Literatur Schöne Lyrik
An den andern
Ich hatte mich im Hochgebirg verstiegen.
Die Felsenwelt um mich, sie war wohl schön;
doch konnt ich keinen Ausgang mir ersiegen,
noch einen Aufgang nach den lichten Höhn.
Da traf ich Dich, in ärgster Not: den andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von neuem hob ich an, mit Dir zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam ...
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.
Mag sein, wir stehn an unsres Lebens Ende
noch unterm Ziel, - genug, der Weg ist klar!
Dass wir uns trafen, war die große Wende.
Aus zwei Verirrten ward ein wissend Paar.
Christian Morgenstern
Ich hatte mich im Hochgebirg verstiegen.
Die Felsenwelt um mich, sie war wohl schön;
doch konnt ich keinen Ausgang mir ersiegen,
noch einen Aufgang nach den lichten Höhn.
Da traf ich Dich, in ärgster Not: den andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von neuem hob ich an, mit Dir zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam ...
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.
Mag sein, wir stehn an unsres Lebens Ende
noch unterm Ziel, - genug, der Weg ist klar!
Dass wir uns trafen, war die große Wende.
Aus zwei Verirrten ward ein wissend Paar.
Christian Morgenstern
Mittagszauber
(E. Geibel)
Im Garten wandelt hohe Mittagszeit,
der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit;
von oben sieht, getaucht in Sonnenschein
und leuchtend Blau, der alte Dom herein.
Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im Gras;
die Märchen liest sie, die als Kind ich las;
ihr Antlitz glüht, es ziehn durch ihren Sinn
Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin.
Kein Laut von außen stört; 's ist Feiertag -
nur dann und wann vom Turm ein Glockenschlag!
Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall
im hohen Gras von eines Apfels Fall.
Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar,
gleichwie im Traum verschmilzt, was ist und war;
die Seele löst sich und verliert sich weit
ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.
An den andern
Ich hatte mich im Hochgebirg verstiegen.
Die Felsenwelt um mich, sie war wohl schön;
doch konnt ich keinen Ausgang mir ersiegen,
noch einen Aufgang nach den lichten Höhn.
Da traf ich Dich, in ärgster Not: den andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von neuem hob ich an, mit Dir zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam ...
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.
Mag sein, wir stehn an unsres Lebens Ende
noch unterm Ziel, - genug, der Weg ist klar!
Dass wir uns trafen, war die große Wende.
Aus zwei Verirrten ward ein wissend Paar.
Christian Morgenstern
Wunderbare Verse, die mich daran erinnern, dass schon in der Bibel steht, dass es nicht gut sei dass der Mensch allein ist. Der Mensch ist nicht zum Alleinsein geschaffen, nur im Einklang und Austausch mit einem anderen Menschen ist das Leben sinnvoll.
LG Sirona
Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Liebe Sirona, was für ein tolles, passendes Foto!
Da hab ich doch auch gleich noch einen Rilke:
Der Leser
Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?
Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
bleiben für immer umgestellt.
Rainer Maria Rilke
1877-1926
Da hab ich doch auch gleich noch einen Rilke:
Der Leser
Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?
Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
bleiben für immer umgestellt.
Rainer Maria Rilke
1877-1926
Liebe Clematis,
das Rilke-Gedicht finde ich unglaublich treffend. Wenn man sich in ein Buch vertieft hat, das Geschilderte an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt bzw. miterlebt, dann wirkt die Rückkehr in die Realität wie aus einem Traum.
Neulich las ich diesen Spruch "Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken" von Mark Aurel, der zur Aussage Rilkes passt: ....doch seine Züge, die geordnet waren, bleiben für immer umgestellt.
Habe mich gefreut von Dir zu lesen.
LG Sirona
das Rilke-Gedicht finde ich unglaublich treffend. Wenn man sich in ein Buch vertieft hat, das Geschilderte an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt bzw. miterlebt, dann wirkt die Rückkehr in die Realität wie aus einem Traum.
Neulich las ich diesen Spruch "Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken" von Mark Aurel, der zur Aussage Rilkes passt: ....doch seine Züge, die geordnet waren, bleiben für immer umgestellt.
Habe mich gefreut von Dir zu lesen.
LG Sirona
Liebe Sirona,
dieses kleine im Gras liegende Mädchen sieht ganz bezaubernd aus und die in dem Gedicht wiedergegebene Stimmung einfach schön. Genau solche Stunden braucht man immer wieder.
