Literatur Ich lese gerade

Rispe
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von Rispe
als Antwort auf vivienne vom 07.10.2023, 14:24:32

Hallo @Der-Waldler und @Vivienne,
jetzt will ich aber mal mein Versprechen halten und euch von "Arbeit und Struktur" berichten, das ich endlich am Sonntag (19.) im Schauspielhaus gesehen habe:
Ich fand die Inszenierung ausgesprochen gut, der Text wurde vor so wie er ist gelesen, abwechselnd von drei Schauspielern (zwei Männer, eine Frau), wobei einer mit den Texten von "Arbeit und Struktur" im Vordergrund stand, die beiden anderen haben außerdem Texte von seinen Büchern „Tschick“ und „Sand“ mit hineingebracht, das war so eine Art Collage.
Das heißt, es wurde nicht einfach nur vorgelesen, sondern war mit kleinen mimischen Darstellungen begleitet, aber es waren eins zu eins Textauszüge aus seinen Büchern.
Es war stellenweise ziemlich erschütternd, wie nahe die Schauspieler den unbedingten Lebenswillen von Herrndorf und seine Weigerung, den Tod zu akzeptieren, bis zu dem Entschluss, ihn vorwegzunehmen, um nicht den kompletten Verfall von Geist und Körper bewusst erleben zu müssen, dramatisch in Szene gesetzt haben.
Vor allem hatten sie auch eine gute Aussprache, was man heutzutage nicht mehr immer voraussetzen kann, deshalb konnte ich das meiste auch akustisch gut verstehen. Den Hauptdarsteller (Florian Lange) hatte ich schon vor einigen Monaten in „Wilhelm Tell“ gesehen, auch da war er herausragend.
Durch die Inszenierung wurde das dann auch alles sehr gut verdeutlicht: mit Videos von unterschiedlichen Räumen (über- und nebeneinander), so dass die Darstellungen der Schauspieler gleichzeitig in Großaufnahme auf den Videos zu sehen waren.
Ist alles ein schwer zu erklären, hier kann man das ein bisschen nachlesen incl. Pressestimmen, die geben das ziemlich genau wieder: Arbeit und Struktur

Ganz interessant war noch ein Gespräch, das ich kurz vor der Vorstellung mit meiner Sitznachbarin hatte. Das war eine sehr junge Frau, und ich fragte sie , ob sie das in de Schule durchnehmen. Darauf erklärte sie mir, dass sie die Tochter des Dramaturgen (Robert Koall) sei, der gut mit Herrndorf befreundet war. Da habe ich ihr natürlich Löcher in den Bauch gefragt, und sie erzählte mir, dass sie vor kurzem mit ihrem Vater noch seine hinterbliebene Frau (oder Freundin?) in Berlin besucht hat, und dass ihr Vater regelmäßig weiter in Kontakt sei mit ihr. Er hat ja diesen Text auf die Bühne gebracht und die Umsetzung ganz intensiv begleitet.

So war das alles in allem ein sehr interessanter, bereichernder Abend für mich, der allerdings auch ein bisschen traurig war und mich mit viele Gedanken zurückgelassen hat.

Ich hoffe, ich habe euch jetzt ausreichend informiert, und ihr seid zufrieden mit meinem Bericht. 😉

Der-Waldler
Der-Waldler
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von Der-Waldler
als Antwort auf Rispe vom 22.11.2023, 11:59:18

Liebe Rispe,

herzlichen Dank für Deine Eindrücke. Das klingt alles sehr interessant und sehenswert, und manchmal bedauere ich es dann doch, hier "im Wald" zu leben, wo weit und breit kein Theater, kein Kino, ist...

Herrndorf hat seine Lebensgefährtin noch wenige Tage vor seinem Freitod geheiratet. Wie spannend, dass Du da im Theater zufällig eine Person getroffen hast, deren Vater dem Ehepaar so nahe war.

