Literatur Schöne Lyrik

Allegra
Allegra
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Allegra
Herbst

Schon ins Land der Pyramiden
Flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
Auch die Lerche singt nicht mehr.

Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!

Nebel hat den Wald verschlungen,
Der dein stillstes Glück gesehn;
Ganz in Duft und Dämmerungen
Will die schöne Welt vergehn.

Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Tal und Kluft.

Und es leuchten Wald und Heide,
Daß man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg' ein ferner Frühlingstag.


Theodor Storm
 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Allegra vom 31.08.2018, 09:16:06
BarkaSchmetterling-700.JPG



Sommerbild

Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
sie war, als ob sie bluten könne, rot;
da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
So weit im Leben ist zu nah am Tod!

Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
nur leise strich ein weißer Schmetterling;
doch ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
bewegte, sie empfand es und verging.


Friedrich Hebbel

18. 3. 1813 - 13. 12. 1863

Clematis
 
Allegra
Allegra
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Allegra
Septembermorgen

Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen;
bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.



Eduard Mörike
(1804 - 1875), deutscher Erzähler, Lyriker und Dichter

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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Allegra vom 03.09.2018, 09:06:55
Trauben-700.jpg
Herbsttag


HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sch keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke
4. 12. 1875-29. 12. 1926


Clematis
 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 07.09.2018, 11:00:09
Mörike, Eduard.jpg



Der alte Turmhahn
Idylle

Zu Cleversulzbach im Unterland
Hundertunddreizehn Jahr' ich stand,
Auf dem Kirchenturm ein guter Hahn,
Als ein Zierat und Wetterfahn'.
In Sturm und Wind und Regennacht
Hab'ich allzeit das Dorf bewacht.
Manch falber Blitz hat mich gestreift,
Der Frost mein' roten Kamm bereift,
Auch manchen lieben Sommertag,
Da man gern Schatten haben mag,
Hat mir die Sonne unverwandt
Auf meinen goldigen Leib gebrannt.
So ward ich schwarz für Alter ganz
Und weg ist aller Glitz und Glanz.
Da haben sie mich denn zuletzt
Veracht't und schmählich abgesetzt.
Meinthalb! so ist der Welt ihr Lauf,
Jetzt tun sie einen andern 'nauf.
Stolzier', prachtier' und dreh dich nur!
Dir macht der Wind noch andre Cour.

Ade, o Tal, du Berg und Tal!
Rebhügel, Wälder allzumal!
Herzlieber Turm und Kirchendach,
Kirchhof und Steglein übern Bach!
Du Brunnen, dahin spat und früh
Öchslein springen, Schaf' und Küh',
Hans hinterdrein kommt mit dem Stecken
Und Bastes Evlein auf dem Schecken!
Ihr Störch' und Schwalben, grobe Spatzen,
Euch soll ich nimmer hören schwatzen!
Lieb deucht mir jedes Drecklein itzt,
Damit ihr ehrlich mich beschmitzt.
Ade, Hochwürden, Ihr Herr Pfarr,
Schulmeister auch, du armer Narr!
Aus ist, was mich gefreut so lang,
Geläut' und Orgel, Sach und Klang.

Von meiner Höh' so sang ich dort,
Und hätt' noch lang gesungen fort,
Da kam so ein krummer Teufelshöcker,
Ich schätz', es war der Schieferdecker,
Packt mich, kriegt nach manch hartem Stoß
Mich richtig von der Stange los.
Mein alt bresthafter Leib schier brach,
Da er mit mir fuhr ab dem Dach
Und bei den Glocken schnurrt hinein;
Die glotzten sehr verwundert drein,
Regt ihnen doch weiter nicht den Mut,
Dachten eben, wir hangen gut.

Jetzt tät man mich mit altem Eisen
dem Meister Hufschmid überweisen;
Der zahlt zween Batzen und meint Wunder
Wieviel es wär' für solchen Plunder.
Und also ich selbigen Mittag,
Betrübt vor seiner Hütte lag.
Ein Bäumlein - es war Maienzeit -
Schneeweiße Blüten auf mich streut,
Hühner gackeln um mich her
Ohnachtend was das für ein Vetter wär'.
Da geht mein Pfarrherr nun vorbei,
Grüßt den Meister und lächelt: "Ei,
Wär's soweit mit uns, armer Hahn?
Andrees, was fangt ihr mit ihm an?
Ihr könnt ihn weder sieden noch braten,
Mir aber müßt' es schlimm geraten,
Einen alten Kirchendiener gut
Nicht zu nehmen in Schutz und Hut.
Kommt, tragt ihn mir gleich vor ins Haus,
Trinket ein kühl Glas Wein mit aus."

