Literatur Schöne Lyrik

Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
 
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Der Harz

Heute einmal kein Gedicht sondern etwas sehr Poetisches aus Heinrich Heines Harzreise

Es ist ein schöner Tag! Überall sehe ich die grüne Farbe, die Farbe der Hoffnung. Überall, wie holde Wunder, blühen hervor die Blumen, und auch mein Herz will wieder blühen. Dieses Herz ist auch eine Blume, eine gar wunderliche. Es ist kein bescheidenes Veilchen, keine lachende Rose, keine reine Lilie oder sonstiges Blümchen, das mit artiger Lieblichkeit den Mädchensinn erfreut, und sich hübsch vor den hübschen Busen stecken lässt, und heute welkt und morgen wieder blüht. Dieses Herz gleicht mehr jener schweren, abenteuerlichen Blume aus den Wäldern Brasiliens, die, der Sage nach, alle hundert Jahre nur einmal blüht. Ich erinnere mich, dass ich als Knabe eine solche Blume gesehen. Wir hörten in der Nacht einen Schuss, wie von einer Pistole, und am folgenden Morgen erzählten mir die Nachbarskinder, dass es ihre „Aloe“ gewesen sei. Sie führten mich in ihren Garten, und da sah ich, zu meiner Verwunderung, dass das niedrige, harte Gewächs, mit den närrisch breiten, scharfgezackten Blättern, woran man sich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Höhe geschossen war, und oben, wie eine goldene Krone, die herrlichste Blüte trug. Wir Kinder konnten nicht so hoch hinauf sehen, und der alte, schmunzelnde Christian, der uns lieb hatte, baute eine hölzerne Treppe um die Blume herum, und da kletterten wir hinauf wie die Katzen, und schauten neugierig in den offenen Blumenkelch, woraus die gelben Strahlenfäden und wildfremden Düfte mit unerhörter Pracht hervordrangen. 

Oft und leicht kommt dieses Herz nicht zum Blühen; so viel ich mich erinnere, hat es nur ein einziges Mal geblüht, und das mag schon lange her sein, gewiss schon hundert Jahr. Ich glaube, so herrlich auch damals seine Blüte sich entfaltete, so musste sie doch aus Mangel an Sonnenschein und Wärme elendiglich verkümmern, wenn sie nicht gar von einem dunkeln Wintersturme gewaltsam zerstört worden. Jetzt aber regt und drängt es sich wieder in meiner Brust, und hörst du plötzlich den Schuss – Mädchen erschrick nicht! Ich hab’ mich nicht tot geschossen, sondern meine Liebe sprengt ihre Knospe und schießt empor  in strahlenden Liedern, in ewigen Dithyramben, in freudigster Sangesfülle. 

Es ist noch früh am Tage, die Sonne hat kaum die Hälfte ihres Weges zurückgelegt, und mein Herz duftet schon so stark, dass es mir betäubend zu Kopfe steigt, dass ich nicht mehr weiß, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt, dass ich die Luft mit meinen Seufzern bevölkere, und dass ich selbst wieder zerrinnen möchte in süße Atome, in die unerschaffene Gottheit – wie soll das erst gehen, wenn es Nacht wird und die Sterne am Himmel erscheinen - - - -
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
Weissensee02.jpgEigenes Foto - Weissen See Kärnten

Winter 1894-95
(Regina Merkle)

O schrecklicher Winter, wie lang noch, wie lang
machst mit deiner Herrschaft uns angst und bang!
Wie lang schon schwingst du den Herrscherstab
und legst die Welt in Eis und Grab.

Selbst dort, wo sonst ewiger Frühling lacht,
da zeigst du gar grimmig deine Macht.
Du bist ein Tyrann, du bist ein Despot,
in deinem Gefolge sind Hunger und Not.

O schrecklicher Winter, wann gehst du fort?
So fragt man überall in Süd und Nord.
O harter Herrscher, wann räumst du das Feld
und bringst Erlösung der harrenden Welt?