*

Ich habe ja nun auch die Biographie über Herrndorf von Tobias Rüther gelesen, die mich aber sehr enttäuscht hat. Mir fehlte es da einfach an kritischer Distanz des Biographen zu seinem "Studienobjekt". Ich las kein einziges Wort wirklicher Kritik, keine Hinterfragung dieser durchaus "schwierigen" (und extrem arroganten) Persönlichkeit Herrndorf. Seine Darstellung der Person ging sogar bis in die seitenweise Beschreibung der Kleidung Herrndorfs, und das war mir an Ehrerbietung und Nähe dann doch einfach zu viel. Immerhin liess er die Kunstprofessorin Herrndorfs relativ offen zu Wort kommen, denn Herrndorf schien diese Frau regelrecht zu hassen, und er erwähnt sie auch sehr negativ in "AuS" an mehreren Stellen.

Meiner Frau ging es übrigens ähnlich, sie hat das Buch nicht zu Ende gelesen. Aber ich schließe nicht aus, dass es an meinen/unseren  Erwartungen an eine Biographie liegt. Ich schätze auch in solchen Lebensbeschreibung durchaus, wenn der Autor kritisch bleibt, trotz der Verehrung zum Beschriebenen. Irgendwo habe ich eine Rezension gelesen, die sprach, das sei ein Buch eines "Fans für Fans". Aber das ist mir für eine Biographie einer ja durchaus interessanten Persönlichkeit dann doch etwas zu wenig.

Aber vielleicht war die Herausgabe der Biographie auch noch zu früh. Die tragischen Jahre von Wolfgang Herrndorf (chronische Krankheit, Hirntumor, Ankämpfen gegen die Zeit, um noch das zu schaffen, was er schaffen will, sein qualvolles Sterben, das im Suizid endete) sind vielleicht noch zu präsent, so dass "man" sich nicht so recht traut, auch Kritisches zu äußern? Vielleicht finden sich in zehn Jahren  andere Biographen, die das anders machen. Wolfgang Herrndorf würde es gerecht(er).

Danke für Deine Informationen und liebe Grüße

DW

 

Rispe
Rispe
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von Rispe
als Antwort auf Der-Waldler vom 22.11.2023, 12:50:01

Lieber Waldler,

danke für deine schnelle Antwort, die auch sehr interessant ist.
Jetzt habe ich mal die Rezensionen zu der Biographie gesucht, und ein Rezensent von der NZZ scheint dir ein bisschen Recht zu geben. Da steht u. a.:
Heiligenverehrung wittert Rezensent Paul Jandl zunächst in dieser Biografie, die ihm auch zu kleinteilig erscheint“, allerdings geht es dann doch ganz positiv weiter. Hier der Link: Rüther: Herrndorf
Aber ich muss die Biographie auch nicht unbedingt lesen, mir genügen die Texte von Herrndorf selbst, so weit ich sie kenne.

Jetzt lese ich gerade das Buch „Mittagsfrau“ von Julia Franck, ein sehr interessantes, aber ziemlich heftiges Buch mit zum Teil brutalen Schilderungen. Literarisch sehr anspruchsvoll mit vielen - vielleicht zu vielen - Detailschilderungen. Sie hat ja dafür den Deutschen Buchpreis gekriegt.
Ich hatte vor kurzem den Film gesehen, der mich übrigens nicht so ganz überzeugt hat, obwohl er gute Kritiken hatte. Einiges scheint mir hier sehr übertrieben dargestellt, auch was die Zeit (Weimarer Republik) betrifft.
Mein Vater hat mal gesagt, das seien alles andere als „goldene“ 20er Jahre gewesen, wie es immer heißt. Die Armut war doch groß, und so, wie es in dem Film dargestellt ist, mit den sexuellen Ausschweifungen und Bällen, das scheint mir doch alles sehr übertrieben zu sein.

