Literatur Schöne Lyrik

Neptun
Neptun
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Neptun
In der Neujahrsnacht

Die Kirchturmglocke
schlägt zwölfmal Bumm.
Das alte Jahr ist wieder mal um.
Die Menschen können sich in den Gassen
vor lauter Übermut gar nicht mehr fassen.
Sie singen und springen umher wie die Flöhe
und werfen die Mützen in die Höhe.
Der Schornsteinfegergeselle Schwerzlich
küsst Konditor Krause recht herzlich.
Der alte Gendarm brummt heute sogar
ein freundliches: Prosit zum neuen Jahr.

Joachim Ringelnatz (1883-1934)
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona


Das Leben lebt
(Gustav Falke 1853 – 1916)

Ich höre einer Flöte süßen Klang
von irgendwo aus offnem Fenster her.
Sie singt von Frieden einen Sommersang,
von reifen Blumen und von Früchten schwer,
von frohen Herzen, seligem Genuß,
Umarmung, Freundschaft, Leidenschaft und Kuß.

Schweig, Flöte, schweig, dies ist nicht Friedenszeit.
Die Welt zerfleischt sich, Ströme Blutes fließen.
Die ganze Erde flammt, ein Grauses schreit
und schreit und schreit, es hilft kein Ohrenschließen.
So schreit Entsetzen rings. Du aber singst,
als ob du unter heitern Sternen gingst.

Von irgendwo klingt diese Flöte her,
singt unbekümmert ihren süßen Sang.
Das Herz, von ungeweinten Tränen schwer,
wehrt doch umsonst dem holden Schmeichelklang.
Der Flöte zürnen? Ach, ich kann es nicht.
Sie singt so süß, und Hören wird zur Pflicht.

So singe, Flöte, singe, unbewegt
von Not und Tod und allem Graus der Zeit.
Du singst das Leben, und wie Sonne legt
dein süßes Lied sich auf die Traurigkeit
der Seele, daß sie leis die Flügel hebt:
Getrost, was weinst du noch? Das Leben lebt.
Milan
Milan
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Das Jahr Friedrich Rückert
geschrieben von Milan
als Antwort auf Sirona vom 03.01.2016, 10:48:03
Das Jahr

In einem Lande möcht' ich wohnen,
Wo der Natur gesetzter Zwang
Hinwandeln läßt durch glüh'nde Zonen
Des Jahres unverrückten Gang;
Wo nach des Winters Regengüssen
Ein langer fester Sommer kommt
Und auch die Menschen fühlen müssen,
Daß nicht ein wirrer Wechsel frommt.

Und wäre das mir nicht beschieden,
So möcht' ich wohnen an dem Pol,
Wo eines tiefen Winters Frieden
Ich mir ließ auch gefallen wohl;
Da muß des Menschen Geist versenken
Sich können in des Daseins Schacht
Und still sich nach den Sternen lenken
In ewig heller Winternacht.

Unselig ist der Mitte Schwanken,
Dem hier wir unterworfen sind,
Wo Stunden wechseln wie Gedanken
Und die Gedanken wie der Wind;
Wo keine ruhige Entfaltung
Erlaubt des Jahrlaufs wilde Hast
Und in verworrner Welthaushaltung
Mensch und Natur hat nirgends Rast.

Friedrich Rückert

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Sirona
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Das Spiel - Charles Baudelaire (1821 - 1867)

In schäbigen Sesseln frechgeschminkte Weiber,

in deren Blick ein süsslich Lächeln girrt,

geziert bewegen sie die magren Leiber,

Juwel und Gold an ihren Ohren klirrt.



Am Spieltisch rings Gesichter fahl, verbissen.

zahnlose Kiefer, leichenblass der Mund,

zitternde Finger, hin und her gerissen,

fiebrisch durchwühlend leerer Taschen Grund.



Am schmutzigen Plafond die bleichen Lichter

erhellen nur mit einer trüben Glut

die finstren Stirnen der berühmten Dichter,

die hier vergeuden ihren Schweiss, ihr Blut.



Dies ist das schwarze Bild, das oft in Träumen

vor meinem klaren Blick mich selbst enthüllt,

ich seh' mich stumm und kalt in schmutzigen Räumen

die Arme aufgestützt, von Neid erfüllt.



Voll Neid auf dieser Männer zähe Triebe,

auf dieser Weiber finstre Lustigkeit,

die schamlos hier verkaufen ihre Liebe

und eines alten Ruhms Unsterblichkeit.