Der rußig' Lümmel, schnell bedacht
Nimmt mich vom Boden auf und lacht.
Es fehlt' nicht viel, so tat ich frei
Gen Himmel einen Freudenschrei.
Im Pfarrhaus ob dem fremden Gast
War groß und klein erschrocken fast;
Bald aber in jedem Angesicht
Ging auf ein rechtes Freudenlicht.
Frau, Magd und Knecht, Mägdlein und Buben
Den großen Göckel in der Stuben
Mit siebenfacher Stimmen Schall
Begrüßen, begucken, betasten all'.
Der Gottesmann drauf mildiglich
Mit eignen Händen trägt er mich
Nach seinem Zimmer, Stiegen auf,
Nachpolteret der ganze Hauf'.

Hier wohnt der Frieden auf der Schwell'!
In den geweißten Wänden hell
Sogleich empfing mich sondre Luft,
Bücher- und Gelahrtenduft,
Gerani- und Resedaschmack,
Auch ein Rüchlein Rauchtabak.
(Dies war mir all noch unbekannt.)
Ein großer Ofen aber stand
In der Ecke linkerhand.
Recht als ein Turm tät er sich strecken
Mit seinem Gipfel bis zur Decken,
Mit Säulen, Blumwerk, kraus und spitz -
O anmutsvoller Ruhesitz!
Zuöberst auf dem kleinen Kranz
Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt'.

Betrachtet mir das Werk genau!
Mir deucht's ein ganzer Münsterbau;
Mit Schildereien wohl geziert,
Mit Reimen christlich ausstaffiert.
Davon vernahm ich manches Wort
Dieweil der Ofen ein guter Hort
Für Kind und Kegel und alte Leut',
Zu plaudern, wann es wind't und schneit.

Hier seht ihr seitwärts auf der Platten
Eines Bischofs Krieg mit Mäus und Ratten,
Mitten im Rheinstrom sein Kastell.
Das Ziefer kommt geschwommen schnell,
Die Knecht' nichts richten mit Waffen und Wehr,
Der Schwänze werden immer mehr.
Viel Tausend gleich in dicken Haufen
Frech an der Mauer auf sie laufen,
Fallen dem Pfaffen in sein Gemach;
Sterben muß er mit Weh und Ach,
Von den Tieren aufgefressen,
Denn er mit Meineid sich vermessen.
Sodann König Belsazers seinen Schmaus,
Weiber und Spielleut', Saus und Braus;
Zu großem Schrecken an der Wand
Rätsel schreibt eines Geistes Hand.
Zuletzt da vorne stellt sich für
Sara lauschend an der Tür,
Als der Herr mit Abraham
Vor seiner Hütte zu reden kam
Und ihme einen Sohn versprach.
Sara sich Lachens nicht entbrach,
Weil beide schon sehr hoch betaget.
Der Herr vernimmt es wohl und fraget:
"Wie, lachet Sara? glaubt sie nicht,
Was der Herr will, leicht geschicht?"
Das Weib hinwieder Flausen machet,
Spricht: "Ich habe nicht gelachet."
Das ist nun wohl gelogen fast,
Der Herr es doch passieren laßt,
Weil sie nicht leugt aus arger List,
Auch eine Patriarchin ist.

Seit daß ich hier bin, dünket mir
Die Winterszeit die schönste schier.
Wie sanft ist aller Tage Fluß
Bis zum geliebten Wochenschluß!
Freitag zu Nacht, noch um die Neune,
Bei seiner Lampen Trost alleine,
Mein Herr fangt an sein Predigtlein
Studieren; anderst mag's nicht sein;
Eine Weil' am Ofen brütend steht,
Unruhig hin und dannen geht:
Sein Text ihm schon die Adern reget;
Drauf er sein Werk zu Faden schläget.
Inmittelst einmal auch etwan
Hat er ein Fenster aufgetan -
Ah, Sternenlüfteschwall wie rein
Mit Haufen dringet zu mir ein!
Den Verrenberg ich schimmern seh',
Den Schäferbühel dick mit Schnee!

Zu schreiben endlich er sich setzet,
Ein Blättlein nimmt, die Feder netzet,
Zeichnet sein Alpha und sein O
Über dem Exordio.
Und ich von meinem Postament
Kein Aug' ab meinem Herrlein wend';
Seh, wie er, mit Blicken steif ins Licht,
Sinnt, prüfet jedes Worts Gewicht,
Einmal sacht eine Prise greifet,
Vom Docht den roten Butzen streifet;
Auch dann und wann zieht er vor sich
Ein Sprüchlein an vernehmentlich,
So ich mit vorgerecktem Kopf
Begierlich bringe gleich zu Kropf.
Gemachsam kämen wir also
Bis Anfang Applicatio.

