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Literatur Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe

Federstrich
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Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Federstrich
als Antwort auf yoli vom 12.08.2015, 11:04:21
Yoli, ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe. Meinst du, wo du solche Briefe, wie hier gepostet, finden kannst? Falls ja, so gibt es genügend Editionen von Briefen, die z.T. auch online verfügbar sind. Ansonsten macht es auch ein Scan, falls das jeweilige Copyright es hergibt. )
yoli
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Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von yoli
als Antwort auf Federstrich vom 12.08.2015, 17:35:43
weisst du Fedi, ich könnte schon suchen, weiss nur nicht ob es hauptsächlich Liebesbriefe sein sollten. Aber Clematis oder Sirona können mir auch helfen, nun da ich gefragt habe
Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf yoli vom 12.08.2015, 22:29:06
hallo Yoli,

Du siehst doch, dass es nicht nur Liebesbriefe sind, wenn Du liest, was bisher geschrieben wurde.
Briefe sind für mich die intimsten Mitteilungen eines Menschen an einen Vertrauten. Deshalb sind sie so wichtig und ihre Aussagen sind immer gültig.
Wenn Du Fragen hast, kannst Du doch eine PN schreiben.

Wenn Du keine Bücher hast, in denen Briefe veröffentlicht wurden, kannst Du einfach hier lesen, deshalb ist dieser Thread eröffnet worden, damit diese wertvollen Schätze nicht vergessen werden.

lieben Gruss
Clematis

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yoli
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Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von yoli
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 13.08.2015, 08:27:52
Danke Clematis, ich habe keine Bücher in Deutsch. Lesen ist OK. Hingegen lebt ein Forum von den Schreibern und Diskutieren. Ich wollte nicht extra eine PN schreiben, da meistens Du oder Clematis hier sowieso liest. OK?
Also dann suche ich auch im Internet und werde sicher fündig.
Danke und eine gute Zeit
Yoli
yoli
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Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von yoli
als Antwort auf yoli vom 13.08.2015, 09:30:07
Buch: „Briefe an einen jungen Dichter“ von Rainer Maria Rilke

Ein 19-jähriger, dichtender Offiziersanwärter derselben Militärakademie, die Rilke einst selbst besucht hatte, steht an der Schwelle zu einem Beruf, den er seinen Neigungen geradezu als entgegengesetzt empfindet und schreibt zu Beginn des Jahres 1903 an R.M. Rilke. Er verehrt und bewundert Rilke, legt einige seiner dichterischen Versuche anbei und bittet ihn um sein Urteil.

Und Rilke antwortet.

Zwar sträubt der sich zunächst, etwas zu den Dichtversuchen zu schreiben („Ich kann nicht auf die Art Ihrer Verse eingehen; denn mir liegt jede kritische Absicht zu fern. Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus.“), verliert dann aber dennoch ein paar Worte darüber – die allerdings niederschmetternd in den Ohren des jungen Dichters geklungen haben müssen („…darf ich Ihnen nur noch sagen, daß Ihre Verse keine eigene Art haben, wohl aber stille und verdeckte Ansätze zu Persönlichem. (…) Trotzdem sind diese Gedichte noch nichts für sich, nichts Selbständiges…“).

Rilke aber belässt es dabei nicht.

Im Gegenteil. Er ermutigt den jungen Dichter, in sein Inneres zu gehen und nach der Motivation seines Schreibens zu fragen und diese zu überprüfen. (Und kaum habe ich diese Worte getippt, kommen sie mir so neudeutsch und unlyrisch vor wie nur irgendwas – jedenfalls werde ich mit diesen Worten Rilke nicht gerecht – so altmodisch, dramatisch, brutal, stellenweise vielleicht auch selbstmitleidig, melancholisch, traurig, einsam und still die seinen in unseren Ohren klingen mögen):

„Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten, und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen >Ich muß< dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.“

