Literatur Schöne Lyrik

Bote Asgards
Bote Asgards
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Bote Asgards
Am Kamin
 
Stürme, Dezember, vor meinem Gemach,
Hänge Zapfen von Eis an das Dach;
Nichts doch weiß ich vom Froste;
Hier am wärmenden, trauten Kamin
Ist mir, als ob des Frühlings Grün
Rings um mich rankte und sprosste.

All das Gezweig, wie es flackert und flammt,
Plaudert vom Walde, dem es entstammt,
Redet von seligen Tagen,
Als es, durchfächelt von Sommerluft,
Knospen und Blüten voll Glanz und Duft,
Grünende Blätter getragen.

Fernher hallenden Waldhornklang
Glaub’ ich zu hören, Drosselgesang,
Sprudelnder Quellen Schäumen,
Tropfenden Regen durchs Laubgeäst,
Der die brütenden Vögel im Nest
Weckt aus den Mittagsträumen.

Stürme denn, Winter, eisig und kalt!
An den Kamin herzaubert den Wald
Mir der Flammen Geknister,
Bis ich bei Frühlingssonnenschein
Wieder im goldgrün schimmernden Hain
Lausche dem Elfengeflüster.

Adolf Friedrich von Schack (1815-1894)
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Bote Asgards vom 21.12.2018, 20:05:43

Welch' wunderbare Naturbeschreibung! Rose

LG Sirona

Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
BILD1044.JPG


Alles still!
 
Alles still!  Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.
    
Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.
    
Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.
    
Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht -
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.

Theodor Fontane

 

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longtime
longtime
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von longtime
als Antwort auf Roxanna vom 31.12.2018, 13:54:01
ZWEIG_Reyntjes (4).jpg
Fontane Theodor
Trost
Tröste dich, die Stunden eilen,
Und was all dich drücken mag.
Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
Und es kommt ein andrer Tag.

In dem ew'gen Kommen, Schwinden,
Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
Und auch heitre Bilder finden
Ihren Weg zu dir zurück.

Harre, hoffe. Nicht vergebens
Zählest du der Stunden Schlag:
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und - es kommt ein andrer Tag.
 
longtime
longtime
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 31.12.2018, 23:45:02
ZWEIG.jpg


Stefan Zweig:

Der Sechzigjährige dankt
Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemand glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.

*
(SZ: GW. Gedichte. S. 232. in: Matuschek. SZ. 2016. S. 351)


 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 31.12.2018, 23:51:13
ZWEIG.jpg


Stefan Zweig:

Der Sechzigjährige dankt
Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemand glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.

*
(SZ: GW. Gedichte. S. 232. in: Matuschek. SZ. 2016. S. 351)


 
Bitte nachschauen:
letzter Vers müsste heißen: Niemals

Einen Morgengruß in das neue Jahr
Clematis
MörikeNeujahr.jpg


 

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Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 01.01.2019, 08:11:59
Engel-1.jpg
Neujahrslied
(Franz Peter Hebel)

Mit der Freude zieht der Schmerz
traulich durch die Zeiten.
Schwere Stürme, milde Weste,
bange Sorgen, frohe Feste
wandeln sich zur Seiten.

War´s nicht so im alten Jahr?
Wird´s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
und kein Wunsch wird´s wenden.

Und wo eine Träne fällt,
blüht auch eine Rose.
Schön gemischt, noch eh wir´s bitten,
ist für Thronen und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.

Gebe denn, der über uns
wägt mit rechter Waage,
jedem Sinn für seine Freuden,
jeden Mut für seine Leiden
in die neuen Tage.

Jedem auf des Lebens Pfad
einen Freund zur Seite,
ein zufriedenes Gemüte
und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite.

 
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf Sirona vom 01.01.2019, 09:51:16
DSC00874.JPG

Walt Gott!

Gestern stürmt's noch, und am Morgen
Blühet schon das ganze Land -
Will auch nicht für morgen sorgen,
Alles steht in Gottes Hand.

Putz dich nur in Gold und Seiden:
In dem Felde über Nacht
Engel Gotts die Lilien kleiden,
Schöner als du's je gedacht.

Sonn dich auf des Lebens Gipfeln:
Über deinem stolzen Haus
Singt der Vogel in den Wipfeln,
Schwingt sich über dich hinaus!

Vögel nicht, noch Blumen sorgen,
Hat doch jedes sein Gewand
Wie so fröhlich rauscht der Morgen!
Alles steht in Gottes Hand.

Joseph Freiherr von Eichendorff



Ein gute Neues Jahr allen, die hier mitschreiben und allen Lesern wünscht
Roxanna
longtime
longtime
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von longtime
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 01.01.2019, 08:11:59
 
Ja, danke für die Korrektur der letzten Strophe zum Zweig-Gedicht:
 
"Niemals glänzt der Ausblick freier,
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts."
*

Dankbar grüßt Antonius R.
longtime
longtime
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von longtime
als Antwort auf Roxanna vom 01.01.2019, 10:17:07
Blümchen.jpg

Erich Kästner:
Spruch für die Silvesternacht
(und eine Antwort von Günter V.)


Einige realistisch-kritische, gar politisch-(und)moralische Sentenzen des leichten Jahresabschiedes vermittelt der deutsche und deutliche Altmeister des Humors und der satirischen Gebrauchslyrik:

Erich Kästner
Spruch für die Silvesternacht

Man soll das Jahr nicht mit Programmen
beladen wie ein krankes Pferd.
Wenn man es allzu sehr beschwert,
bricht es zu guter Letzt zusammen.

Je üppiger die Pläne blühen,
um so verzwickter wird die Tat.
Man nimmt sich vor, sich zu bemühen,
und schließlich hat man den Salat!

Es nützt nicht viel, sich rotzuschämen.
Es nützt nichts, und es schadet bloß,
sich tausend Dinge vorzunehmen.
Laßt das Programm! Und bessert euch drauflos! 1
*
Eine kritische Retourkutsche auf dieses leicht anarchisch-satirische Gedicht schickte mir einmal ein lieber Kollege (und Ausbildungslehrer) mit selbstgereimter Antwort.
Als Danke schön sie es hier abgedruckt.
(Auch Schüler können selbst eine Kontrafaktur schreiben zu dem vorgegebenen Ausgangspunkt.)

**

Günter V.:
(nach Erich Kästners Spruch für die Silvesternacht)
Gegenspruch für den Neujahrsmorgen

Man soll das Jahr ein bißchen planen!
Sonst scheut im Wege jedes Pferd,
wenn man es allzu sehr beschwert.
Man kann das Chaos fast schon ahnen.

Wenn freudig uns die Pläne blühn,
um so viel leichter wird die Tat.
Sonst bleibt uns nur das ungeplante Mühn,
und schließlich hat man den Salat.

Es nützt nicht viel, sich abzurackern.
Es nützt nichts, und es schadet bloß,
die Zeit chaotisch zu beackern.
Verfolg ein Ziel! Und lebe nicht drauf los!
*
1
] Silevster und Neujahr. Hrsg. v. N. Schachtsiek-Freitag. FiTabu 9568

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