Indes der Wächter Elfe schreit,
Mein Herr denkt: es ist Schlafenszeit;
Ruckt seinen Stuhl und nimmt das Licht;
"Gut' Nacht, Herr Pfarr!" - Er hört es nicht.

Im Finstern wär' ich denn allein.
Das ist mir eben keine Pein.
Ich hör' in der Registratur
Erst eine Weil' die Totenuhr,
Lache den Marder heimlich aus,
Der scharrt sich müd' am Hühnerhaus;
Windweben um das Dächlein stieben;
Ich höre, wie im Wald da drüben -
Man heißet es im Vogeltrost -
Der grimmig Winter sich erbost,
Ein Eichlein spalt't jähling mit Knallen,
Eine Buche, daß die Täler schallen.
Du meine Güt', da lobt man sich
So frommen Ofen dankbarlich!
Er wärmelt halt die Nacht so hin,
Es ist ein wahrer Segen drin.
Jetzt, denk ich, sind wohl hie und dort
Spitzbuben aus auf Raub und Mord;
Denk', was eine schöne Sach' es ist,
Brave Schloß und Riegel zu jeder Frist!
Was ich wollt machen herentgegen,
Wenn ich eine Leiter hört' anlegen;
Und sonst was so Gedanken sind;
Ein warmes Schweißlen mir entrinnt.
Um zwei, gottlob, und um die drei
Glänzet empor ein Hahnenschrei,
Um fünfe, mit der Morgenglocken,
Mein Herz sich hebet unerschrocken,
Ja, voller Freuden auf es springt,
Als der Wächter endlich singt:
"Wohlauf, im Namen Jesu Christ!
Der helle Tag erschienen ist!"

Ein Stündlein drauf, wenn mir die Sporen
Bereits ein wenig steif gefroren,
Rasselt die Lis' im Ofen, brummt,
Bis's Feuer angeht, saust und summt.
Dann von der Küch' rauf, gar nicht übel,
Die Supp' ich wittre, Schmalz und Zwiebel.
Endlich, gewaschen und geklärt,
Mein Herr sich frisch zur Arbeit kehrt.

Am Samstag muß ein Pfarrer fein
Daheim in seiner Klause sein,
Nicht visiteln, herumkutschieren,
Seine Faß einbrennen, sonst hantieren.
Meiner hat selten solch' Gelust,
Einmal - ihr sagt's nicht weiter just -
Zimmert er den ganzen Nachmittag
Dem Fritz an einem Meisenschlag,
Dort an dem Tisch, und schwatzt und schmaucht,
Mich alten Tropf kurzweilt es auch.

Jetzt ist der liebe Sonntag da.
Es läut't zur Kirchen fern und nah.
Man orgelt schon: mir wird dabei
Als säß ich in der Sakristei.
Es ist kein Mensch im ganzen Haus;
Ein Mücklein hör' ich, eine Maus.
Die Sonne sich ins Fenster schleicht,
Zwischen die Kaktusstöck' hinstreicht
Zum kleinen Pult von Nußbaumholz,
Eines alten Schreinermeisters Stolz;
Beschaut sich, was da liegt umher,
Konkordanz und Kirchenlehr',
Oblatenschachtel, Amtssigill,
Im Tintenfaß sich spiegeln will,
Zuförderst Sand und Grus besicht,
Sich an dem Federmesser sticht
Und gleitet übern Armstuhl frank
Hinüber an den Bücherschrank.
Da stehn in Pergament und Leder
Vornan die frommen Schwabenväter:
Andreä, Bengel, Rieger zween,
Samt Öttinger sind da zu sehn.
Wie sie die goldnen Namen liest,
noch goldener ihr Mund sie küßt.
Wie sie rührt an Hillers Harfenspiel -
Horch! klingt es nicht? so fehlt nicht viel.

Inmittelst läuft ein Spinnlein zart
An mir hinauf nach seiner Art
Und hängt sein Netz, ohn' erst zu fragen,
Mir zwischen Schnabel auf und Kragen.
Ich rühr' mich nicht aus meiner Ruh',
Schau ihm eine ganze Weile zu.
Darüber ist es wohl geglückt,
Daß ich ein wenig eingenickt. -
Nun sagt, ob es in Dorf und Stadt
Ein alter Kirchhahn besser hat?