Wirr schreck' ich auf. – Wie könnt' ich sie beneiden,

die 's in den Abgrund reisst mit blinder Wut,

die lieber Qualen als den Tod erleiden

und lieber als das Nichts der Hölle Glut.
Sirona
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Mascha Kaleko

Da ihre Gedichte wegen des noch bestehenden Urheberrechts nicht veröffentlicht werden dürfen, setze ich einmal ein Video ein. Hier spricht der bekannte Rezitator Lutz Görner über diese bemerkenswerte Lyrikerin.



Viel Freude wünscht
Sirona
stierfrau
stierfrau
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von stierfrau
als Antwort auf Sirona vom 18.01.2016, 18:05:29
auch ich mag sehr gerne Lyrik. Hier einmal Kurt Tucholsky

Park Monceau

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch - und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.

Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen.
Ein Vogel zupft an einem hellen Blatt.
Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen
und freut sich, wenn er was gefunden hat.

Es prüfen vier Amerikanerinnen,
ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn.
Paris von außen und Paris von innen:
sie sehen nichts und müssen alles sehn.

Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.
Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.
Ich sitze stell und lasse mich bescheinen
und ruh von meinem Vaterlande aus.

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Sirona
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf stierfrau vom 18.01.2016, 18:52:53
Ich mag Tucholsky sehr, mit Sicherheit hat auch M. Kaleko häufig Tucholsky gelesen und ihn geschätzt, denn ich meine in ihrer Lyrik viel Ähnliches zu entdecken.

Sirona
Pia33
Pia33
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Pia33
als Antwort auf Sirona vom 18.01.2016, 19:15:29

Die Rose
Rainer Maria Rilke ging in der Zeit seines Pariser Aufenthaltes regelmäßig über einen Platz, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt. Ohne je aufzublicken, ohne ein Zeichen des Bittens oder Dankes zu äußern, saß die Frau immer am gleichen Ort.
Rilke gab nie etwas, seine französische Begleiterin warf ihr häufig ein Geldstück hin. Eines Tages fragte die Französin verwundert, warum er nichts gebe. Rilke antwortete: „Wir müssten ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“
Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühteRrose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen. Da geschah das Unerwartete:“ Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.
Eine Woche lang war die Alte verschwunden; der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer.
Nach acht Tagen saß sie plötzlich wieder an der gewohnten Stelle. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand.
“Aber wovon hat sie denn in all den Tagen gelebt?“ fragte die Französin. Rilke antwortete:“ Von der Rose.“
Sirona
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Aus der Harzreise von Heinrich Heine

Von Goslar ging ich den andern Morgen weiter, halb aufs Geratewohl, halb in der Absicht, den Bruder des Clausthaler Bergmanns aufzusuchen.

Wieder schönes, liebes Sonntagswetter. Ich bestieg Hügel und Berge, betrachtete, wie die Sonne den Nebel zu verscheuchen suchte, wanderte freudig durch die schauernden Wälder, und um mein träumendes Haupt klingelten die Glockenblümchen von Goslar. In ihren weißen Nachtmänteln standen die Berge, die Tannen rüttelten sich den Schlaf aus den Gliedern, der frische Morgenwind frisierte ihnen die herabhängenden, grünen Haare, die Vöglein hielten Betstunde, das Wiesental blitzte wie eine diamantenbesäte Golddecke, und der Hirt schritt darüber hin mit seiner läutenden Herde.

Ich mochte mich wohl eigentlich verirrt haben. Man schlägt immer Seitenwege und Fußsteige ein, und glaubt dadurch näher zum Ziele zu gelangen. Wie im Leben überhaupt geht’s uns auch auf dem Harze. Aber es gibt immer gute Seelen, die uns wieder auf den rechten Weg bringen, sie tun es gern und finden noch obendrein ein besonderes Vergnügen daran, wenn sie uns mit selbstgefälliger Miene und wohlwollend lauter Stimme bedeuten: welche große Umwege wir gemacht, in welche Abgründe und Sümpfe wir versinken konnten, und welch ein Glück es sei, dass wir so wegkundige Leute, wie sie sind, noch zeitig angetroffen haben.

