Literatur Gedichte 01

enigma
enigma
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Gedichte
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 14.04.2007, 14:30:14
Jetzt komme ich mit einem, der auch etwas zu sagen hatte bisher in seinem Leben und manchmal auch - vermute ich - zwischen allen Stühlen saß und ganz sicher Probleme in seinem realen Leben hatte:

Das erste Gedicht beim Verlassen Tschetscheniens

“Mit beiden Händen
Das Herz fassen
Diesen alten Igel
Und alle Wunden
Mit einer Schusterahle
Fest vernähn
Wie man Stiefel flickt
Und reisen
In alle Himmelsrichtungen
Und schweigen
Wenigstens
Bis ans Ende des Lebens
Aber – “

Apti Bisultanov
Schriftsteller und Journalist

--
enigma
pilli
pilli
Mitglied

Re: Gedichte 01
geschrieben von pilli
als Antwort auf hl vom 24.03.2007, 13:14:50
Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)

--
pilli
Medea
Medea
Mitglied

Re: Gedichte 01
geschrieben von Medea
als Antwort auf pilli vom 15.04.2007, 00:03:54

Unter der Linden
an der Haide,
da unser zweyer Bette was,
da möget ihr finden
schöne Beyde
gebrochen Blumen und Gras.
Vor dem Walde in einem Thal,
Tandaradei! Schöne sang die Nachtigall.

Ich kam gegangen
zu der Aue,
das was mein Friedel kommen eh;
da ward ich empfangen:
Here Fraue,
daß ich bin selig immer meh.
Er küßte mich wohl tausend Stund,
Tandaradei, seht wie rot ist mir der Mund!

Da hat er gemachet
also reiche
von Blumen eine Bettestatt.
Des wird noch gelachet
innigliche,
kömmt jemand an dasselbe Pfat;
bey den Rosen er wohl mag.
Tandaradei! Merken, wo mirs Haupte lag.

Daß er bey mir lege,
wüßt es jemand,
behüte Gott, so schämt ich mich.
Was er mit mir pflege,
nimmer niemand
befinde das, wann er und ich,
und ein kleines Vögellein.
Tandaradei! Das mag wohl getreue seyn.

Walther von der Vogelweide

Medea.

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Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 14.04.2007, 14:30:14
Tucholskys "Lenzliche Leitartikel"...

... für deutsche Leser im Jahre 1928:

Fortsetzung für den

"Vorwärts"

Der Lenz ist da. Da zieht der klassenbewußte Arbeiter gern ins Grüne und vergißt für einige Stunden die ernste Berufsarbeit und die Fron des Lebens. Ein Blick in die dem Arbeiter vertraute Natur lehrt, woher allein das Heil kommen kann. aus der Zusammenarbeit aller für ein Gesamtziel, und auch die Natur, die keine Einzelführer kennt, sondern jede Gattung nur als Ganze wirken läßt, bestätigt den Sozialismus und die Republik.
Ohne etwa russische Experimente, deren Gefährlichkeit feststeht, billigen zu wollen, wird doch die Partei unerschütterlich, von staatsmännischem Kompromiß zu Kompromiß eilend, am Aufbau Deutschlands mitarbeiten, dem Völkerfrühling entgegen!


--
elfenbein
Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 15.04.2007, 07:39:32
K.T.s "lenzlicher Leitartikel"...

... für eine "Modezeitschrift", im Jahre 1928:


Der Lenz ist da.