Das Buch kann ich noch nicht abschließend beurteilen, weil es ziemlich umfangreich ist und ich erst in der Mitte bin.
Ich würde es jedenfalls nicht jedem empfehlen, weil es tatsächlich alles andere als eine „Wohlfühllektüre“ ist. Es ist teilweise sehr überspannt und wie gesagt heftig bis brutal in seinen Schilderungen. Aber gut geschrieben finde ich es allemal.

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olga64
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64

Ich habe gerade das Buch "Paradise Garden" von Elena Fischer begonnen.
Es handelt von einem14-jährigen Mädchen, das mit seiner Mutter in ziemlich prekären Verhältnissen, aber harmonisch und gut zusammenlebt. Allerdings verstirbt die Mutter dann und das Mädchen muss sich auf sich selbst besinnend bemühen, sich eigenes Leben aufzubauen.
Berührend - schon nach den ersten Seiten. Olga

olga64
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64
als Antwort auf olga64 vom 27.11.2023, 19:29:21
Ich habe gerade das Buch "Paradise Garden" von Elena Fischer begonnen.
Es handelt von einem14-jährigen Mädchen, das mit seiner Mutter in ziemlich prekären Verhältnissen, aber harmonisch und gut zusammenlebt. Allerdings verstirbt die Mutter dann und das Mädchen muss sich auf sich selbst besinnend bemühen, sich eigenes Leben aufzubauen.
Berührend - schon nach den ersten Seiten. Olga
Ich möchte nochmals auf dieses Buch hinweisen,das mich wirklich begeistert.
Es hat in all seiner Traurigkeit so viel Tröstliches - und ich empfinde das insbesondere in unseren so dramatischen Zeiten als sehr hilfreich. Olga
olga64
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64

Nachdem ich mit grosser Begeisterung das Buch von Daniel Kehlmann "Lichtspiel" zu Ende gelesen habe, bin ich nun bei Monika Maron "Das Haus".
Ein Buch, sehr passend gerade für uns ältere Menschen, wie ich finde: da erbt eine Dame ein grosses Haus in der ländlichen Umgebung von Berlin,das sie nicht allein bewohnen möchte.
Sie gewinnt andere Menschen, die sie teilweise schon lange kennt und gründet eine luxuriöse WG. Die meisten haben WG-Erfahrung aus ihren Studentenzeiten - merken aber nun doch, dass es schwieriger ist, im höheren Alter mit anderen Vorstellungen und Wünschen nochmals mit ebensolchen Menschen harmonisch zusammenleben zu wollen.

Monikar Maron ist mitterweile 83  Jahre alt und eine bekannte Schriftstellerin aus der früheren DDR, die aber dann in den 80er Jahren nach Westdeutschland umgezogen ist. Ich schätze sie sehr und lese ihre Bücher gerne und empfehle auch dieses. Olga


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Ladouce46
Ladouce46
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von Ladouce46
als Antwort auf olga64 vom 27.11.2023, 19:29:21

Mit dem zweiten Anlauf klappt es nun, ich lese jetzt auch Paradise Garden. Erst war mir der Stil zu einfach, aber ein paar Tage später kriegte ich die Kurve und dachte, warum nicht einmal einfach. Und es gefällt mir ganz gut.

Inzwischen habe ich gelesen
Steinhammer von Jörg Thadeus - Eine Jugend im Ruhrpott von 1957 bis heute. Schön geschrieben und sehr unterhaltsam.
 
Sieben Tage Sommer von Thomy Bayer - Ferien in Südfrankreich und ein abwesender Gastgeber. Es hat mich nicht richtig gefesselt, die Geschichte schien mir auch etwas sehr unglaubwürdig.

Wundränder von Sepp Mall - Die Schicksale zweier Familien zwischen den Fronten des Südtiroler "Freiheitskampfes". Mall erzählt abwechselnd aus der Perspektive eines kleinen Jungen, dessen Vater aus für ihn unerklärlichen gründen verhaftet wird und später auf mysteriöse Weise ums Leben kommt, und aus der Sicht einer jungen Frau, deren sprachgestörter Bruder Opfer eines missglückten Bombenattentats wird.
Hier geht es nicht um gegenseitige Anschuldigungen, um laute Kritik oder kalte Rechtfertigung, ganz im Gegenteil. In diesem Buch bestimmen die sanften Zwischentöne, das oftmals nicht Ausgesprochene und die Stille.