Einen solchen Berichtiger fand ich unweit der Harzburg. Es war ein wohlgenährter Bürger von Goslar, ein glänzend wampiges dummkluges Gesicht, er sah aus, als habe er die Viehseuche erfunden. Wir gingen eine Strecke zusammen, und er erzählte mir allerlei Spukgeschichten, die hübsch klingen konnten, wenn sie nicht alle darauf hinaus liefen, dass es doch kein wirklicher Spuk gewesen, sondern dass die weiße Gestalt ein Wilddieb war, und dass die wimmernden Stimmen von den eben geworfenen Jungen einer Bache und das Geräusch auf dem Boden von der Hauskatze herrührte......

Er machte mich aufmerksam auf die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit in der Natur. Die Bäume sind grün, weil grün gut für die Augen ist. Ich gab ihm Recht, und fügte hinzu, dass Gott das Rindvieh erschaffen, weil Fleischsuppen den Menschen stärken, und dass die Esel erschaffen, damit sie den Menschen zu Vergleichungen dienen können und dass er den Menschen selbst erschaffen, damit er Fleischsuppen essen und kein Esel sein soll. Mein Begleiter war entzückt, einen Gleichgestimmten gefunden zu haben, sein Antlitz erglänzte noch freudiger, und bei dem Abschiede war er gerührt.

So lange er neben mir ging, war gleichsam die ganze Natur entzaubert, sobald er aber fort war, fingen die Bäume wieder an zu sprechen, und die Sonnenstrahlen erklangen, und die Wiesenblümchen tanzten, und der blaue Himmel umarmte die grüne Erde. Ja, ich weiß es besser, Gott hat den Menschen erschaffen, damit er die Herrlichkeit der Welt bewundere. Jeder Autor und sei er noch so groß, wünscht dass sein Werk gelobt werde. Und in der Bibel, den Memoiren Gottes, steht ausdrücklich, dass er die Menschen erschaffen zu seinem Ruhm und Preis.

Nach einem langen Hin- und Herwandern gelangte ich zu der Wohnung des Bruders meines Clausthaler Freundes, übernachtete alldort und erlebte folgendes schöne Gedicht:

Bergidylle
Auf dem Berge steht die Hütte,
wo der alte Bergmann wohnt;
dorten rauscht die grüne Tanne,
und erglänzt der goldne Mond.

In der Hütte steht ein Lehnstuhl,
ausgeschnitzelt wunderlich,
der darauf sitzt, der ist glücklich,
und der Glückliche bin Ich!

Auf dem Schemel sitzt die Kleine,
stützt den Arm auf meinen Schoß;
Äuglein wie zwei blaue Sterne,
Mündlein wie die Purpurros.

Und die lieben, blauen Sterne
schaun mich an so himmelgroß,
und sie legt den Liljenfinger
schalkhaft auf die Purpurros.

Nein, es sieht uns nicht die Mutter,
denn sie spinnt mit großem Fleiß,
und der Vater spielt die Zither,
und er singt die alte Weis.

Und die Kleine flüstert leise,
leise, mit gedämpftem Laut;
manches wichtige Geheimnis
hat sie mir schon anvertraut.

Aber seit die Muhme tot ist,
können wir ja nicht mehr gehn
nach dem Schützenhof zu Goslar,
dorten ist es gar zu schön.

Hier dagegen ist es einsam,
auf der kalten Bergeshöh,
und des Winters sind wir gänzlich
wie begraben in dem Schnee.

Und ich bin ein banges Mädchen,
und ich fürcht mich wie ein Kind
vor den bösen Bergesgeistern,
die des Nachts geschäftig sind.

Plötzlich schweigt die liebe Kleine,
wie vom eignen Wort erschreckt,
und sie hat mit beiden Händchen
ihre Äugelein bedeckt.

Lauter rauscht die Tanne draußen,
und das Spinnrad schnurrt und brummt,
und die Zither klingt dazwischen,
und die alte Weise summt:

Fürcht dich nicht, du liebes Kindchen,
vor der bösen Geister Macht;
Tag und Nacht, du liebes Kindchen,
halten Englein bei dir Wacht!

Heines Reisebeschreibungen sowie die Harzreise und "Deutschland ein Wintermärchen" bedeuten für mich immer wieder ein Abtauchen aus dem Alltag und bereiten mir großes Vergnügen.

Sirona
Sirona
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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Pia33 vom 19.01.2016, 11:24:39
So ist es, Pia33. Sicher hat jeder von uns schon einmal erlebt, dass er von schönen Dingen nicht nur eine kurze Zeit, sondern sogar ein ganzes Leben lang schwärmen und sich daran aufrichten kann.

LG Sirona

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