Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik Erinnerungskultur - oder Geschichtsverdrängung?

Innenpolitik Erinnerungskultur - oder Geschichtsverdrängung?

adam
adam
Mitglied

Re: Erinnerungskultur - oder Geschichtsverdrängung?
geschrieben von adam
als Antwort auf carlos1 vom 01.02.2010, 21:20:04
„Wenn jemand sagt: "Du mußt!", kann die Antwort nur sein: "Ich muß garnichts!".Adam

Das ist der Rat Pestalozzis: Das wichtigste Wort in der Erziehung sei das Wort „Nein“. Aber vom Erziehenden gesprochen. Du siehst es wohl vom Schüler gesprochen.


@carlos1,

mein Zitat ("Ich muß garnichts!") sehe ich für jeden erwachsenen Menschen in dem Sinn, sich immer wieder seine Entscheidungsfreiheit vor Augen zu halten, sie für sich immer wieder zu erarbeiten und so kritisch seiner Umwelt gegenüber zu sein und zwar bei positiven als auch negativen Entscheidungen.

Daß dies Heranwachsenden nicht einfach zu vermitteln ist, ist mir klar. Aber es müssen ja nicht gleich die negativen Beispiele sein, mit denen dieses "Nein" vermittelt wird.

Dem Jugendlichen genügt es, ein Erfolgserlebnis aus seinem freien Willen zu haben, z.B. wenn er sich nicht unbedingt dem Stärksten in seiner Gruppe unterordnet, nur weil der der Stärkste ist.
Ein willenstarkes Ego stellt sich dann leichter auch schlechten Einflüssen entgegen. Gerade fehlende Erfolgserlebnisse sind heute bei Jugendlichen ein Problem. Wenn sie keine erleben, holen sie sich diese Nahrung für das Ego schlimmstenfalls im Kriminellen.

In der Unfähigkeit vieler Menschen kritisch zu denken und im Unvermögen ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen, sehe ich eine Möglichkeit für autoritäre Menschen, Macht anzuhäufen. So auch in der Nazizeit.

--

adam

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Re: Erinnerungskultur - oder Geschichtsverdrängung?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf carlos1 vom 01.02.2010, 21:20:04
Carlos,

Danke für diese ausführliche Antwort.
Ich kam erst jetzt von der Arbeit nach Hause und muss morgen früh wieder sehr früh aufstehen - aber ich will, so gut ich jetzt noch "reden" kann, antworten.

Du schilderst den Unterricht, und ich stimme Dir zu.
Da liegt sehr vieles im Argen.
Doch es geht auch anders - ein Abriß über 3 Generationen:
Meine Lehrer ließen also alles aus dieser Zeit außen vor, es stand wohl auch sicherlich nicht in den Lehrplänen.
Aber, ích hatte das Glück, Lehrer gehabt zu haben, die lernen lehrten.
Ich kann es nicht besser beschreiben.

Weiterhin hatte ich das Glück, eine Krankenschwester aus Bethel zur Mutter zu haben und einen Vater, der Sanitäter war, beide haben Monte Cassino mitgemacht und überlebt, sonst könnte ich jetzt hier nicht schreiben.

Mein Vater kann jetzt erst (94 Jahre alt), nach dem Tod meiner Mutter, mit mir über diese Zeit sprechen und ich sehe jedesmal, wie es ihn würgt.

Meine Eltern hatten uns Kindern über diese Zeit nichts erzählt und ich kam mittags nach Hause und fand meine Mutter völlig aufgelöst und hörte im Radio die Übertragung des Eichmann-Prozesses.
Es war ein unvorstellbarer Schock und dann begann ich zu lesen.
Als meine Kinder aufwuchsen, sprachen wir über den Krieg, über die Vernichtung in den Lagern und auch über die Vertreibungen.
Meine Kinder besuchten Struthof mit den engagierten Lehrern, die sich unendlich um die Jugendlichen bemühten.
Es gab Filmmaterial, Lesestunden, Leseabende.
Ich weiß nicht mehr, wie viele von diesen Jugendlichen mit Schlafsack über einen längeren Zeitraum in meinem Wohnzimmer auf dem dicken Teppich kampierten, weil sie zusammenrücken mussten. Wir Eltern wechselten uns mit ihnen ab.
In der Rückbetrachtung würde ich das heute so bezeichnen:
Sie nahmen Abschied von einer unbelasteten Zeit, denn
ihre Gedanken, ihr Leben vor dem Struthof und danach wurde ein anderes, was nicht heißt, das nicht auch ganz normaler Spaß an der Tagesordnung war.