Ein Wunsch im stillen dann und wann
Kommt einen freilich wohl noch an.
Im Sommer stünd' ich gern da draus
Bisweilen auf dem Taubenhaus,
Wo dicht dabei der Garten blüht,
Man auch ein Stück vom Flecken sieht.
Dann in der schönen Winterzeit,
Als zum Exempel eben heut:
Ich sag' es grad - da haben wir
Gar einen wackern Schlitten hier,
Grün, gelb und schwarz; - er ward verwichen
Erst wieder sauber angestrichen;
Vorn auf dem Bogen brüstet sich
Ein fremder Vogel hoffärtig -
Wenn man mich etwas putzen wollt',
Nicht, daß es drum viel kosten sollt',
Ich stünd' so gut dort als wie der
Und machet niemand nicht Unehr'!
- Narr! denk' ich wieder, du hast dein Teil!
Willst du noch jetzo werden geil?
Mich wundert, ob dir nicht gefiel,
Daß man, der Welt zum Spott und Ziel,
Deinen warmen Ofen gar zuletzt
Mitsamt dir auf die Läufe setzt,
Daß auf dem G'sims da um dich säß',
Mann, Weib und Kind, der ganze Käs'!
Du alter Scherb, schämst du dich nicht,
Auf Eitelkeit zu sein erpicht?
Geh in dich, nimm dein Ende wahr!
Wirst nicht noch einmal hundert Jahr'.


Eduard Mörike

8. 9. 1804 - 4. 6. 1875

So und jetzt sag ich was:
ich kann dieses Gedicht auswendig!
Clematis



 
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 08.09.2018, 07:48:05

Abendständchen

Hör, es klang die Flöte wieder,
und die kühlen Brunnen rauschen!
Golden weh’n die Töne nieder,
stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die dich umfangen,
blickt zu mir der Töne Licht!



Clemens Brentano

(1778 - 1842)


 

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Allegra
Allegra
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Allegra
Herbsthauch
(Friedrich Rückert)


Herz, nun so alt und noch immer nicht klug,
Hoffst du von Tagen zu Tagen,
Was dir der blühende Frühling nicht trug,
Werde der Herbst dir noch tragen!

Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Immer zu schmeicheln, zu kosen.
Rosen entfaltet am Morgen sein Hauch,
Abends verstreut er die Rosen.

Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Bis er ihn völlig gelichtet.
Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch,
Was wir geliebt und gedichtet.
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Allegra vom 14.09.2018, 09:29:32
Pfirs640.JPG
Fülle


Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,
der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.

Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!
Die saftige Pfirsche winkt dem durstigen Munde!
Die trunknen Wespen summen in die Runde:
"Genug ist nicht genug!" um eine Traube.

Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
genug kann nie und nimmermehr genügen!



Conrad Ferdinand Meyer

11. 10. 1825 - 28. 11. 1898

Clematis

 
Allegra
Allegra
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Allegra
Bei Goldhähnchens
 
Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast!
Sie wohnen im grünen Fichtenpalast
In einem Nestchen klein,
Sehr niedlich und sehr fein.

Was hat es gegeben? Schmetterlingsei,
Mückensalat und Gnitzenbrei
Und Käferbraten famos —
Zwei Millimeter groß.

Dann sang uns Vater Goldhähnchen was,
So zierlich klang's wie gesponnenes Glas;
Dann wurden die Kinder beseh'n:
Sehr niedlich alle zehn!

Dann sagt' ich: „Adieu!“ und: „Danke sehr! “
Sie sprachen: „Bitte, wir hatten die Ehr'
Und hat uns mächtig gefreut '.“
Es sind doch reizende Leut'!

Heimrich Seidel

 
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
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Friede der Kreatur

Spinnen waren mir auch zuwider
All meine jungen Jahre,
Ließen sich von der Decke nieder
In die Scheitelhaare.
Saßen verdächtig in den Ecken
Oder rannten, mich zu erschrecken
Über Tischgefild und Hände,
Und das Töten nahm kein Ende.

Erst als schon die Haare grauten,
Begann ich sie zu schonen.
Mit den ruhig Angeschauten
Brüderlich zu wohnen;
Jetzt mit ihren kleinen Sorgen,
Halten sie sich still geborgen,
Läßt sich einmal eine sehen,
Lassen wir uns weislich gehen.

Hätt' ich nun ein Kind, ein kleines,
In väterlichen Ehren,
Recht ein liebliches und feines,
Würd' ichs mutig lehren
Spinnen mit den Händchen fassen
Und sie freundlich zu entlassen;
Früher lernt' es Friede halten,
Als es mir gelang, dem Alten!



Gottfried Keller (1819 - 1890)

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