Klingt brutal, oder nicht?
Das Leben nach der Notwendigkeit, dem Drang zu schreiben, auszurichten. Rilke erläutert dies im weiteren Verlauf des Briefes und kommt schließlich zu dem Schluss „Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort. (…) Und wenn aus dieser Wendung nach innen, aus dieser Versenkung in die eigene Welt Verse kommen, dann werden Sie nicht daran denken, jemanden zu fragen, ob es gute Verse sind. Sie werden auch nicht den Versuch machen, Zeitschriften für diese Arbeiten zu interessieren: denn Sie werden in ihnen Ihren lieben natürlichen Besitz, ein Stück und eine Stimme Ihres Lebens sehen. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus der Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes.“

Rilke sieht es als Berufung an, Künstler zu sein und – das klingt sehr radikal in seinem Brief durch – er empfindet diese Berufung als ein schweres Los. „Vielleicht erweist es sich, daß Sie berufen sind, Künstler zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich, und tragen Sie es, seine Last und seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte. Denn der Schaffende muß eine Welt für sich sein und alles in sich finden (…). Vielleicht aber müssen Sie auch nach diesem Abstieg in sich und Ihr Einsames darauf verzichten, ein Dichter zu werden (es genügt, wie gesagt, zu fühlen, daß man, ohne zu schreiben, leben könnte, um es überhaupt zu dürfen).“

Kaum vorstellbar in unserer heutigen Zeit, oder?
Und doch scheint mir, als haben Rilkes Worte, seine Versuche von Ratschlägen an den jungen Dichter, bis heute nichts von ihrer Wahrhaftigkeit verloren. Auch nichts von der Dramatik, die er zeichnet, und von der Brutalität. Gerade in unserer Welt, mediengeprägt mehr und mehr und öffentlichkeits- und publikumsheischend. Wo bleibt dabei unser Blick in unser Inneres? Sicher kann man argumentieren, es sei ja eine hehre Auffassung, nur und ausschließlich seinem Inneren, seiner inneren Stimme und der Notwendigkeit dieser zu folgen, zu leben und zu arbeiten, nicht nach dem (auch materiellen!) Lohn zu fragen; heutzutage säße man sicherlich schneller einem Mitarbeiter der ARGE gegenüber und fände sich in einem 1-Euro-Job wieder als dass man auch nur vier Zeilen auf dem Papier hat.

Dennoch: Rilkes Zeilen berühren. Mich jedenfalls, und das gerade in Zeiten, in denen ich mich wieder und wieder frage, warum ich eigentlich das tue, was ich tue; in Zeiten, in denen der Wert und das Ansehen eines Einzelnen fast ausschließlich an seiner Arbeit, seinem Einkommen, seinem Status (oh, es widerstrebt mir so, das allein zu benennen!) gemessen wird.

Insgesamt zehn Briefe sind im Buch nachzulesen. Und das Bedauern darüber, dass wir als Leser nur die eine Seite des Briefwechsels kennen lernen dürfen, verfliegt schnell, so fesseln nach kurzer Zeit Rilkes Zeilen.
Unverkennbar zeigen sich in ihnen seine Ruhe- und Rastlosigkeit, sein wohl unentbehrliches Bedürfnis, jedes seiner Zelte genauso schnell wieder abbauen zu können wie aufzubauen, eine Bestimmtheit, die letztlich darin mündet, in allem, was er tut, dem Primat der Kunst Ausdruck zu verleihen. Das ist radikal und man braucht nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um zu verstehen, wie sehr Rilke trotz der gewollten Unstetheit in seinem Leben darunter leidet: „Ich kann kaum mehr.“ (Brief vom 17.2.1903); „Ich war die ganze Zeit leidend, nicht gerade krank, aber von einer influenza-artigen Mattigkeit bedrückt, die mich unfähig machte zu allem.“ (Brief vom 5.4.1903); „…recht leidend und müde…“ (Brief vom 16.7.1903). Nicht, dass wir uns hier falsch verstehen, Rilke beschreibt hier keine eigene Schaffenskrise, denn gerade 1903, dem Jahr auch seines ersten Parisaufenthaltes, wird gemeinhin als Rilkes entscheidende Wende zum eigenständigen, virtuosen Lyriker genannt.
Wir haben hier die Chance, Rilke wahrhaft als Menschen zu sehen. Er schreibt sehr persönlich, mit einer Art Urvertrauen teilt er seine (Lebens-)Erfahrungen (mit). Meist sind es schmerzliche, sei es, dass Rilke über die Einsamkeit schreibt – und darüber schreibt er oft –, über die Liebe (er selbst ehelichte im April 1901 die Bildhauerin Clara Westhoff und noch im selben Jahr kommt Tochter Ruth auf die Welt), über Traurigkeiten, über Zweifel, über Gefühle von Gefangensein, über das vermeintliche Unvermögen, das äußere und innere Leben in Einklang zu bringen, über Geduld und Vertrauen und die Reinheit und Klarheit aller Gefühle.

