden bei so schlechter Zeit
Ist wahrlich keine Kleinigkeit!"
"Nun Herr", fiel im der Bettler ein,
"So mögen's denn acht Groschen sein."
"Nichts, nichts", versetzt der Bischof drauf
"Geh fort und halte mich nicht auf!"
"Ihr Gnaden, einen Groschen dann."
"Fort, fort! Auch den nicht." – "Nun wohlan!
Sie sehn, wie ich mich handeln lasse.
Ein Hellerchen?" – "Geh deiner Straße!"
Nichts, gar nichts! – das ist etwas arg",
sprach drauf der Bube, "Sie sind karg!
Doch lassen Sie sich dann bewegen
Und geben mir nur Ihren Segen?"
"Den sollst du haben, lieber Sohn",
Erwiderte mit süßem Ton
Der Geistliche: "Knie hin vor mir,
Den besten Segen geb ich dir!"
"So?" sprach der Bursche ganz verwegen,
"Behalten Sie nur Ihren Segen!
Ich hab ihn zu geschwind begehrt.
Wär er nur einen Heller wert,
Sie gäben ihn, hochwürd'ger Herr,
Gewiß nicht so gutwillig her."

Justus Friedrich Wilhelm Zachariä (1726 - 1777), deutscher Schriftsteller
 
 
 
 
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
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Herbstlied - A. H. Hoffmann v. Fallersleben 

Der Frühling hat es angefangen,
der Sommer hat‘s vollbracht.
Seht, wie mit seinen roten Wangen
so mancher Apfel lacht!

Es kommt der Herbst mit reicher Gabe,
er teilt sie fröhlich aus,
und geht dann, wie am Bettelstabe
ein armer Mann nach Haus.

Voll sind die Speicher nun und Gnaden,
dass nichts uns mehr gebricht.
Wir wollen ihn zu Gaste laden,
er aber will es nicht.

Er will uns ohne Dank erfreuen,
kommt immer wieder her:
Laßt uns das Gute drum erneuen,
dann sind wir gut wie er.




 
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
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Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Afghanistan.jpg
Das Trauerspiel von Afghanistan 1859 - Th. Fontane

Der Schnee leis' stäubend vom Himmel fällt,
ein Reiter vor Dschellalabad hält.
"Wer da!" - "Ein britischer Reitersmann,
bringe Botschaft aus Afghanistan."

Afghanistan! Er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
sie setzen ihn nieder an den Kamin,
wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
er atmet hoch auf und dankt und spricht:

"Wir waren dreizehntausend Mann,
von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Zersprengt ist unser ganzes Heer,
was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
seht zu, ob den Rest ihr retten könnt."

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all',
Sir Robert sprach: "Der Schnee fällt dicht,
die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
so laßt sie's hören, daß wir da,
stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!"

Da huben sie an und sie wurden's nicht müd',
durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
laut, wie nur die Liebe rufen mag,
sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
vernichtet ist das ganze Heer,
mit dreizehntausend der Zug begann,
einer kam heim aus Afghanistan.


 

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