Sein erstes Buch "Ein Hund kam in die Küche" hatte mir ja auch schon gefallen.

Tja, und dann noch "Echtzeitalter" von Tonio Schachinger
Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel
Age of Empires 2.
Gefiel mir ganz gut.

Ich wünsche allen Leseratten ein gesundes neues Jahr mit viel neuem, interessanten Lesestoff- LG Ladouce


 

Der-Waldler
Der-Waldler
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von Der-Waldler

Obwohl ich bisher nur gut ein Drittel (400 von 1050 Seiten) des Buches "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" von Karl Ove Knausgård gelesen habe, möchte ich es jetzt schon vorstellen und begeistert empfehlen und loben! Ich bin bereits dabei, die Lektüre zu "dosieren", d.h. ich gönne mir täglich nur 30 oder 40  Seiten. Das mache ich nur sehr selten, bei ganz großartigen Büchern, damit ich noch eine zeitlang die morgendliche Vorfreude haben kann, wenn ich aufstehe, und daran denke, dass ich nachmittags oder abends wieder in dem Buch lesen werde.

War bereits das Buch "Morgenstern" des Autors für mich ein großes Lese- und intellektuelles, aber auch spannendes und nachdenklich stimmendes Buch über ein knappes Dutzend Menschen, die ihren Alltag leben, trotz der Bedrohung durch einen plötzlich auftauchenden neuen Stern, der seltsame Dinge auslöst, so ist dieses neue Buch von Karl Ove Knausgård beinahe noch eine Steigerung. Es steht auch in indirektem Zusammenhang mit dem "Morgenstern" (der Autor sieht beide Bücher als Teile einer Serie von Büchern), und erzählt die Geschichte einer Familie aus der Perspektive eines ca. 20jährigen Sohnes. Obwohl es um diese Familie geht (bisher jedenfalls) und eines ihrer "Geheimnisse", so ist es keineswegs nur ein Familienroman. Es ist auch ein Entwicklungsroman, ein philosophischer Roman, ein politischer Roman, voller Humor und Ernst, Traurigkeit, Melancholie, Sorge, Not und Hoffnung. Ja, es ist ein "Lebens-Roman" von großer Sprachkraft, schönen Metaphern, düsteren Gedanken und liebevoller Nähe.

Ich bin begeistert!

DW


 

olga64
olga64
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RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64
als Antwort auf Ladouce46 vom 01.01.2024, 10:04:44

Danke liebe Ladouce!

Lichtspiel von Daniel Kehlmann war wirklich eines meiner besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen haben. Es spukt sogar heute noch oft in meinem Kopf herum.
DAs Buch von Monika Maron "Das Haus" habe ich nun auch beendet. Ich mag den Stil von Frau Maron - er ist literarisch "sehr elegant", wie ich finde. Auch das Thema, wenn ältere Menschen zusammen eine WG in einem grossen Haus gründen mit allen Vor- und Nachteilen, finde ich hochinteressant.
Den "Schachinger" habe ich auf meiner Liste. Ausserdem warte ich auf das neue Buch von Bernhard Schlink "Das späte Leben". Diesen Autor lese ich auch seit Jahren sehr, sehr gerne - zumal er in seinen Büchern oft  sehr wandelbar ist und nie langweilig wird.
Alles Liebe und Gute - Olga

Adoma
Adoma
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von Adoma

Vor Jahren habe ich das wunderbare Buch von James Baldwin gelesen:
"Zum Greifen nah".
Was für ein wertvolles Buch!

Jetzt höre ich:
"Ein anderes Land"
vorgelesen von Christian Brückner

Sprachgewaltig und tief emotional.

Adoma - eingetaucht
 


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