Lesen Sie diese 52 Seiten. Unbedingt.
Sie müssen Rilkes Aussagen auch nicht zustimmen. Nur nachfühlen.

Rilke, Rainer Maria: „Briefe an einen jungen Dichter“, Insel Verlag Leipzig, ISBN 978-3-458-08406-8, € 8,80 (gebundene Ausgabe)

PS: Der „junge Dichter“ übrigens ist Franz Xaver Kappus (1883 – 1946).Von 1903 an stand er in regelmäßigem Briefwechsel mit R.M. Rilke, der „bis 1908 währte und dann allmählich versickerte, weil mich das Leben auf Gebiete antrieb, von denen des Dichters warme, zarte und rührende Sorge mich eben hatte bewahren wollen“ (Vorwort zur ersten Ausgabe 1929).

Rilke hat dann sehr lieb zurück geschrieben. Diesen Brief werde ich dann gerne auch einsetzen.
Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied
Heinrich Heine
in
Briefe aus Helgoland

Helgoland, den 8. Julius 1830

Da gestern Sonntag war und eine bleierne Langeweile über der ganzen Insel lag und mir fast das Haupt eindrückte, griff ich aus Verzweiflung zur Bibel..., und ich gestehe es dir, trotzdem daß ich ein heimlicher Helene bin, hat mich das Buch nicht bloß gut unterhalten, sondern auch weidlich erbaut. Welch ein Buch!
Groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels...Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, alles ist in diesem Buche...
Es ist das Buch der Bücher, Biblia.


Clematis
wünscht einen frohen Sonntag

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yoli
yoli
Mitglied

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von yoli
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 16.08.2015, 10:16:59
hier wie gewünscht
und versprochen
Rilke hat dann sehr lieb zurück geschrieben. Diesen Brief werde ich dann gerne auch einsetzen.

An Franz Xaver Kappus
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903


Vor etwa zehn Tagen habe ich Paris verlassen, recht leidend und müde, und bin in eine große nördliche Ebene gefahren, deren Weite und Stille und Himmel mich wieder gesund machen soll. Aber ich fuhr in einen langen Regen hinein, der heute erst sich ein wenig lichten will über dem unruhig werdenden Land; und ich benutze diesen ersten Augenblick Helle, um Sie zu grüßen, lieber Herr.
Sehr lieber Herr Kappus: Ich habe einen Brief von Ihnen lange ohne Antwort gelassen, nicht daß ich ihn vergessen hätte - im Gegenteil: er war von der Art derer, die man wieder liest, wenn man sie unter den Briefen findet, und ich erkannte Sie darin wie aus großer Nähe. Es war der Brief vom zweiten Mai, und Sie erinnern sich seiner gewiß. Wenn ich ihn, wie jetzt, in der großen Stille dieser Ferne lese, dann rührt mich Ihre schöne Sorge um das Leben, mehr noch, als ich das schon in Paris empfunden habe, wo alles anders anklingt und verhallt wegen des übergroßen Lärmes, von dem die Dinge zittern. Hier, wo ein gewaltiges Land um mich ist, über das von den Meeren her die Winde gehen, hier fühle ich, daß auf jene Fragen und Gefühle, die in ihren Tiefen ein eigenes Leben haben, nirgend ein Mensch Ihnen antworten kann; denn es irren auch die Besten in den Worten, wenn sie Leisestes bedeuten sollen und fast Unsägliches. Aber ich glaube trotzdem, daß Sie nicht ohne Lösung bleiben müssen, wenn Sie sich an Dinge halten, die denen ähnlich sind, an welchen jetzt meine Augen sich erholen. Wenn Sie sich an die Natur halten, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermeßlichen werden kann; wenn Sie diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als ein Dienender das Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstande vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem innersten Bewußtsein, Wach-sein und Wissen.




Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Vielleicht tragen Sie ja in sich die Möglichkeit, zu bilden und zu formen, als eine besonders selige und reine Art des Lebens; erziehen Sie sich dazu, - aber nehmen Sie das, was kommt, in großem Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem Willen kommt, aus irgendeiner Not Ihres Innern, so nehmen Sie es auf sich und hassen Sie nichts. Das Geschlecht ist schwer; ja. Aber es ist Schweres, was uns aufgetragen wurde, fast alles Ernste ist schwer, und alles ist ernst. Wenn Sie das nur erkennen und dazu kommen, aus sich, aus Ihrer Erfahrung und Kindheit und Kraft heraus ein ganz eigenes (von Konvention und Kindheit und Sitte nicht beeinflußtes) Verhältnis zu dem Geschlecht zu erringen, dann müssen Sie nicht mehr fürchten, sich zu verlieren und unwürdig zu werden Ihres besten Besitzes.
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen von der Welt, die Fülle und der Glanz alles Wissens. Und nicht, daß wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, daß fast alle diese Erfahrung mißbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten. Die Menschen haben ja auch das Essen zu etwas anderem gemacht: Not auf der einen, Überfluß auf der anderen Seite haben die Klarheit dieses Bedürfnisses getrübt, und ähnlich trübe sind alle die tiefen, einfachen Notdürfte geworden, in denen das Leben sich erneuert. Aber der einzelne kann sie für sich klären und klar leben (und wenn nicht der einzelne, der zu abhängig ist, so doch der Einsame). Er kann sich erinnern, daß alle Schönheit in Tieren und Pflanzen eine stille dauernde Form von Liebe und Sehnsucht ist, und er kann das Tier sehen, wie er die Pflanze sieht, geduldig und willig sich vereinigend und vermehrend und wachsend nicht aus physischer Lust, nicht aus physischem Leid, Notwendigkeiten sich neigend, die größer sind als Lust und Leid und gewaltiger denn Wille und Widerstand. O daß der Mensch dieses Geheimnis, dessen die Erde voll ist bis in ihre kleinsten Dinge, demütiger empfinge und ernster trüge, ertrüge und fühlte, wie schrecklich schwer es ist, statt es leicht zu nehmen. Daß er ehrfürchtig wäre gegen seine Fruchtbarkeit, die nur eine ist, ob sie geistig oder körperlich scheint; denn auch das geistige Schaffen stammt von dem physischen her, ist eines Wesens mit ihm und nur wie eine leisere, entzücktere und ewigere Wiederholung leiblicher Wollust. «Der Gedanke, Schöpfer zu sein, zu zeugen, zu bilden», ist nichts ohne seine fortwährende, große Bestätigung und Verwirklichung in der Welt, nichts ohne die tausendfältige Zustimmung aus Dingen und Tieren, - und sein Genuß ist nur deshalb so unbeschreiblich schön und reich, weil er voll ererbter Erinnerungen ist aus Zeugen und Gebären von Millionen. In einem Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf und erfüllen ihn mit Hoheit und Höhe. Und die in den Nächten zusammenkommen und verflochten sind in wiegender Wollust, tun eine ernste Arbeit und sammeln Süßigkeiten an, Tiefe und Kraft für das Lied irgendeines kommenden Dichters, der aufstehn wird, um unsägliche Wonnen zu sagen. Und rufen die Zukunft herbei; und wenn sie auch irren und sich blindlings umfassen, die Zukunft kommt doch, ein neuer Mensch erhebt sich, und auf dem Grunde des Zufalls, der hier vollzogen scheint, erwacht das Gesetz, mit dem ein widerstandsfähiger kräftiger Samen sich durchdrängt zu der Eizelle, die ihm offen entgegenzieht. Lassen Sie sich nicht beirren durch die Oberfläche; in den Tiefen wird alles Gesetz. Und die das Geheimnis falsch und schlecht leben (und es sind sehr viele), verlieren es nur für sich selbst und geben es doch weiter wie einen verschlossenen Brief, ohne es zu wissen. Und werden Sie nicht irre an der Vielheit der Namen und an der Kompliziertheit der Fälle. Vielleicht ist über allem eine große Mutterschaft, als gemeinsame Sehnsucht. Die Schönheit der Jungfrau, eines Wesens, «das (wie Sie so schön sagen) noch nichts geleistet hat», ist Mutterschaft, die sich ahnt und vorbereitet, ängstigt und sehnt. Und der Mutter Schönheit ist dienende Mutterschaft, und in der Greisin ist eine große Erinnerung. Und auch im Mann ist Mutterschaft, scheint mir, leibliche und geistige; sein Zeugen ist auch eine Art Gebären, und Gebären ist es, wenn er schafft aus innerster Fülle. Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammentun werden als Menschen, um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen. Aber alles, was vielleicht einmal vielen möglich sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten und bauen mit seinen Händen, die weniger irren.




