Literatur Ich lese gerade

longtime
longtime
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von longtime
als Antwort auf olga64 vom 07.05.2019, 19:10:02
Schiracah_DSC_0026-neu-1140x1710.jpg

Was ein Gelumpe – oder ein - so anstellen kann, wenn er sich als Sohn an seiner Mutter rächen will:

Ferdinand von Schirach: Carl Tohrbergs Weihnachten (2012) – Die letzte, die letzte Erzählung in dem schmalen Bänden); sie behandet ein sehr seltenes Verbrechen in unserer Gesellschaft – der Muttermord!

Im Erstdruck im SPIEGEL zu Weihnachten am 23.12.2011 hat der Autor den Text verändert mit zwei Unfallmeldungen:
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-83328958.html

Der SPIEGEL schreibt zum Autor:
Schirach, 47, lebt als Strafverteidiger und Schriftsteller in Berlin. In seinen Erzählbänden "Verbrechen" und "Schuld" hat er authentische Fälle fiktionalisiert. Auch diese Erzählung beruht auf einer wahren Begebenheit.

Carl Tohrbergs Weihnachten – Ferdinand von Schirach. Piper Verlag. 2012 spüäter auch as TB)


*
Aber, ist das Wort Weihnachten oder Salzburg ist das bestechende, das zwingende Wort inder Familienkatastrophe – sondern das seltsame Anamorphose: Das ist letzte Wort, das Carl von Tohrberg spricht, bevor er verhaftet wird und in die Psy­ch­i­a­t­rie eingeliefert wird – wo er wohl lebenslang bleiben wird. Der Erzähler besucht ihn da – und erlebt seinen Jugendfreund als zufriedenen, mit Tabletten still-gestellen Mann...

Anamorphose: Ich schnüffle etymologisch nach, es ist ein seltenes Wort geworden
„Das Okularglas des Perspektivs ordnet durch eine optische Anamorphose den Wirwarr alternder Linien auf dein heute empfangenen Medaillon der Schwester zu einer holden jungen Gestalt, und das Objektivglas giebt dem unreifen Bilde der Mutter die Merkmale des längern reifern Lebens zurück.“ ( Paul, Jean: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800)
*
Von Schirach leistet selbst die Verbindung zu seltamen Wort:

Mithilfe von Wikipedia kann man das nachvollziehen, was der Erzähler F.. von Schirach selbst als Auslöser für den Muttermord im Text erwähnt:
Der Schädel im Gemälde von Holbein; völlig verzerrt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gesandten#/media/File:Hans_Holbein_the_Younger_-_The_Ambassadors_-_Google_Art_Project.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gesandten#/media/File:Holbein_Skull.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Anamorphose – (Abruf 9.05.2019)
**
Lt. Wiki:
„Auf dem Doppelporträt sind Jean de Dinteville, französischer Botschafter am Hofe Heinrich VIII: von England und Georges de Selve, Bischof von Lavaur, abgebildet. Der Totenkopf in der Mitte unten wird sichtbar, wenn man ihn aus einem sehr flachen Winkel von rechts nach links unten betrachtet.“
*
Der Ausdruck „GLUMP“ wird noch eine Rolle spielen ... für den Erzähler und den Leser.
Ach, warum ich jetzt diesen GLUMP-Text wieder lese:?
Die Stadt Salzburg mit ihren komischen, auf Nepp und bischöflichen oder adeligen Herrschaft und Vornehm-Getue angelegten gelegten Personen und Lokalitäten, spielt die lokale Rolle im Text von Schirach, mit ihrer geheimen Rolle als krankmachende Bedingungen.
- Ähnlich hat auch Stefan Zweig die Salzburger und ihre Stadt (besonders zu Festspielzeiten!) beschrieben; schon nach 1933/34, als er seine kleine Residenz aufgab und später nach England zog.
Das Paschinger Schlössl - auf ewig versperrt; es hat private Besitzer, die das Zweig-Schlösschen nicht öffnen? -
https://de.wikipedia.org/wiki/Paschinger_Schl%C3%B6ssl
*

Gelump der Glump: Auch im Schwäbisch Dialekt nachweisbar:
https://de.wikipedia.org/wiki/Schw%C3%A4bischer_Dialekt

Gelump - oder – Glump!:

Glump/Glomp = Gerümpel, Schrott, Unbrauchbares, qualitativ Minderwertiges (von „Gelumpe“)
*
Auch bei Stefan Zweig kommt der Ausdruck vor:

Der Fremde steht ihm gegenüber, er freut sich auch, man sieht es an dem kleinen Zittern um die Lippen. Nur ist er, der Jüngere, mehr beherrscht. »Na, na, laß es gut sein, ich glaube dir schon, Franzi«, sagt er und klopft dem kleinen Mann von oben herab auf die Schulter, »aber jetzt stelle mich den Damen vor, eine wird ja wohl die Nelly sein, deine Frau, von der du mir immer erzählt hast.« »Natürlich, natürlich, warte nur, ich war nur ganz baff. Nein, wirklich, was ich für eine Freud' habe, Ferdinand!« Und dann zu den andern: »Du weißt doch, Ferdinand, der Farmer, der, von dem ich dir immer erzählt habe. Zwei Jahre sind wir zusammen gelegen in derselben Baracken drüben in Sibirien. Der einzige – ja, wirklich, Ferdinand, du weißt es ja – der einzige, der ein anständiger Kerl war unter dem ruthenischen und serbischen Glump, mit denen man uns zusammengepfropft hat, der einzige, mit dem man hat reden können und auf den ein Verlaß war. Nein, so was! Aber jetzt kommst gleich zu uns herauf, ich bin ja furchtbar neugierig auf alles. Nein, so was, wenn mir das heute jemand gesagt hätt', daß ich noch so eine Freud' haben werde – eine Tramway später, wenn ich gnommen hätte, und man hätte sich vielleicht nie mehr im Leben gesehn.«

(In: Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung; einem nachgelassenen Roman; Vgl. zur Entstehung und den Motiven in diesen Roman: https://de.wikipedia.org/wiki/Rausch_der_Verwandlung )
*
In Buchform: Stefan Zweig Rausch der Verwandlung: Roman aus dem Nachlaß. S. Fischer, Frankfurt 1982, Hrsg. v. Knut Beck.

Was Stefan Zweig noch über Salzburg und die städtischen Marotten  schrieb ... werde ich später berichten.
 
longtime
longtime
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 10.05.2019, 11:40:13
Wütend
Ein allgemeiner Bericht aus dem Interanat: St. Blasien im Schwarzwal -

Aus dem SP'IEGEL:
Ferdinand von Schirach: 8.02.2010 –
ERINNERUNGEN:
WAS ÜBRIG BLEIBT
EINE JUGEND IM JESUITEN-INTERNAT ST. BLASIEN

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69003678.html

 
Ladouce46
Ladouce46
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von Ladouce46
als Antwort auf olga64 vom 07.05.2019, 19:10:02

Ach, liebe Olga,

Landnahme habe ich mir noch einmal vorgenommen, nachdem Sie Christoph Hein erwähnten. Die Inhaltsangabe klingt auch für mich (auch wie bei seinen anderen Büchern) sehr reizvoll. Aber seine Schreibweise langweilt mich schnell. Und noch ein Nebensatz und  noch einer, der völlig unwichtig für die Geschichte ist und mich nur ablenkt. Das hat mich dann doch schnell wieder genervt. Ich wünsche Ihnen mehr Spaß als ich beim Lesen hatte.

Auch mit der Taschler habe ich es mit Leseproben versucht, komme aber nicht richtig rein, da es ein ähnliches Problem für mich gibt. Zuviel Beschreibungen, die m.E. völlig unwichtig sind und die Geschichte zäh machen. Da nützen auch keine Lobeshymnen von allerlei Lesern/Kritikern nicht. Empfinde mich aber z.Zt. auch ziemlich pingelig.

LG  Ladouce

 


Anzeige

olga64
olga64
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64
als Antwort auf Ladouce46 vom 10.05.2019, 16:20:48

LIebe Ladouce, das ist es, was ich am Austausch "ich lese gerade" so mag, dass unterschiedliche Beurteilungen ausgetauscht werden können.
Ich habe gerade "meinen Schirach" zu Ende gelesen und war begeisert, auch wenn dieser kurz, knapp und meist sachlich in Einzelgeschichten schreibt.

Aber mein Hang zu von mir so betitelten "gemütlichen" Büchern ist gross, deshalb auch der von mir erst jetzt entdeckte Herr Hein und natürlich Frau Taschler (habe das neue Buch in meiner Bücherei schon reservieren lassen).
Alles Liebe und danke für Ihre Beurteilung. Olga

Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von Sirona

Th. Fontane – Wanderungen durch die Mark Brandenburg
 

Die Eindrücke, die Fontane am Levensee (Schottland) und Umgebung gewonnen hatte waren der Anlass zu den „Wanderungen durch die Mark“. 
„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“ Das habe ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen “Wanderungen durch die Mark“ sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluß.
 

