Literatur Schöne Lyrik
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Weltgeheimnis
Der tiefe Brunnen weiß es wohl,
einst waren alle tief und stumm,
und alle wussten drum.
Wie Zauberworte, nachgelallt
und nicht begriffen in den Grund,
so geht es jetzt von Mund zu Mund.
Der tiefe Brunnen weiß es wohl;
in ihn gebückt, begriffs ein Mann,
begriff es und verlor es dann.
und redet' irr und sang ein Lied –
Auf dessen dunklen Spiegel bückt
sich einst ein Kind und wird entrückt.
Und wächst und weiß nichts von sich selbst
und wird ein Weib, das einer liebt
und – wunderbar wie Liebe gibt!
Wie Liebe tiefe Kunde gibt! –
Da wird an Dinge, dumpf geahnt,
in ihren Küssen tief gemahnt...
In unsern Worten liegt es drin,
so tritt des Bettlers Fuß den Kies,
der eines Edelsteins Verlies.
Der tiefe Brunnen weiß es wohl,
einst aber wussten alle drum,
nun zuckt im Kreis ein Traum herum.
Hugo von HofmannsthalDer tiefe Brunnen weiß es wohl,
einst waren alle tief und stumm,
und alle wussten drum.
Wie Zauberworte, nachgelallt
und nicht begriffen in den Grund,
so geht es jetzt von Mund zu Mund.
Der tiefe Brunnen weiß es wohl;
in ihn gebückt, begriffs ein Mann,
begriff es und verlor es dann.
und redet' irr und sang ein Lied –
Auf dessen dunklen Spiegel bückt
sich einst ein Kind und wird entrückt.
Und wächst und weiß nichts von sich selbst
und wird ein Weib, das einer liebt
und – wunderbar wie Liebe gibt!
Wie Liebe tiefe Kunde gibt! –
Da wird an Dinge, dumpf geahnt,
in ihren Küssen tief gemahnt...
In unsern Worten liegt es drin,
so tritt des Bettlers Fuß den Kies,
der eines Edelsteins Verlies.
Der tiefe Brunnen weiß es wohl,
einst aber wussten alle drum,
nun zuckt im Kreis ein Traum herum.
1. 2. 1874 - 15. 7. 1929
Clematis
Vereinsamt - Friedrich Nietzsche
Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt - ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
Versteck, du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
weh dem, der keine Heimat hat!
Advent
Heinrich Theodor Fontane (1819 - 1898)
Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
aber als Knecht Ruprecht schon
kommt der Winter hergeschritten,
und alsbald aus Schnees Mitten
klingt des Schlittenglöckleins Ton.
Und was jüngst noch, fern und nah,
bunt auf uns herniedersah,
weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
und das Jahr geht auf die Neige,
und das schönste Fest ist da.
Tag du der Geburt des Herrn,
heute bist du uns noch fern,
aber Tannen, Engel, Fahnen
lassen uns den Tag schon ahnen,
und wir sehen schon den Stern.
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Weihnachtsschnee
Ihr Kinder, sperrt die Näschen auf,
es riecht nach Weihnachtstorten,
Knecht Ruprecht steht am Himmelsherd
und bäckt die feinsten Sorten.
Ihr Kinder, sperrt die Augen auf,
sonst nehmt den Operngucker;
die große Himmelsbüchse, seht,
tut Ruprecht ganz voll Zucker.
Er streut - die Kuchen sind schon voll -
er streut - na, das wird munter:
er schüttelt die Büchse und streut und streut
den ganzen Zucker runter.
Ihr Kinder, sperrt die Mäulchen auf,
schnell! Zucker schneit es heute,
fangt auf, holt Schüsseln - ihr glaubt es nicht?
- ihr seid ungläubige Leute!
Paula Dehmel
Clematis
Weihnachten
Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh' ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.
Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins weite Feld,
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt's wie wunderbares Singen -
O du gnadenreiche Zeit!
Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Schenken
Schenke gross oder klein, aber immer gediegen,
wenn die Bedachten die Gaben wiegen,
sei dein Gewissen rein.
Schenke herzlich und frei,
schenke dabei, was in dir wohnt
an Meinung, Geschmack und Humor,
so dass die Freude zuvor
dich reichlich belohnt.
Schenke mit Geist, ohne List,
sei eingedenk,
dass dein Geschenk
du selber bist.
Joachim Ringelnatz
7. 8. 1883 - 16. 11. 1934
Clematis
Weihnacht - E. Geibel (1815 - 1884)
Wie bewegt mich wundersam
euer Hall, ihr Weihnachtsglocken,
die ihr kündet mit Frohlocken,
dass zur Welt die Gnade kam.
Überm Hause schien der Stern,
und in Lilien stand die Krippe,
wo der Engel reine Lippe
Hosianna sang dem Herrn.
Herz, und was geschah vordem,
dir zum Heil erneut sich's heute?
Dies gedämpfte Festgeläute
ruft auch dich nach Bethlehem.
Mit den Hirten darfst du ziehn,
mit den Königen aus Osten
und in ihrer Schar getrosten
Muts vor deinem Heiland knien.
Hast du Gold nicht und Rubin,
Weihrauch nicht und Myrrhenblüte,
schütt' aus innerstem Gemüte
deine Sehnsucht vor ihm hin!
Sieh, die Händchen zart und lind
streckt er aus, zum Born der Gnaden,
die da Kinder sind zu laden,
komm! Und sei auch du ein Kind!
An meine Mutter B. Heine
1
Ich bins gewohnt, den Kopf recht hoch zu tragen,
Mein Sinn ist auch ein bißchen starr und zähe;
Wenn selbst der König mir ins Antlitz sähe,
Ich würde nicht die Augen niederschlagen.
Doch, liebe Mutter, offen will ichs sagen:
Wie mächtig auch mein stolzer Mut sich blähe,
In deiner selig süßen, trauten Nähe
Ergreift mich oft ein demutvolles Zagen.
Ist es dein Geist, der heimlich mich bezwinget,
Dein hoher Geist, der alles kühn durchdringet,
Und blitzend sich zum Himmelslichte schwinget?
Quält mich Erinnerung, daß ich verübet
So manche Tat, die dir das Herz betrübet?
Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet?
2
Im tollen Wahn hatt ich dich einst verlassen,
Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende,
Und wollte sehn, ob ich die Liebe fände,
Um liebevoll die Liebe zu umfassen.
Die Liebe suchte ich auf allen Gassen,
Vor jeder Türe streckt ich aus die Hände,
Und bettelte um gringe Liebesspende -
Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen.
Und immer irrte ich nach Liebe, immer
Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer,
Und kehrte um nach Hause, krank und trübe.
Doch da bist du entgegen mir gekommen,
Und ach! was da in deinem Aug geschwommen,
Das war die süße, langgesuchte Liebe.
Heinrich Heine
Heute vor 220 Jahren ist Heinrich Heine geboren.
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geschrieben von ehemaliges Mitglied
Vielen Dank, liebe Roxanna, für dieses schöne Heine-Gedicht und -
dieses wundervolle Foto!
Das Alter
Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise,
Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen,
Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen,
Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.
Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise
Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.
Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,
Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.
So mild ist oft das Alter mir erschienen:
Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder
Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.
Ans Fenster klopft ein Bot′ mit frohen Mienen,
Du trittst erstaunt heraus - und kehrst nicht wieder,
Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.
Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen,
Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen,
Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.
Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise
Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.
Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,
Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.
So mild ist oft das Alter mir erschienen:
Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder
Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.
Ans Fenster klopft ein Bot′ mit frohen Mienen,
Du trittst erstaunt heraus - und kehrst nicht wieder,
Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.
Joseph Freiherr von Eichendorff