Darum, lieber Herr, lieben Sie Ihre Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht, mit schön klingender Klage. Denn die Ihnen nahe sind, sind fern, sagen Sie, und das zeigt, daß es anfängt, weit um Sie zu werden. Und wenn Ihre Nähe fern ist, dann ist Ihre Weite schon unter den Sternen und sehr groß; freuen Sie sich Ihres Wachstums, in das Sie ja niemanden mitnehmen können, und seien Sie gut gegen die, welche zurückbleiben, und seien Sie sicher und ruhig vor ihnen und quälen Sie sie nicht mit Ihren Zweifeln und erschrecken Sie sie nicht mit Ihrer Zuversicht oder Freude, die sie nicht begreifen könnten.

Suchen Sie sich mit ihnen irgendeine schlichte und treue Gemeinsamkeit, die sich nicht notwendig verändern muß, wenn Sie selbst anders und anders werden; lieben Sie an ihnen das Leben in einer fremden Form und haben Sie Nachsicht gegen die alternden Menschen, die das Alleinsein fürchten, zu dem Sie Vertrauen haben. Vermeiden Sie, jenem Drama, das zwischen Eltern und Kindern immer ausgespannt ist, Stoff zuzuführen; es verbraucht viel Kraft der Kinder und zehrt die Liebe der Alten auf, die wirkt und wärmt, auch wenn sie nicht begreift. Verlangen Sie keinen Rat von ihnen und rechnen Sie mit keinem Verstehen; aber glauben Sie an eine Liebe, die für Sie aufbewahrt wird wie eine Erbschaft, und vertrauen Sie, daß in dieser Liebe eine Kraft ist und ein Segen, aus dem Sie nicht herausgehen müssen, um ganz weit zu gehen!
Es ist gut, daß Sie zunächst in einen Beruf münden, der Sie selbständig macht und Sie vollkommen auf sich selbst stellt in jedem Sinne. Warten Sie geduldig ab, ob Ihr innerstes Leben sich beschränkt fühlt durch die Form dieses Berufes. Ich halte ihn für sehr schwer und für sehr anspruchsvoll, da er von großen Konventionen belastet ist und einer persönlichen Auffassung seiner Aufgaben fast keinen Raum läßt. Aber Ihre Einsamkeit wird Ihnen auch inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und Heimat sein, und aus ihr heraus werden Sie alle Ihre Wege finden. Alle meine Wünsche sind bereit, Sie zu begleiten, und mein Vertrauen ist mit Ihnen,
Ihr:

Rainer Maria Rilke
yoli
yoli
Mitglied

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von yoli
als Antwort auf yoli vom 18.08.2015, 15:30:46
Ihr Lieben, ich bin für eine Weile weg und habe nur begrenzt Internet. Geniesst weiterhin eure Einträge und alles Gute.
Yoli
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona
Der 16-jährige Franz Schubert verfügte in seiner Convictzeit über wenig Geld und schrieb deshalb an einen seiner Brüder – wahrscheinlich Ferdinand – folgenden Brief, der durch seinen gemütlich-derben Inhalt das Herz des Lesenden berühren kann.

