Literatur Schöne Lyrik

Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
St. Trudbert(Roxanna)


Abschied

O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäftge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!

Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Dass dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!

Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte, schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Wards unaussprechlich klar.

Bald werd ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehen,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn;
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
so wird mein Herz nicht alt.

Joseph Freiherr von Eichendorff
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Roxanna vom 08.06.2016, 10:27:39
Ein wunderbarer Beitrag, liebe Roxanna und Eichendorff-Verehrerin!
Bild und Text in völligem Einklang! Diese Verse hat kein geringerer als Felix Mendelssohn-Bartholdy vertont, wie oft haben wir es früher im Chor mit Inbrunst gesungen! Ja das war noch wahre Poesie!
Wie oft habe ich schon bedauert dass ich nicht in dieser Epoche zur Welt gekommen bin. Im Kreise der damaligen Dichter, Denker und Musiker hätte ich sicher auch meinen Platz gefunden. Wir können froh sein dass uns diese herrlichen Werke erhalten geblieben sind und wir sie heute noch lesen, hören und genießen können.

Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf Sirona vom 08.06.2016, 10:58:32
Liebe Sirona,

ich danke dir sehr herzlich für diese schöne Rückmeldung, über die ich mich sehr gefreut habe. Selber Chorsängerin, weiß ich wie sehr Lieder/vertonte Gedichte nahe gehen und bewegen können.
Ich bin auch sehr dankbar, dass es einen unermeßlich reichen Schatz an Poesie gibt, auf den zurückgegriffen werden kann und der je nach Situation aufbaut, tröstet, erheitert und und und.

Ich freue mich, hier viele weitere schöne Gedichte lesen zu können.

Liebe Grüße
Roxanna

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Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
Meer(Roxanna)




Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
und Herde glühn und hellen ihren Raum.

Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Abendglocken klar verklangen
und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
sich müde stützen auf den Brunnensaum.

Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen wieder zwischen Tag und Traum.

Rainer Maria Rilke
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Roxanna vom 12.06.2016, 09:09:19
Liebe Roxanna,

obwohl mir Rilkes Gedichte zum größten Teil irgendwie verschlossen geblieben sind haben mich allerdings diese Verse sehr berührt. Hat gut getan sie zu lesen.

LG Sirona
Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf Sirona vom 12.06.2016, 20:38:43
Liebe Sirona,

manches von Rilke ist wirklich nicht so einfach zu verstehen, das geht mir auch so. Aber immer wieder berühren mich Texte/Gedichte von ihm sehr. Ich mag diesen Tiefgang, den er hat.

Liebe Grüße
Roxanna

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Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona



Du musst nicht bangen, Gott

Du musst nicht bangen, Gott. Sie sagen: mein 

zu allen Dingen, die geduldig sind. 

Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift 

und sagt: mein Baum. 



Sie merken kaum, 
wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, 

so dass sie's auch an seinem letzten Saum 

nicht halten könnten ohne zu verbrennen. 


Sie sagen mein, wie manchmal einer gern 

den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern, 

wenn dieser Fürst sehr groß ist und - sehr fern. 


Sie sagen mein von ihren fremden Mauern 

und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn. 

Sie sagen mein und nennen das Besitz, 

wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn, 

so wie ein abgeschmackter Charlatan 

vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz. 


So sagen sie: mein Leben, meine Frau, 

mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau, 

dass alles: Leben, Frau und Hund und Kind
fremde Gebilde sind, daran sie blind
mit ihren ausgestreckten Händen stoßen.

Gewissheit freilich ist das nur den Großen, 

die sich nach Augen sehnen.
Denn die Andern wollens nicht hören,
dass ihr armes Wandern
mit keinem Dinge rings zusammenhängt, 

dass sie, von ihrer Habe fortgedrängt, 

nicht anerkannt von ihrem Eigentume 

das Weib so wenig haben wie die Blume, 

die eines fremden Lebens ist für alle. 



Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht. 

Auch der dich liebt und der dein Angesicht 

erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht 

in deinem Atem schwankt, - besitzt dich nicht. 

Und wenn dich einer in der Nacht erfasst, 

so dass du kommen musst in sein Gebet: 

Du bist der Gast, der wieder weiter geht. 



Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein, 

von keines Eigentümers Hand gestört, 

so wie der noch nicht ausgereifte Wein, 

der immer süßer wird, sich selbst gehört.


(Rainer Maria Rilke, 24.09.1901, Westerwede)
Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Sirona vom 13.06.2016, 10:38:23
Liebe Sirona,

dieses wunderbare Gedicht liebe ich sehr.

In einem Brief vom 16.-20. Feb. 1914 an Magda von Hattingberg schreibt Rilke:
"...
Da war im Hintergrund jemand, der Mein zu einem sagte (dieses unverantwortliche Wort) ...."

Ich denke, dass dies der Anlass war, dass er sich mit dem "unverantwortlichen Wort" Mein beschäftigte und dieses Gedicht verfasste.

Gruss
Clematis
die dieses Gedicht auswendig kann,
damit es immer bei mir ist.
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 13.06.2016, 11:20:33
Liebe Clematis, diesen Gedanken hatte ich auch als ich das Rilke-Gedicht gelesen habe. Das Wort „mein“ besteht zwar nur aus vier Buchstaben, aber es drückt einen so unsagbaren Besitzanspruch aus. Schon Kleinkinder kennen neben den ersten Worten wie Mama und Papa dieses Wörtchen „Mein“ und verteidigen damit vehement ihre kleinen Rechte mit „Meins“ und halten das begehrte Utensil mit ihren kleinen Fäusten so gut
sie es können fest.

LG Sirona
Maxi41
Maxi41
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Maxi41
Johann Wolfgang v. Goethe:

GEFUNDEN

Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich ein Blümlein steh´n,
wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.

Ich wollt´ es brechen, da sagt es fein:
Soll ich zum Welken gebrochen sein?

Ich grub´s mit allen den Wurzeln aus,
zum Garten trug ich´s, am hübschen Haus

und pflanzt es wieder am stillen Ort;
Nun zweigt es immer und blüht so fort.

Maxi41(Maxi41)


Das Gedicht hat Goethe seiner Liebe Christiane Vulpius gewidmet. Er habe das Blümlein, eine Allegorie auf Christiane, mit all seinen Wurzeln ausgegraben und sorgsam im Garten vor dem Haus wieder eingepflanzt.
Im Jahre 1788 treffen beide das erste Mal aufeinander.
In armen Verhältnissen aufgewachsen, passte sie nach Ansicht von Herzog und adligen Damen um die zuvor von Goethe zurückgewiesene Charlotte von Stein nicht zum Dichter.
Er war heiratsscheu und auf der Suche nach der freien Liebe. Bei Christiane habe er seine Chance für das Lebensmodell gesehen. 28 Jahre lebten beide in wilder Ehe zusammen bevor sie 1806 heiraten. Leider nur 10 Jahre, denn Christiane stirbt 1816 nach monatelanger Krankheit.

Bärbel

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