Im Vorwort schreibt Fontane:
Es ist ein Buntes, Mannigfaches, das ich zusammengestellt habe: Landschaftliches und Historisches, Sitten- und Charakterschilderung - und verschieden wie die Dinge, so verschieden ist auch die Behandlung, die sie gefunden. Aber wie abweichend in Form und Inhalt die einzelnen Kapitel voneinander sein mögen, darin sind sie sich gleich, dass sie aus Liebe und Anhänglichkeit an die Heimat geboren wurden. Möchten sie auch in andren jene Empfindungen wecken, von denen ich am eignen Herzen erfahren habe, dass sie ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden sind.
Berlin, im November 1861

 

 
 
Allegra
Allegra
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von Allegra

Ich lese wieder einmal - für mich zu dieser Jahreszeit gehörend  - :
Felix Timmermanns: Pallieter
Der Roman,  erschienen  1916, wurde in viele Sprachen übersetzt.
Pallieter wurde zur Symbolfiger für das flämische Volk
 
Eine Leseprobe aus dieser bukolischen Erzählung:

„Pallieter saß im Garten und jätete die jungen Gemüsebeete.
Der Boden war weich und glänzte von Fettigkeit. Die Sonne
schien wie ein warmer Atem auf Pallieters weißes Hemd,
und es tat ihm so gut, daß er den Rücken krumm zog und sang.
Zuweilen blieb er eine ganze Zeit sitzen und betrachtete den
duftenden Reichtum des Gartens, und er hätte noch mehr Augen
haben mögen, denn da war mehr Schönheit, als  er sehen konnte.
Die Bäume waren breit und voll, und das Licht, das um die Stämme hing,
war grün wie Mondschein. Es waren schon viele Blumen herausgekommen
und weiße und rote Rosen. Ein Tautropfen glitzerte auf einem schwarzen
Stiefmütterchen.
Und in  dem wassergrünen Licht spielte das Flöten einer Amsel.
Sie saß in dem blühenden Kastanienbaum, innen im Schatten. …“


Allegra
 

Anzeige

olga64
olga64
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64
als Antwort auf Sirona vom 14.05.2019, 10:03:35

Ja, Sirona, Fontane fasziniert mich schon seit meiner SchülerInnen-Zeit. Insbesondere die oft starken Frauenfiguren haben es mir angetan.
Aber auch die wudnerbaren Schilderungen der "Mark Brandenburg"veranlassten mich nach der Wende, dorthin zu fahren und diese Gegend für mich zu entdecken.

Den einzigen Wermutstropfen, den ich bei Fontane für mich verzeichnen muss, ist sein Antisemitismus, der zweifelsohne latent und oft widersprüchlich bei ihm zum Ausdruck kam. Da sieht man auch, wie lange und tief dieser schon im deutschen Volk verankert ist. Olga

kokosar
kokosar
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von kokosar

Ich lese gerade "Die Säulen der Erde" von Ken Follett. Das ist wirklich ein faszinierendes Buch!

Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von Sirona
als Antwort auf olga64 vom 14.05.2019, 17:52:52
Olga, so ist es, wer sich mit dem umfangreichen Werk Fontanes beschäftigt, wird so schnell von diesem bedeutenden Dichter des 20. Jahrhunderts nicht los kommen. 
Wer hat nicht in der Schule von den guten Birnen des Herrn von Ribbeck im Havelland gelesen?  - um nur eines seiner bekanntesten Gedichte zu erwähnen. 
Seine „Wanderungen durch Brandenburg“ schildert er so anschaulich dass man den Eindruck bekommt mitten drin zu sein.
 
Der Antisemitismus herrschte eigentlich schon immer in Europa vor, mal mehr und mal weniger wurden die Juden verfolgt. Und Luther dürfte auch seinen Teil dazu beigetragen haben mit seinen Hetzschriften, die von den Kirchen lange nicht widerrufen worden sind. Selbst im 3. Reich fanden es diese „hochheiligen“ Institutionen nicht für notwendig gegen das Unrecht zu protestieren das der jüdischen Bevölkerung widerfahren ist.
 
Fontane als treuer Preuße war ein Kind des damaligen Zeitgeistes und somit leider auch antisemitisch eingestellt. 
 
LG Sirona


 
olga64
olga64
Mitglied

RE: Ich lese gerade
geschrieben von olga64
als Antwort auf Sirona vom 14.05.2019, 19:09:38

DAnke Sirona.
Es gehört zu den grossen Unverständlichkeiten meines deutschen Lebens, dass ich nie begreifen werde, dass so wunderbare Männer wie Fontane Antisemiten waren (wie auch Wagner, Nolde, Luther usw.) und doch so Grosses geleistet haben, was noch in der Nachwelt erhalten geblieben ist.
Der Vorteil für mich besteht nur darin, dass wir es heute wissen (können) und uns auch ein wenig davor hüten können, wenn besonders imponierende Menschen vielleicht doch auch ihre dunklen Punkte in ihrer Vita haben, die wir nicht sofort erkennen können. Jetzt habe ich sehr verschwurbelt geschrieben - konnte aber nicht anders zu diesem mich lebenslang bewegenden Thema. Olga


Anzeige