Gleich heraus damit, was mir am Herzen liegt, und so komme ich eher zu meinem Zwecke, und Du wirst nicht durch liebe Umschweife lang aufgehalten. Schon lange habe ich über meine Lage nachgedacht und gefunden, dass sie im Ganzen genommen zwar gut sei, aber noch hie und da verbessert werden könnte; Du weißt aus Erfahrung, dass man doch manchmal eine Semmel und ein Paar Äpfel essen möchte, um so mehr, wenn man nach einem mittelmäßigen Mittagsmahle nach 8 ½ Stunden erst ein armseliges Nachtmahl erwarten darf. Dieser schon oft sich aufgedrungene Wunsch stellt sich nun immer mehr ein, und ich mußte nolens volens endlich eine Abänderung treffen. Die paar Groschen, die ich vom Herrn Vater bekomme, sind in den ersten Tagen beim T-, was soll ich dann die übrige Zeit thun?
„Die auf dich hoffen, werden nicht zu Schanden werden. Matthäus Cap. 2, V4.“ So dachte auch ich. – Was wärs’ denn auch, wenn Du mir monatlich ein paar Kreuzer zukommen ließest. Du würdest es nicht einmal spüren, indem ich mich in meiner Klause für glücklich hielte und zufrieden sein würde. Wie gesagt, ich stütze mich auf die Worte Apostels Matthäus, der da spricht: „Wer zwei Röcke hat, der gebe einen den Armen“. Indessen wünsche ich, dass Du der Stimme Gehör geben mögest, die Dir unaufhörlich zuruft, Deines Dich liebenden, armen hoffenden und nochmals armen Bruders Franz zu erinnern.
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona
In den letzten Briefen schrieb Dietrich Bonhoeffer u.a. am 17.01.1945 an seine Eltern folgendes:

Liebe Eltern!

Mit wie wenig der Mensch auskommt, habe ich ja in den zwei vergangenen Jahren gelernt. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen jetzt täglich alles verlieren, hat man eigentlich gar keinen Anspruch mehr auf irgendwelchen Besitz.
Fliegt Hans Walter jetzt eigentlich im Osten? Und Renate’s Mann?
Habt vielen Dank für Euren Brief, auch Maria danke ich für ihren Weihnachtsbrief sehr! Man liest die Briefe hier bis man sie auswendig kann!
Noch ein paar Bitten: es wurden heute für mich leider keine Bücher abgegeben. Kommissar Sonderegger würde sie auch zwischendurch annehmen, wenn Maria sie herbringt! Ich wäre sehr dankbar dafür. Auch Streichhölzer, Waschlappen und Handtuch fehlten diesmal. Verzeiht, dass ich das sage: es war sonst alles ganz herrlich! Vielen Dank! Könnte ich bitte Zahnpasta und ein paar Kaffeebohnen bekommen? Könntest Du, lieber Papa, aus der Bibliothek bestellen: H. Pestalozzi: „Lienhard“ und „Abendstunden eines Einsiedlers“; P. Natorp: „Sozialpädagogik“; Plutarch: „Große Männer“. Biographien?
Es geht mir gut. Bleibt nur gesund! Habt vielen Dank für alles. Maria viele Grüße und Dank! Auch allen Geschwistern und Schwiegermutter!
Von Herzen grüßt Euch

Euer dankbarer Dietrich


Renate: Renate Bethge, geb. Schleicher, war Dietrich Bonhoeffers Nichte (Tochter seiner Schwester Ursula) und wohnte mit ihren Eltern direkt neben ihren Großeltern, Hans-Walter war Renates Bruder, damals 21 J.

Maria: Bonhoeffers Verlobte

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