Die Dame von Welt bevorzugt in diesem Jahr das leichte Kascha-Kostüm, das oben eine leicht erweiterte Linie gegen das vorige Jahr zeigt, unten aber streng zusammengerafft ist.
Hellbraun, marinegrün und gendarmenblau sind die Farben des Frühlings.
Die Schuhe für den Morgen sind aus leicht gefälteltem Bambusrohr, für den Vormittag ist natürlich nur pockennarbiges Walfischleder möglich; für den frühen Nachmittag weiß gestepptes Bockleder, für den späten Nachmittag stumpfes Kalbleder, für den Abend Lackseide oder Alpacca Chenille.
*
[Kascha, Kasha; ein Kashmir-Wollstoff]
[.. was es 1928 schon alles gab: Chenille: Garn mit flauschig abstehenden Fasern]

**

Hingetupfte Kunstfarben-Mode, von heute:
Thomas Grochowiak - ehemaliger Recklinghäuser Kaufhausmaler; inzwischen "Prof." - nennt dieses Gemälde: "Frühling läßt sein blaues Band ..."
(1993, farbige Tusche. 93,5 x 74,5 cm; Preis anfragbar im Internet)

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elfenbein
Medea
Medea
Mitglied

Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von Medea
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 15.04.2007, 07:39:32
Verzeih Elfenbein,
aber Tucholskys "Arbeiter-Lenz" möchte ich Meleagros aus Gadara, 1, Jhrdt. v. Chr., gegenüberstellen:

Schon entfliehet der Winter, es schwebt durch die säuselnden Lüfte lächelnd nieder der blumige Lenz, auf purpurnen Schwingen,
ihm bekränzt sich die Erde, sie schmückt mit duftenden Blumen ihren bräutlichen Schoß, und die Locken mit Blüten des Sprößlings.
Siehe die Wiesen lachen! Sie saugen die Tropfen, die Acos träufelt, die allernährende, denen die Rose sich aufschleußt.
Auf dem Gebirge frohlocken die Hirten, es tönen die Flöten und der Gesang, und es freut sich der hüpfenden Lämmer der Schäfer.


Medea.
--
medea.

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Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 15.04.2007, 07:51:17
Tucholsky (im Abschluss seiner "lenzlichen" Feuilletonorgie:)


Der liebe Gott nach Lektüre der Morgenzeitungen:

«Dös wann i g'wußt hätt, nachher hätt i dös net erschaffn!»


(Peter Panter, Simplicissimus 26.3.1928; K. Tucholsky: Gesamtausgabe. Briefe und Schriften. Bd. 10. Texte 1928. S. 118-120)

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elfenbein
Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 15.04.2007, 08:01:44
Mein letzter Tucholsky-Text in diesem Früh-Frühling:

(... auch weil K.T. hier Mörike selber zitiert; aber Anlass und die zu erwartenden Werbestrategien für Ostseebäder, die die Gastherren und Kapitalbetreiber lieber "judenfrei" halten wollten, ließen K.T. prophetisch zu dieser Klage treiben:)


Kurt Tucholsky:
Saisonbeginn an der Ostsee


232 km. Warnemünde. (Plan s. S. 114) Gasthöfe am Strande: Hübner mit Konditorei, 150 Zimmer zu 1.25 M - 5 M, Frühstück 1.25 M, Pension 5 - 6 M. (Baedeker 1914)

Es läuft der Vorfrühlingswind
durch kahle Alleen;
seltsame Dinge sind
in seinem Wehn. (Hugo von Hofmannsthal)


Oben an der Nordostküste Deutschlands rollen die Wogen in langen Linien auf den Strand - es ist sehr kalt und frisch, und der Sand ist ganz naß. Horch! läutets da nicht silberhell durch die Lüfte? Du hast dich nicht verhört, herzliebster Leser: ist ers doch, der rosafüßige Frühling, der soeben - mit Genehmigung der zuständigen Wetterwarte - seinen Einzug gehalten hat. Frühling, ja, er ists! Marie, der Lenz ist da - und allenthalben hebt ein geschäftiges Leben und Treiben an und versetzt die biedere Bevölkerung der Wasserkante in die höchste Aufregung.

Die Ostseewirte sind aus langem Winterschlaf erwacht und recken faul die gewaltigen Glieder. Langsam kriechen sie aus den wärmenden Speckhüllen, die sie in der rauhen Jahreszeit vor den Unbilden des unwirschen Klimas geschützt haben, die Fenster fliegen auf, und in riesigen Schwaden entweicht ein trüber Grogdunst in den hellblauen Frühlingshimmel. Kräftige Fäuste packen die Stoffüberzüge, mit denen winters die Wälder zugedeckt werden, zerren daran und reißen sie herunter; die jubelnde Jugend reinigt den Strand und schüttet frischen Sand als Streu für die zu erwartenden Kurgäste auf. Saisonbeginn!
(...)

