Literatur Schöne Lyrik
Der Narr
Er war nicht unbegabt. Die Geisteskräfte
Genügten für die laufenden Geschäfte.
Nur hat er die Marotte,
Er sei der Papst. Dies sagt er oft und gern
Für jedermann zum Ärgernis und Spotte,
Bis sie zuletzt ins Narrenhaus ihn sperr'n.
Ein guter Freund, der ihn daselbst besuchte,
Fand ihn höchst aufgeregt. Er fluchte:
Zum Kuckuck, das ist doch zu dumm.
Ich soll ein Narr sein und weiß nicht warum.
Ja, sprach der Freund, so sind die Leute.
Man hat an einem Papst genug.
Du bist der zweite.
Das eben kann man nicht vertragen.
Hör zu, ich will dir mal was sagen:
Wer schweigt, ist klug.
Der Narr verstummt, als ob er überlege.
Der gute Freund ging leise seiner Wege.
Und schau, nach vierzehn Tagen grade
Da traf er ihn schon auf der Promenade.
Ei, rief der Freund, wo kommst du her?
Bist du denn jetzt der Papst nicht mehr?
Freund, sprach der Narr und lächelt schlau,
Du scheinst zur Neugier sehr geneigt.
Das, was wir sind, weiß ich genau.
Wir alle haben unsern Sparren,
Doch sagen tun es nur die Narren.
Der Weise schweigt.
Wilhelm Busch
Das Huhn und der Karpfen
Auf einer Meierei
Da war einmal ein braves Huhn,
Das legte, wie die Hühner tun,
An jedem Tag ein Ei
Und kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte,
Als ob's ein Wunder sei.
Es war ein Teich dabei,
Darin ein braver Karpfen saß
Und stillvergnügt sein Futter fraß,
Der hörte das Geschrei:
Wie's kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte,
Als ob's ein Wunder sei.
Da sprach der Karpfen:
"Ei! Alljährlich leg' ich 'ne Million
Und rühm' mich dess' mit keinem Ton;
Wenn ich um jedes Ei
So kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte -
Was gäb's für ein Geschrei!"
Heinrich Seidel
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Die Kindlein wissen's
Wie's aussieht im ewigen Freudenhain,
im Himmel, dem hohen, da droben,
das wissen die Kindlein, die kleinen allein,
sie kommen ja grade von droben.
Doch sie könnens nicht sagen,
unmündig und klein,
sie müssen's verschweigen indessen;
und wachsen heran sie
und plaudern sie fein,
da haben sie's leider vergessen.
Robert Hamerling
24. 3. 1830 - 13. 7. 1889
Clematis
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Foto: Pixabay
DIE SCHAUKEL
Wie schön sich zu wiegen,
Die Luft zu durchfliegen
Am blühenden Baum!
Bald vorwärts vorüber,
Bald rückwärts hinüber, –
Es ist wie ein Traum!
Die Ohren, sie brausen,
Die Haare, sie sausen
Und wehen hintan!
Ich schwebe und steige
Bis hoch in die Zweige
Des Baumes hinan.
Wie Vögel sich wiegen,
Sich schwingen und fliegen
Im luftigen Hauch:
Bald hin und bald wieder,
Hinauf und hernieder,
So fliege ich auch!
Heinrich Seidel
25. 6. 1842 - 7. 11. 1906
Clematis
DIE SCHAUKEL
Wie schön sich zu wiegen,
Die Luft zu durchfliegen
Am blühenden Baum!
Bald vorwärts vorüber,
Bald rückwärts hinüber, –
Es ist wie ein Traum!
Die Ohren, sie brausen,
Die Haare, sie sausen
Und wehen hintan!
Ich schwebe und steige
Bis hoch in die Zweige
Des Baumes hinan.
Wie Vögel sich wiegen,
Sich schwingen und fliegen
Im luftigen Hauch:
Bald hin und bald wieder,
Hinauf und hernieder,
So fliege ich auch!
Heinrich Seidel
25. 6. 1842 - 7. 11. 1906
Clematis
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Foto: Pixabay
Im August
Nun, geschmückt mit bunten Kränzen
bei der Abendsonne Glänzen
unter Jauchzen und Gesang,
schwankt der letzte Erntewagen,
drauf die goldnen Garben ragen,
seinen Weg zum Dorf entlang.
Von den Feldern ist geschwunden,
in den Scheuern liegt gebunden
nun des Sommers Goldgewinn,
und ein Hauch von Herbstesahnung
weht wie eine leise Mahnung
über leere Stoppeln hin.
Aber heimlich reift die Traube,
und versteckt im grünen Laube
goldner Früchte süsse Last.
Bald nun, nach des Frühlings Blühen,
und der Sommersonne Glühen,
ladet uns der Herbst zu gast.
Heinrich Seidel
26. 6. 1842 - 7. 11. 1906
Clematis
Im August
Nun, geschmückt mit bunten Kränzen
bei der Abendsonne Glänzen
unter Jauchzen und Gesang,
schwankt der letzte Erntewagen,
drauf die goldnen Garben ragen,
seinen Weg zum Dorf entlang.
Von den Feldern ist geschwunden,
in den Scheuern liegt gebunden
nun des Sommers Goldgewinn,
und ein Hauch von Herbstesahnung
weht wie eine leise Mahnung
über leere Stoppeln hin.
Aber heimlich reift die Traube,
und versteckt im grünen Laube
goldner Früchte süsse Last.