Aber sie waren für Unrecht, Unmenschlichkeit tiefgehend sensibilisiert worden und darauf kommt es an.
Es geht nicht nur darum zu wissen, wo unbedingt etwas geschrieben steht und mit Zitaten zu belegen.

Ich gebe Dir absolut recht, man kann alles lesen, d.h. aber nicht, dass verstanden wird.

Diese Anzahl der Opfer - und ich meine alle Opfer, so wie ich es auch vorher schon schrieb - ist für das menschliche Gehirn nicht mehr begreifbar.
Es bedurfte der Familie Weiß im TV, damit eine Identifizierung stattfinden konnte, damit ein Hineinversetzen in die Lage einer ganz normalen Familie, die jede Familie hätte sein können, überhaupt erst zu Stande kam.
Doch weiter.
Es kamen die Enkelkinder und die tranken von der Muttermilch meiner Töchter, die ja meine Muttermilch schon überlebt hatten.

Und auch sie wurden in dem Sinne erzogen:
Wehret den Anfängen.

Ich hatte hier eine Geschichte eingesetzt über eine Theateraufführung meiner Enkelin, damals 16 Jahre.
Und ich denke, dass ich sie - so wie Eleonore die Geschichte ihres Großvaters noch einmal eingesetzt hatte - ebenfalls noch einmal in den Blog setzen werde.

Die Frage, diese immer wiederkehrende Frage war:
Wie konnte das passieren, wie konnten Menschen so etwas in unserem Land zulassen?
Auch meine Enkel besuchten das KZ - Straßburg ist nicht weit von hier entfernt.
Und ich erlebte sie ebenso fassungslos wie ihre Mütter.

Und sie konnten es nicht nachvollziehen, sie, die sehr frei und trotzdem mit klaren Grenzen aufgewachsen waren, taten sich natürlich unendlich schwer.
Und dann machten ihre Lehrer etwas Geniales.
Sie ließen die Klasse Die Welle spielen - und die Klasse war mit Feuereifer dabei.
Sie erlebten spielend die Ängste, die Verfolgung, Mobbing und Druck - sie waren ausgesetzt, sie wurden indoktriniert und - sie verstanden.
Das war das Wesentliche - auch die Auflösung, das Begreifen: Worein bin ich da geraten?

Das war ein Meisterstück an Pädagogik und ich bin mir bewußt, dass es das leider viel zu selten gibt.
Es wurde belebte Geschichte.
Sie wurden von Theaterpädagogen und einer Psychologin begleitet - anders wäre es kaum zu machen gewesen. Es gab viel aufzufangen. Und alle hatten gelernt:
Nein zu sagen!

Ich sage hier noch einmal ausdrücklich:
Ich schmälere nicht die Opfer der Vertreibung.
Aber, Carlos, wäre dieser unselige Krieg nicht geführt worden, hätte es diese Vertreibung nicht gegeben.

Ich weiß nicht mehr, wer geschrieben hatte, dass es ein Unterschied ist, dass die Vernichtung der Menschen in den Lagern exakt geplant war.
Ich verwies auf die Wannseekonferenz.

Die Vertreibung war eine Folge eines verlorenen Krieges.
Da liegt für mich der Unterschied, was nicht heißt, dass nicht jedes dabei verloren gegangene Leben eines zu viel war.

Die Jugend ist unsere Zukunft - wir haben unsere Jahre gelebt.
Auf unsere Kinder haben wir schon lange keinen Einfluß mehr.
Wie Du richtig schreibst:
Die peer group übernimmt frühzeitig und was Erwachsene bis dahin nicht vermitteln und verankern konnten, wird dann sehr schwierig zu vermitteln sein, wenn überhaupt.

