Literatur Schöne Lyrik

Michiko
Michiko
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Michiko
Gefunden

Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich ein Blümchen steh'n,
wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.

Ich wollt' es brechen, da sagt' es fein:
Soll ich zum Welken gebrochen sein?

Ich grub's mit allen den Würzlein aus,
zum Garten trug ich's, am hübschen Haus,

Und pflanzt es wieder am stillen Ort;
Nun zweigt es immer und blüht so fort.


Zum heutigen Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe

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craiyon
Maikäfer
Maikäfer
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Maikäfer



gruene-blaetter-photosynthese.jpgWelkes Blatt

Jede Blüte will zur Frucht,
jeder Morgen Abend werden.
Ewiges ist nicht auf Erden
als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
einmal Herbst und Welke spüren.
Halte Blatt, geduldig still,
wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
lass es still geschehen,
lass vom Winde, der dich bricht,
dich nach Hause wehen.

Hermann Hesse
Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna

LG
Roxanna

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Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Leben.jpg
Lied des Lebens
Johann Gottfried Herder

Flüchtiger als Wind und Welle
flieht die Zeit; was hält sie auf?
Sie genießen auf der Stelle,
sie ergreifen schnell im Lauf;
das, ihr Brüder, hält ihr Schweben,
hält die Flucht der Tage ein. a
Schneller Gang ist unser Leben,
laßt uns Rosen  aauf ihn streun.

Rosen; denn die Tage sinken
in des Winters Nebelmeer.
Rosen; denn sie blühn und blinken
links und rechts noch um uns her.
Rosen stehn auf jedem Zweige
jeder schönen Jugendtat.
Wohl ihm, der bis auf die Neige
rein gelebt sein Leben hat.

Tage, werdet uns zum Kranze
der des Greises Schläf' umzieht.
Und um sie in frischem Glanze
wie ein Traum der Jugend blüht.
Auch die dunkeln Blumen kühlen
uns mit Ruhe, doppelt süß;
und die lauen Lüfte spielen
freundlich uns ins Paradies.




 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Westfalen.jpg
Ein Loblied auf die Westfalen

Deutschland - ein Wintermärchen - H. Heine
Caput X

Dicht hinter Hagen ward es Nacht,
und ich fühlte in den Gedärmen
ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst
zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen.

Ein hübsches Mädchen fand ich dort,
die schenkte mir freundlich den Punsch ein;
wie gelbe Seide das Lockenhaar,
die Augen sanft wie Mondschein.

Den lispelnd westfälischen Akzent
vernahm ich mit Wollust wieder.
Viel süße Erinnerung dampfte der Punsch,
ich dachte der lieben Brüder.

Der lieben Westfalen, womit ich so oft
in Göttingen getrunken,
bis wir gerührt einander ans Herz
und unter die Tische gesunken!
 
Ich habe sie immer so lieb gehabt,
die lieben, guten Westfalen,
ein Volk, so fest, so sicher, so treu,
ganz ohne Gleißen und Prahlen.

Wie standen sie prächtig auf der Mensur
mit ihren Löwenherzen!
Es fielen so grade, so ehrlich gemeint,
Die Quarten und die Terzen.

Sie fechten gut, sie trinken gut,
und wenn sie die Hand dir reichen
zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie;
sind sentimentale Eichen.

Der Himmel erhalte dich, wackres Volk,
er segne deine Saaten,
bewahre dich vor Krieg und Ruhm,
vor Helden und Heldentaten.

Er schenke deinen Söhnen stets
ein sehr gelindes Examen,
und deine Töchter bringe er hübsch
unter die Haube - Amen!






 
LisaK
LisaK
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK

Die Zeit geht nicht
Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserei,
wir sind die Pilger drin.
 
Ein Etwas, form- und farbenlos,
das nur Gestalt gewinnt,
wo ihr drin auf und nieder taucht,
bis wieder ihr zerrinnt.
 
Es blitzt ein Tropfen Morgentau
im Strahl des Sonnenlichts, –
ein Tag kann eine Perle sein
und hundert Jahre – nichts!
 
Es ist ein weißes Pergament,
die Zeit; und jeder schreibt
mit seinem besten Blut darauf,
bis ihn der Strom vertreibt.
 
An dich, du wunderbare Welt,
du Schönheit ohne End,
schreib ich 'nen kurzen Liebesbrief
auf dieses Pergament.
 
Froh bin ich, dass ich aufgetaucht
in deinem runden Kranz;
zum Dank trüb ich die Quelle nicht
und lobe deinen Glanz!

(Gottfried Keller, 1819-1890, Schweizer Dichter)

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LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
Unwandelbar.png
 
Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Jugendzeit.jpg
Aus der Jugendzeit
Friedrich Rückert (1788-1866)

Aus der Jugendzeit
klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit
was mein einst war!
Was die Schwalbe sang
die den Herbst und Frühling bringt;
ob das Dorf entlang
das jetzt noch klingt?
Als ich Abschied nahm
waren Kisten und Kasten schwer;
als ich wieder kam
war alles leer.