Ach, rettender Frühling, ziehe bald ein;
denn Groß und Klein harrt schon lange dein.
Schlage den Winter aus dem Feld
und bringe Erlösung der harrenden Welt!



 
Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
IMG_8081.jpg


Ich finde dich in allen diesen Dingen
(Rainer Maria Rilke)
 
Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen
und in den großen gibst du groß dich hin.

Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,
daß sie so dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

Alle, welche dich suchen, versuchen dich.
Und die, so dich finden, binden dich
an Bild und Gebärde.

Ich aber will dich begreifen
wie dich die Erde begreift;
mit meinem Reifen
reift
dein Reich.

Ich will von dir keine Eitelkeit,
die dich beweist.
Ich weiß, daß die Zeit
anders heißt
als du.

Tu mir kein Wunder zulieb.
Gib deinen Gesetzen recht,
die von Geschlecht zu Geschlecht
sichtbarer sind.

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

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Versuchsballon
Versuchsballon
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Versuchsballon

Wer kennt schon Friedrich Sertürner (1783 - 1841)?

Ist`s nicht grotesk, dass jedermann
an Bösewichte sich erinnern kann?
Doch wahre Helden, die der Menschheit nützen,
vergessen sind und sie keiner kennt,
auch kein Geschichtsbuch ihren Namen nennt,
obwohl sie uns vor Ungemach beschützen.

Sertürner, von Beruf ein Pharmazeut,
wir profitiern von ihm noch immer heut,
denn er entdeckt` das Morphium.
Wenn uns der Krebs zum Wahnsinn treibt
vor Schmerzen, dass man lieber sich entleibt,
bringt Morphium uns Linderung.

Morpheus, der Gott des Schlafs war Namensgeber
und Sertürner war der  Entdeckung Urheber.
Er sei dafür gesegnet und gepriesen.
Werd Nutzniesser bald sein von diesem.




 

 

Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
csm_natur_242110_335e6d8716.jpg

Mittag
(Hermann Ludwig Allmers)

Rings alles still - wohin man horcht und späht,
im schatt'gen Walde, wie auf lichter Flur;
nicht einmal eines einz'gen Vogels Laut,
kein Blattgesäusel, keines Hauches Wehn,
denn die Natur hält ihren Odem an.

Weißglühend senkt die Sonne scheitelrecht
ihr Strahlenmeer herab aufs stille All,
und kein Gewölk am ganzen Horizont
erspäht der Blick, nur eine weiße Flocke
hängt leuchtend dort, ganz einsam, wie verloren,
ganz regungslos im glühenden Azur.

"Es schlummert Pan", so redeten sie einst.
"Seid stille, stört den Geist des Waldes nicht."
Nun aber ist er tot, der alte Pan,
und mit ihm sind gestorben der Dryaden
wie der Najaden gütige Gestalten,
die schützend tief im Walde Wohnenden,
in grüner, quelldurchrauschter Einsamkeit -
dahin die ganze alte schöne Welt.

Du aber, Mensch, befolge noch das Wort;
sei still in wunderbarer Mittagszeit,
daß du den Traum des Waldes nimmer störst
durch wüsten Lärm, und laß die Arbeit ruhen
und ruhe selbst und träume. Es ist süß
ganz aufzugehen in das große Schweigen
und eins zu werden mit der Natur.



 
LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
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Freiheit
Es fragte mich heute dein bebender Mund, wer frei denn sei?
Ich hob meine Hand zum Himmel und sagte: die Wolken sind frei,
Und frei ist der Wind, der die Weiten der Welt im Fluge durchwühlt,
Und frei ist das Meer, das den schimmernden Strand mit Küssen bespült.
 
Frei sind jene Bergeshäupter, die nie ein Fußtritt bog,
Und frei sind die ruhenden Wälder, die nie ein Ruf durchflog –
Dort baut der Fuchs sein Nest, der Hirsch wirft sein Geweih:
Natur, ihr glühendes Leben, ihr schweigender Tod, sie sind frei!
 
