Literatur Schöne Lyrik

Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
1. Advent.jpg
Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
aber als Knecht Ruprecht schon
kommt der Winter hergeschritten,
und alsbald aus Schnees Mitten
klingt des Schlittenglöckleins Ton.

Und was jüngst noch, fern und nah,
bunt auf uns herniedersah,
weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
und das Jahr geht auf die Neige,
und das schönste Fest ist da.

Tag du der Geburt des Herrn,
heute bist du uns noch fern,
aber Tannen, Engel, Fahnen
lassen uns den Tag schon ahnen,
und wir sehen schon den Stern.

Autor: Theodor Fontane
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Sirona vom 01.12.2019, 14:01:02
BoticelliWeihnacht2.jpg

Friede auf Erden

Da die Hirten ihre Herde
ließen und des Engels Worte
trugen durch die niedre Pforte
zu der Mutter und dem Kind,
fuhr das himmlische Gesind
fort im Sternenraum zu singen,
fuhr der Himmel fort zu klingen:
"Friede! Friede! auf der Erde!"

Seit die Engel so geraten,
o wie viele blut'ge Taten
hat der Streit auf wildem Pferde,
der geharnischte, vollbracht!
In wie mancher heil'gen Nacht
sang der Chor der Geister zagend,
dringlich flehend, leis' verklagend:
"Friede, Friede...auf der Erde!"

Doch es ist ein ew'ger Glaube,
dass der Schwache nicht zum Raube
jeder frechen Mordgebärde
werde fallen allezeit:
Etwas wie Gerechtigkeit
webt und wirkt in Mord und Grauen,
und ein Reich will sich erbauen,
das den Frieden sucht der Erde.

Mählich wird es sich gestalten,
seines heil'gen Amtes walten
Waffen schmieden ohne Fährde
Flammenschwerter für das Recht,
und ein königlich Geschlecht
wird erblühn mit starken Söhnen,
dessen helle Tuben dröhnen:
"Friede, Friede auf der Erde!"

Conrad Ferdinand Meyer
11. 10. 1825 - 28. 11. 1898



Clematis
 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 25.11.2019, 08:26:05

@Clematis, danke für diesen Rilke,
ja, man sollte sich immer wieder daran erinnern
und unbeschwerter durchs Leben gehen.

Mal gelingt es, mal nicht,
aber versuchen will ich es.

Dezemberrose


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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
(Rainer Maria Rilke)
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
BILD1065.JPG


Schenken

Schenke groß oder klein,
Aber immer gediegen.
Wenn die Bedachten
Die Gaben wiegen,
Sei dein Gewissen rein.
Schenke herzlich und frei.
Schenke dabei
Was in dir wohnt
An Meinung, Geschmack und Humor,
So daß die eigene Freude zuvor
Dich reichlich belohnt.
Schenke mit Geist ohne List.
Sei eingedenk,
Daß dein Geschenk
Du selber bist.

 
Joachim Ringelnatz
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
2. advent.jpg(eigenes Foto)


Advent! - Weihnacht!

(Albert Geiger, 1866 - 1915)

Advent! In Duft und Dämmerstille
ruh’n schlafbefangen Wald und Feld,
doch heimlich geht ein leises Weben
vernehmbar durch die weite Welt,
Es hängt die zarten Silbernetze
verschwenderisch an Strauch und Baum,
und zwischen seinen feinen Maschen
blickt still hervor der Weihnachtstraum.

Weihnacht! Und leis’ mit goldnem Finger
hat uns der Kindheit Hand berührt.
Wir wandern schon die Märchenstraße
die in der Wunder Reich uns führt.
Sie steh’n mit großen stillen Augen,
erwarten lächelnd unser Nah’n:
Dass wir das Heil der Kinderreinheit
zum zweitenmal durch sie empfang.