O du Kindermund, 
unbewusster Weisheit froh,
Vogelsprache kund 
wie Salomo!
O du Heimatflur
lass zu deinem heil’gen Raum
mich noch einmal nur
entfliehn im Traum!
Als ich Abschied nahm
war die Welt mir voll so sehr;
Als ich wieder kam
war alles leer.

Wohl die Schwalbe kehrt
und der leere Kasten schwoll,
ist das Herz geleert
wird’s nie mehr voll.
Keine Schwalbe bringt 
dir zurück, wonach du weinst;
doch die Schwalbe singt
im Dorf wie einst:
Als ich Abschied nahm
waren Kisten und Kasten schwer;
als ich wieder kam
war alles leer.

Auf dieses Gedicht bzw. Lied muss Theodor Storm in seiner Novelle „In St. Jürgen“ Bezug genommen haben. …… doch die Schwalbe singt ……. als ich wiederkam war alles leer. Eine sehr berührende Erzählung von zwei Liebenden, die die Lebensumstände getrennt haben.
Sehr empfehlenswerte Lektüre - wie alle Storm-Novellen.



 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
800px-DSC00104_Waschfrau.jpg
Zweites Lied von der alten Waschfrau
Adelbert von Camisso

Es hat euch anzuhören wohl behagt,
was ich von meiner Waschfrau euch gesagt;
Ihr habt's für eine Fabel wohl gehalten?
Fürwahr, mir selbst erscheint sie fabelhaft;
der Tod hat längst sie alle hingerafft,
die jung zugleich gewesen mit den Alten.

Dies werdende Geschlecht, es kennt sie nicht
und geht an ihr vorüber ohne Pflicht,
und ohne Lust, sich ihrer zu erbarmen.
Sie steht allein. Der Arbeit zu gewohnt,
hat sie, solang' es ging, sich nicht geschont;
jetzt aber, wehe der vergess'nen Armen!

Jetzt drückt darnieder sie der Jahre Last;
noch emsig thätig, doch entkräftet fast
gesteht sie ein: "So kann's nicht lange währen.
mag's werden, wie's der liebe Gott bestimmt;
wenn er nicht gnädig bald mich zu sich nimmt, -
nicht schafft's die Hand mehr - muss er mich ernähren."

Solang' sie rüstig noch beim Waschtrog stand,
war für den Dürst'gen offen ihre Hand;
da mochte sie nicht rechnen und nicht sparen.
Sie dachte bloß: "Ich weiß, wie Hunger thut." -
Vor eure Füsse leg' ich meinen Hut,
sie selber ist im Betteln unerfahren.

Ihr Fraun und Herrn, Gott lohn' es euch zumal,
er geb' euch dieses Weibes Jahre Zahl
und spät dereinst ein gleiches Sterbekissen!
Denn wohl vor allem, was man Güter heißt,
sind's diese beiden, die man billig preist:
Ein hohes Alter und ein rein Gewissen.


 
Allegra
Allegra
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Allegra
Dieses Gedicht war Unterrichtsstoff in der Schulzeit meines Schwiegervaters (geb. 1901),
woraus er manchmal (in der pathetischen Art seines Lehrers ) zitierte:


Ferdinand Freiligrath  (1838)

Die Auswanderer
Ich kann den Blick nicht von euch wenden;
Ich muß euch anschaun immerdar:
Wie reicht ihr mit geschäft'gen Händen
Dem Schiffer eure Habe dar!

Ihr Männer, die ihr von dem Nacken
Die Körbe langt, mit Brot beschwert,
Das ihr aus deutschem Korn gebacken,
Geröstet habt auf deutschem Herd;

Und ihr, im Schmuck der langen Zöpfe,
Ihr Schwarzwaldmädchen, braun und schlank,
Wie sorgsam stellt ihr Krüg' und Töpfe
Auf der Schaluppe grüne Bank!

Das sind dieselben Töpf' und Krüge,
Oft an der Heimat Born gefüllt!
Wenn am Missouri alles schwiege,
Sie malten euch der Heimat Bild:

Des Dorfes steingefaßte Quelle,
Zu der ihr schöpfend euch gebückt,
Des Herdes traute Feuerstelle,
Das Wandgesims, das sie geschmückt

Bald zieren sie im fernen Westen
Des leichten Bretterhauses Wand;
Bald reicht sie müden braunen Gästen,
Voll frischen Trunkes, eure Hand.


Es trinkt daraus der Tscherokese,
Ermattet, von der Jagd bestaubt;
Nicht mehr von deutscher Rebenlese
Tragt ihr sie heim, mit Grün belaubt.

O sprecht! warum zogt ihr von dannen?
Das Neckartal hat Wein und Korn;
Der Schwarzwald steht voll finstrer Tannen,
Im Spessart klingt des Älplers Horn.

Wie wird es in den fremden Wäldern
Euch nach der Heimatberge Grün,
Nach Deutschlands gelben Weizenfeldern,
Nach seinen Rebenhügeln ziehn!

Wie wird das Bild der alten Tage
Durch eure Träume glänzend wehn!
Gleich einer stillen, frommen Sage
Wird es euch vor der Seele stehn.

Der Bootsmann winkt! – Zieht hin in Frieden:
Gott schütz' euch, Mann und Weib und Greis!
Sei Freude eurer Brust beschieden,
Und euren Feldern Reis und Mais!

 

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