Fortsetzung der Frühlingsreportage:
(Von Peter Panter; in: Die Weltbühne, 11.05.1922, Nr. 19, S. 481)

Eine Geschichte der Ostseebäder:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/umschlag_2645.png


--
elfenbein
enigma
enigma
Mitglied

Re: Lenzliches vom Dichter Tucholsky
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 15.04.2007, 08:23:36
Ein absolut vielseitiger Mann, der Herr Tucholsky, so ganz nebenbei war er auch noch Modeexperte.
Jedenfalls klingt auch das gut, was er über Mode, erst recht natürlich, was er über den Frühling gesagt hat.

Ich möchte nun ein Frühlingsgedicht einstellen von einer jungen Frau, die so vielversprechend begabt war und fast um ihr ganzes Leben betrogen wurde:

Frühling

Sonne. Und noch ein bißchen aufgetauter Schnee
und Wasser, das von allen Dächern tropft,
und dann ein bloßer Absatz, welcher klopft,
und Straßen, die in nasser Glattheit glänzen,
und Gräser, welche hinter hohen Fenzen
dastehen, wie ein halbverscheuchtes Reh ...
Himmel. Und milder, warmer Regen, welcher fällt,
und dann ein Hund, der sinn- und grundlos bellt,
ein Mantel, welcher offen weht,
ein dünnes Kleid, das wie ein Lachen steht,
in einer Kinderhand ein bißchen nasser Schnee
und in den Augen Warten auf den ersten Klee ...
Frühling. Die Bäume sind erst jetzt ganz kahl
und jeder Strauch ist wie ein weicher Schall
als erste Nachricht von dem neuen Glück.
Und morgen kehren Schwalben auch zurück.
Selma Meerbaum-Eisinger

--
enigma
Re: Lenzliches bei Sklaven
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Medea vom 15.04.2007, 07:58:57
...Tucholsky als "Arbeiter-Lenz"?

Da lässt du dich durch willkürlich herausgegriffene Wörter täuschen. - Um Unsinn zu verbreiten?
Es gibt keinen Poeten und Essayisten des 20. Jh.s, der Politik, Natur und Ideologie so essayistisch und lyrisch aufzeigte und den Faschismus in der deutschen Bürgerlichkeit Einzug und Diktatur halten sah.
(Ja, er war Pazifist und Jude und Jurist - etc...! - Reicht da schon, um ihn nicht zu lesen - und ihn zu verunglimpfen? Er bezeichnet sich selber als "Anti-Bolschewist").

"Filbinger-Deutsche" danken es solchen aufgeklärten Menschen noch heute mit Verachtung und Lügen, du auch...? Als Post-Geschichte...

**

Also: lies du mal den zufällig aufgefunden Meleagros, (um 140 v. Chr.in Gadara/Syrien; 70 v. Chr. auf Kos); der noch als Geschundener an seine Mitsklaven dichten musste:
(Gemeint ist ja nicht der Meleagros der griechischen Mythologie, der Sohn der Althaia und Oineus.)

Meleagros:
DIE LIEBE LÖSCHEN

Liebesenttäuschte,
die einmal das Feuer der Liebe zu Knaben kennengelernt
und selbst bitteren Honig geschmeckt,
Schnell, holt Eiswasser her, ich bitte,
von eben geschmolznem eisigem Schnee und rasch!
gießt es mir über das Herz!
Ach, Dionysios hab ich gesehn.
Ich wagt'es! Mitsklaven, löscht mir das Feuer,
o löscht! eh es das Mark mir verzehrt.

*
Quelle: Joachim Campe (Hg.) "Matrosen sind der Liebe Schwingen", Frankfurt/M. 1994.
--
elfenbein

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