Nun blüh’n im Dämmerschein der Dome
Mysterien. Magisch lockt der Duft
der Weihnachtsrose, die der Winter
zu ihrem zarten Leben ruft.
Auf Goldgrund grüßen alte Bilder,
die ewig jung in holder Kraft.
Es jubiliert ein Chor von Engeln
dem, der erlösend Wunder schafft.

Wir seh’n den Stern, den seltsam schönen,
den Königen winken durch die Nacht.
Wir seh’n sie reiten ihre Straße
in altertümlich reicher Pracht.
Die Weisheit, Kraft und Einfalt kommen,
gezogen von der lichten Spur,
und ihrem Zuge lauscht verzaubert
in Feld und Wald die Kreatur.

Der Hirten Lobgesang erhebt sich,
zu grüßen das bestaunte Licht:
"Das zarte Reislein, holde Mutter,
der Mörderhand verstatt’ es nicht.
Bewahr’ es wohl im heiligen Schoße.
Wir lauschen jedes Spähers Tritt."
Sie singen’s. Und von selgen Kindern
singt’s hell ein Kreis von oben mit.

Nun flammt der Stern mit hellstem Strahle
wie aus dem Kern der Ewigkeit.
Hier liegt der Gottmensch. Seine Hülle
das raue Kleid der Dürftigkeit.
Doch einer Mutter leuchtend Auge
saugt in sein großes Auge sich.
Und fühlt erschauernd drinnen wirken
die Wonne aller Wonnen sich.

Da schauern Wälder, beben Klüfte
die unerhörte Kunde nach.
Den Stern zu Häupten, geht die Botschaft
des Heiles ihren Weg gemach.
Und wird zum Donnerschritt der Kämpfe
ihr sanfter Pfad: sie will nicht ruh’n,
bis alles, was vom Schoß des Weibes,
sich einigt in des Friedens Tun.

Holdseliges Licht! In Kindes Auge
wohnt einzig klar dein Gnadenschein.
Dein Herr und Träger hat gesprochen:
Ihr sollt so wie die Kinder sein.
O Menschheit, lausche seinen Worten!
Er steigt kein zweitesmal herab,
dich aus dem Alltag neu zu schaffen,
zu sprengen deiner Selbstsucht Grab.

So ist es uns ins Herz gegraben.
Der Kindheit Griffel grub es fest.
Dass keines dieser heilgen Bilder
von seinem alten Goldgrund lässt.
Und wenn sich neut die große Stunde,
dann zittert Erd’ und Himmel mit.
Und schweigend lauscht die Welt, die weite,
der ewigen Verheißung Schritt.


 

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Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC02583.JPG


Hoffnung


Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling locket ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben,
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren,
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserm sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.


Friedrich von Schiller
longtime
longtime
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von longtime
als Antwort auf Roxanna vom 11.12.2019, 16:49:34
Franziska.jpg
Rainer Maria Rilke
Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin   bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.


 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 11.12.2019, 21:38:05

Altes Kaminstück


Draußen ziehen weiße Flocken
durch die Nacht, der Sturm ist laut;
hier im Stübchen ist es trocken,
warm und einsam, stillvertraut.

Sinnend sitz ich auf dem Sessel,
an dem knisternden Kamin,
kochend summt der Wasserkessel
längst verklungne Melodien.

Und ein Kätzchen sitzt daneben,
wärmt die Pfötchen an der Glut;
und die Flammen schweben, weben,
wundersam wird mir zu Mut.


Heinrich Heine
13. 12. 1797 - 17. 2. 1856

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Die Philister, die Beschränkten,
diese geistig Eingeengten
darfst Du nie und nimmer necken.
Aber weite, kluge Herzen
wissen stets in unsren Scherzen
Lieb und Freundschaft zu entdecken.


Heinrich Heine
13. 12.1797 - 17. 2. 1856

Clematis






 
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC00666.JPG


Es gibt so wunderweiße Nächte

Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.

Weit wie mit dichtem Diamantstaube
bestreut, erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.


Rainer Maria Rilke
 

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