Sprich, sahst du den Adler kreisen? Was lenkt seinen ziellosen Flug?
Und sahst du ein Roß in der Wüste, das nie den Halfter trug?
Vernahmst du mein Lied, mein stürmisches Lied, meinen ersten und letzten Schrei? –
Das Meer und der Aar und der Wald, das Roß und mein Lied, sie sind frei!
 
Dort spielt ein Kind am Ufer … die Barke durchschneidet den See …
Es küßt die Rose der Tau – was lächelst du trübe und weh?
Ach, jetzt erst versteh' ich die Frage, die Frage: wer frei denn sei? –
Wir Toren, wir Knechte der Torheit, nur wir sind nicht frei! -- -- --
John Henry Mackay (1864 - 1933), deutscher Schriftsteller schottischer Herkunft

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Sirona
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
als Antwort auf Versuchsballon vom 31.01.2024, 16:55:14

Die Frage ist durchaus berechtigt - wer kennt schon Sertürner? Ich habe noch nie etwas von diesem Erfinder gehört. 
Richtig, die Bösewichter bekommen Ehrenmale, die guten werden kaum erwähnt. Das beste Beispiel ist der Geschichtsunterricht in den Schulen, da muss man Jahreszeiten von Kriegen und Kriegsherren auswendig lernen. Wann war die Schlacht usw. ?
Danke für Deinen (selbst verfaßt?) Beitrag.

LG Sirona


 

Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC01714 (3).JPG




Ein Herz, das in Liebe zu Deinem Herzen hält


Ein Stückchen sinkender Mond schaut über den Ackerrand,
Als vergräbt den Mond eine unsichtbare Hand.
Weit ins Land hängt Stern bei Stern in der Luft,
Und sie alle sinken bald wie der Mond in die Ackergruft.
Wo am Tag die Wege, Berge und Brücken winken,
Hocken Laternen im Dunkel, die wie kleine Spiegel blinken.
Sie alle verlöschen und brennen nur ihre Zeit.
Dunkelheit aber steht hinter den Dingen und lässt nichts erkennen,
Als ein dunkles Kommen, Vorüberrennen und Dinge benennen.
Und kein Tag, und kein Licht kann frommen;
Nie wird die Dunkelheit der Welt ganz fortgenommen.
Nur ein Herz, das in Liebe zu Deinem Herzen hält,
Nimmt von Dir die Dunkelheit der ganzen Welt.



Max Dauthendey
Sirona
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
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Wilhelm Müller
Tanzlied

Aus dem tiefen stillen Grund
klingen die Schalmeien.
Sie tanzen wohl auf grünem Rund
im Schatten der kühlen Maien.

Alle Weisen kenn' ich ja,
kann sie pfeifen und singen,
schon ist es mir, als wär' ich da,
wo sie hüpfen und schweben und springen.

Meine Sohlen heben sich
und mein Herz wird munter.
Ach, liebes Kind, und säh' ich dich,
ich spränge von oben hinunter.

Wenn ein andrer Bursch dich dreht,
laß dich nicht verdrehen!
Dein Köpfchen, wenn das fest nicht steht,
wie soll mein Wort denn stehen?

Und wenn eine Nadel dir
abfällt aus dem Mieder,
das gibt in's Herz zehn Stiche mir,
die heilt kein Balsam wieder.




 
LisaK
LisaK
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von LisaK
Schneeglöckchen.png
Schneeglöckchen
Der Schnee, der gestern noch in Flöckchen
Vom Himmel fiel,
Hängt nun geronnen heut als Glöckchen
Am zarten Stiel.
Schneeglöckchen läutet, was bedeutet's
Im stillen Hain?
 
O komm geschwind! Im Haine läutet's
Den Frühling ein.
O kommt, ihr Blätter, Blüt' und Blume,
Die ihr noch träumt,
All zu des Frühlings Heiligtume!
Kommt ungesäumt!
Friedrich Rückert (1788-1866)
 

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