Liebe Grüße
Roxanna
dieses kleine im Gras liegende Mädchen sieht ganz bezaubernd aus und die in dem Gedicht wiedergegebene Stimmung einfach schön. Genau solche Stunden braucht man immer wieder.
Liebe Grüße
Roxanna
Bestimmung
Soviel Dinge gehn im Leben
auf dich zu, noch mehr daneben.
Mensch, dein Weg ist dir bestimmt.
Nimm das Schicksal, wie es kimmt.
Jeder muss sein Päcklein tragen,
teils mit Wohl-, teils Unbehagen.
Schau nach vorn, dort gehen sie:
Hans im Glück und Pechmarie.
Etwas Sonne, sehr viel Regen,
Freude folgt den Nackenschlägen,
oder manchmal umgedreht,
wie es so im Leben geht.
Wieviel Blüten an dem Baume
werden nie zur reifen Pflaume.
Wieviel Pulver, wieviel Blei
schießt der Feind an dir vorbei.
Weine nicht um das Verpasste.
Denke: Was du hast, das haste.
Kriegst du nicht, was du gewollt,
hat es wohl nicht sein gesollt.
Fred Endrikat (1890-1942)
Soviel Dinge gehn im Leben
auf dich zu, noch mehr daneben.
Mensch, dein Weg ist dir bestimmt.
Nimm das Schicksal, wie es kimmt.
Jeder muss sein Päcklein tragen,
teils mit Wohl-, teils Unbehagen.
Schau nach vorn, dort gehen sie:
Hans im Glück und Pechmarie.
Etwas Sonne, sehr viel Regen,
Freude folgt den Nackenschlägen,
oder manchmal umgedreht,
wie es so im Leben geht.
Wieviel Blüten an dem Baume
werden nie zur reifen Pflaume.
Wieviel Pulver, wieviel Blei
schießt der Feind an dir vorbei.
Weine nicht um das Verpasste.
Denke: Was du hast, das haste.
Kriegst du nicht, was du gewollt,
hat es wohl nicht sein gesollt.
Fred Endrikat (1890-1942)
Zum Karfreitag
Aus „Deutschland – Ein Wintermärchen“
Heinrich Heine
Und als der Morgennebel zerrann,
da sah ich am Wege ragen,
im Frührotschein, das Bild des Manns,
der an das Kreuz geschlagen.
Mit Wehmut erfüllt mich jedes Mal
dein Anblick, mein armer Vetter,
der du die Welt erlösen gewollt,
du Narr, du Menschheitsretter!
Sie haben dir übel mitgespielt,
die Herren vom hohen Rate.
Wer hieß dich auch reden so rücksichtslos
von der Kirche und vom Staate!
Zu deinem Malheur war die Buchdruckerei
noch nicht in jenen Tagen erfunden;
du hättest geschrieben ein Buch
über die Himmelsfragen.
Der Zensor hätte gestrichen darin,
was etwa anzüglich auf Erden,
und liebend bewahrte dich die Zensur
vor dem gekreuzigt werden.
Ach! hättest du nur einen andern Text
zu deiner Bergpredigt genommen,
besaßest ja Geist und Talent genug,
und konntest schonen die Frommen!
Geldwechsler, Bankiers, hast du sogar
mit der Peitsche gejagt aus dem Tempel -
unglücklicher Schwärmer, jetzt hängst du am Kreuz
als warnendes Exempel!
Ostern am Meer – Th. Storm
Es war daheim auf unserm Meeresdeich.
Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten.
Zu mir herüber scholl verheißungsreich
mit vollem Klang das Osterglockenläuten.
Wie brennend Silber funkelte das Meer.
Die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel,
die Möwen schossen blendend hin und her,
eintauchend in die Flut die weißen Flügel.
In tiefer Erde bis zum Deichesrand
war sammetgrün die Wiese aufgegangen.
Der Frühling zog prophetisch über Land.
Die Lerchen jauchzten, und die Knospen sprangen.
Entfesselt ist die urgewalt’ge Kraft.
Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen.
Und alles treibt, und alles webt und schafft.
Des Lebens vollste Pulse hör ich klopfen.
Die Tage lassen keine Spur
O Regen sag, Du kommst so hoch daher,
Ist droben auch der Tag spurlos und leer?
Du fällst zum Fluß und schwimmst zum Meer,
Glaubst, Du enteilst dem Leid und suchst Genuß?
O wüßten alle nur, was doch ein jeder wissen muß:
Die Tage lassen keine Spur, so wenig wie der Regen auf dem Fluß, -
Die Liebe nur.
Max Dauthendey