Ich bin sehr froh, diese jungen Menschen erlebt zu haben.

So, und alles andere muss warten, es ist Zeit für mich, jetzt abzuschalten.

Gute Nacht
Meli

Re: Erinnerungskultur - oder Geschichtsverdrängung?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 01.02.2010, 22:49:32
Ich nehme mir die Freiheit, auch Dir noch einmal zu antworten,
damit ich dieses Themenkapitel für mich ganz abschließen kann.
Es hat mich mehr betroffen, als ich vorher dachte.



Du schilderst den Unterricht, und ich stimme Dir zu.
Da liegt sehr vieles im Argen.
Doch es geht auch anders - ein Abriß über 3 Generationen:
Meine Lehrer ließen also alles aus dieser Zeit außen vor, es stand wohl auch sicherlich nicht in den Lehrplänen.
Aber, ích hatte das Glück, Lehrer gehabt zu haben, die lernen lehrten.
Ich kann es nicht besser beschreiben.

Was den Unterricht anbelangt, ich schrieb es an anderer Stelle, da hatte ich einen fähigen Lehrer,
der das alles zu früher Zeit (1960) angegangen ist.
Der war relativ jung und hat das 3. Reich höchstens als Kleinkind kennengelernt.
Dadurch lernte ich genug im Geschichtsunterricht.
Anscheinend im Gegensatz zu manchen SchreibernInnen.


Weiterhin hatte ich das Glück, eine Krankenschwester aus Bethel zur Mutter zu haben und einen Vater, der Sanitäter war, beide haben Monte Cassino mitgemacht und überlebt, sonst könnte ich jetzt hier nicht schreiben.
Mein Vater kann jetzt erst (94 Jahre alt), nach dem Tod meiner Mutter, mit mir über diese Zeit sprechen und ich sehe jedesmal, wie es ihn würgt.

Nun, da habe ich Deine Worte noch sinngemäß in Erinnerung, Dich Deiner Eltern nicht schämen zu müssen.
Das glaube ich Dir auch und es ist gut so.
Ich muß mich aber auch nicht meiner Eltern und Großeltern schämen.
Als ich in dem anderen Thread schrieb, daß die Einen platt gemacht wurden, die Anderen ausgebombt wurden,
da kam Dein Beitrag:


Zitat Meli:
Glaub ichs denn?
Völker, die angegriffen werden, wehren sich und dann fallen auch Bomben auf das eigene "Reich".
Ich will mir nicht vorstellen, wie unsere Welt aussähe, wäre das Ergebnis des Krieges anders ausgefallen.
Aber jeder, der halbwegs geschichtskundig ist kann ja mal die Fantasie spielen lassen.
Da kann ich nur noch mit dem Kopf schütteln, wenn hier über ausgebombt geklagt wird.
Ursache und Wirkung!
Meli


Das war nicht eine direkte Antwort an mich.
Aber wenn man weiß, wie der Bombenterror über Hamburg aussah (Dokumentarfilm Operation Gomorrha),
kann man sich vielleicht vorstellen, wie es mich gewürgt hat.
Ausgebombt war auch nicht gleich ausgebombt.
In den Behelfsheimgebieten wurde dann den Nichtparteimitgliedern
auch noch gerettetes Habe für Parteimitglieder weggenommen.
Es gab nämlich schon Unterschiede.
Und meine betroffenen Vorfahren, deren Menschenrechte ich vertrete, waren nicht im Ausland im Krieg.
Das waren Zivilisten, Kleinbauern und Arbeiter.
Auch ich muß mich nicht schämen.


geschrieben von meli


Mich hat besonders der Satz zu den Bombardierungen angefressen.
Die Thematik wird, wie ich schon an anderer Stelle schrieb, auch bei den ehemaligen Kriegsgegnern inzwischen
anders beurteilt.
Mein Eindruck ist, von außen kommt mehr sachliche Wertung als von innen.
Aber vielleicht sehe ich das etwas zu eng.


nordstern

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