Bald nun, nach des Frühlings Blühen,
und der Sommersonne Glühen,
ladet uns der Herbst zu gast.
Heinrich Seidel
26. 6. 1842 - 7. 11. 1906
Clematis
(eigenes Foto - Bledersee Slowenien)
Das Glück Theodor Fontane
Nicht Glückes bar sind deine Lenze,
du forderst nur des Glücks zu viel;
gib deinem Wunsche Maß und Grenze,
und dir entgegen kommt das Ziel.
Wie dumpfes Unkraut lass' vermodern,
was in dir noch des Glaubens ist:
du hättest doppelt einzufordern
des Lebens Glück, weil du es bist.
Das Glück, kein Reiter wird’s erjagen,
es ist nicht dort, es ist nicht hier;
lern überwinden, lern entsagen,
und ungeahnt erblüht es dir.
Du fragst: ob mir in dieser Welt
überhaupt noch was gefällt?
Du fragst es und lächelst spöttisch dabei.
Lieber Freund, mir gefällt noch allerlei:
Jedes Frühjahr das erste Tiergartengrün,
oder wenn in Werder die Kirschen blühn,
zu Pfingsten Kalmus und Birkenreiser,
der alte Moltke, der alte Kaiser,
und dann zu Pferde eine Stunde später,
mit dem gelben Streifen der "Halberstädter";
Kuckucksrufen, im Wald ein Reh,
ein Spaziergang durch die Lästerallee,
Paraden, der Schapersche Goethekopf
und ein Backfisch mit einem Mozartzopf.
Das Glück Theodor Fontane
Nicht Glückes bar sind deine Lenze,
du forderst nur des Glücks zu viel;
gib deinem Wunsche Maß und Grenze,
und dir entgegen kommt das Ziel.
Wie dumpfes Unkraut lass' vermodern,
was in dir noch des Glaubens ist:
du hättest doppelt einzufordern
des Lebens Glück, weil du es bist.
Das Glück, kein Reiter wird’s erjagen,
es ist nicht dort, es ist nicht hier;
lern überwinden, lern entsagen,
und ungeahnt erblüht es dir.
Du fragst: ob mir in dieser Welt
überhaupt noch was gefällt?
Du fragst es und lächelst spöttisch dabei.
Lieber Freund, mir gefällt noch allerlei:
Jedes Frühjahr das erste Tiergartengrün,
oder wenn in Werder die Kirschen blühn,
zu Pfingsten Kalmus und Birkenreiser,
der alte Moltke, der alte Kaiser,
und dann zu Pferde eine Stunde später,
mit dem gelben Streifen der "Halberstädter";
Kuckucksrufen, im Wald ein Reh,
ein Spaziergang durch die Lästerallee,
Paraden, der Schapersche Goethekopf
und ein Backfisch mit einem Mozartzopf.
Die Frage bleibt
Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht fragen, warum? warum?
Nur nicht bittere Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.
Wies dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt
Theodor Fontane
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Foto: Pixabay
Herbsttag
HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sch keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
4. 12. 1875-29. 12. 1926
Clematis
Herbsttag
HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sch keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
4. 12. 1875-29. 12. 1926
Clematis
Vom schlafenden Apfel
Im Baum, im grünen Bettchen,
Hoch oben sich ein Apfel wiegt,
Der hat so rothe Bäckchen,
Man sieht's, daß er im Schlafe liegt.
Ein Kind steht unter'm Baume,
Das schaut und schaut und ruft hinauf:
»Ach, Apfel, komm herunter!
Hör endlich doch mit Schlafen auf.«
Es hat ihn so gebeten,
Glaubt Ihr, er wäre aufgewacht?
Er rührt sich nicht im Bette,
Sieht aus, als ob im Schlaf er lacht.
Da kommt die liebe Sonne
Am Himmel hoch daher spaziert. -
»Ach Sonne, liebe Sonne,
Mach' du, daß sich der Apfel rührt!«
Die Sonne spricht: »Warum nicht?«
Und wirft ihm Strahlen in's Gesicht,
Küßt ihn dazu so freundlich,
Der Apfel aber rührt sich nicht.
Nu schau! Da kommt ein Vogel
Und setzt sich auf den Baum hinauf.
»Ei, Vogel, du mußt singen,
Gewiß, gewiß, das weckt ihn auf!«
Der Vogel wetzt den Schnabel,
Und singt ein Lied so wundernett.
Und singt aus voller Kehle, -
Der Apfel rührt sich nicht im Bett! - -
Und wer kam nun gegangen?
Es war der Wind! Den kenn' ich schon,
Der küßt nicht und der singt nicht,
Der pfeift aus einem andern Ton.
Er stemmt in beide Seiten
Die Arme, bläst die Backen auf
Und bläst und bläst, und richtig,
Der Apfel wacht erschrocken auf.
Und springt vom Baum herunter
Grad' in die Schürze von dem Kind,
Das hebt ihn auf und freut sich
Und ruft: »Ich danke schön, Herr Wind!«
Robert Reinick
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Fülle
Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,
der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.
Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!
Die saftige Pfirsche winkt dem durstigen Munde!
Die trunknen Wespen summen in die Runde:
"Genug ist nicht genug!" um eine Traube.
Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
genug kann nie und nimmermehr genügen!
Conrad Ferdinand Meyer
11. 10. 1825 - 28. 11. 1898
Clematis