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Geisteswissenschaft / Philosophie ÜBERFORDERTE GESELLSCHAFTSFORSCHER ?

arno
arno
Mitglied

ÜBERFORDERTE GESELLSCHAFTSFORSCHER ?
geschrieben von arno
Hallo,

die vielen Umbrüche der letzten Jahrzehnte zeigen das Versagen
von Soziologie und Politologie.
Sinnvoll wäre es, viel mehr Energie in die Entwicklung von Szenarien
in den Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaften zu investieren.

Die meisten Lösungen werden heute durch Naturwissenschaftler gefunden.

Woran liegt das?

Viele Grüße
--
arno
carlos1
carlos1
Mitglied

Re: ÜBERFORDERTE GESELLSCHAFTSFORSCHER ?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf arno vom 29.11.2008, 19:19:13
"....die vielen Umbrüche der letzten Jahrzehnte zeigen das Versagen
von Soziologie und Politologie." arno

So zu tun, arno, as habe es erst seit den letzten Jahrzehnten oder in neuester Zeit viele Umbrüche gegeben, zeugt eher von Unkenntnis der Geschichte. Das ist kein Vorwurf an dich, arno, der Artikel in deinem Link verleitet zu diesem Fehlurteil. Soziologie und Politologie sind Wissenschaften neueren Datums. Umbrüche hat es aber vor ihnen schon gegeben. Das bedeutet nicht, dass es nicht kluge Vorhersagen gegeben hat, richtige Erkenntnisse und Deutungen vergangenen Geschehens. Es ist jedoch ein Irrglaube aus dem Ablauf vergangenen Geschehens die Zukunft ablesen zu wollen. Es gibt immer viele Möglichketen die Zukunft zu gestalten. Keine Situation ist identisch mit vorausgehenden. Die Forderung, dass sich die Kulturwissenschaften von heute mit Szenarien der Zukunft befassen sollten, also die Forderung nach mehr Futurologie, ist interessant: nur: wie soll diese Forderung gleichzeitig mit der Forderung der stärkeren Berücksichtigung der Traditionsverhaftung umgesetzt werden? Die Tatsache, dass die natürlichen Ressourcen bei steigender Bevölkerungszahl knapper werden und aufgebraucht werden, ist keine Idee der Neuzeit. Sie ist überhaupt nicht originell, vielmehr selbstverständlich. Die Folgen sind schon längst beschrieben worden. Eindringlich sogar. Es hat sogar Wirkung gezeigt im Blätterwald. WAs richten aber noch so geniale Berechnungen und Szenarien gegen die moralische Wüste in den Menschen aus? Szenarien erfassen immer ein Ganzes, heute müssen sie global sein, sollen sie wirken. Die Krisen folgen imemr schneller aufeinander. Richtig. Es ist aber falsch zu glauben, dass niemand in der Lage wäre sie vorherzusehen. Die Vorbereitung und das Anlaufen der gegenwärtigen weltweiten Finanzkrise waren im Internet gut zu verfolgen. Alle Daten und Fakten waren einsehbar. Wer durchschaute, besser: Wer erkannte aber das Verhängnis im gigantischen Datensalat? Wer konnte ihn deuten? Der Vergleich mit der Klimaforschung und ihren Computermodellen geht fehl. Die Klimatologen haben wenigstens - wenn auch bisher unzureichende - messbare, damit einigermaßen gesicherte Datren als Grundlagen. Trends werden ersichtlich. Ein "point of no return" wird genannt.

Der Philosoph, Soziologe und Historiker Norbert Elias spricht im dem Link vom Nachhinken des Habitus gegenüber der Wirklichkeit. Wenn der Verfasser dieses Links sich mit den Büchern von Elias ein wenig befasst hätte, dann hätte er es vermieden auf die fehlende Vorstellungskraft oder Phantasie der Kulturwissenschaften zu verweisen. Es ist nicht schwer sich eine andere Welt als unsere vorzustellen. Es ist aber unmöglich die Zukunft einer Kultur genau zu beschreiben. Wer es als Geschichtsphilosoph tut, landet im Mythos (z. B "Der Untergang des Abendlandes"). Wir denken es sei alles so einfach wie in der Technik: Wenn die Tankfüllung im Auto zur Neige geht, ein Zustand der Immobilität droht, können wir dagegen etwas tun. Für alles gibt es eine Lösung. Selbst ein Misserfolg könnte noch als schlechtes Beispiel dienen. Der oben erwähnte Philosoph Norbert Elias hat am Beispiel der höfischen Gesellschaft des Mittelalters beschrieben, wie sich die Zivilisation aus der Barbarei entwickelte. (Elias, "Über den Prozess der Zivilisation"). Im Grunde handelte es sich, um seine Worte zu gebrauchen, beim Rittertum und dem damit verbundenen Minnesang und Frauendienst und der höfischen Gesellschaft, von der dieser Wandel des Denkens und der Einstellungen (!!) ausgig um ein groß angelegtes Erziehungsprogramm.

Wir denken immer nur an die Allmacht der Wissenschaft und glauben gerne daran, weil sie es doch schaffen kann, ja muss. Dabei ist es eher so, dass das meiste Wissen vorhanden ist, aber außerhalb unseres Blickfeldes liegt. Die Globalisierung begann nicht erst in den letzten Jahren. Sie setzte ein mit der Expansion der europäischen Seemächte nach Amerika und Asien im und ab ab dem 16. Jahrhundert. Der Philosoph Sloterdijk erwähnt das entgrenzte Verhalten der Conquisatadoren und Explorateure. Beispiel: Vasco da Gama ließ auf seiner ersten Indienfahrt 1497 einen arabischen Kauffahrer mit über 200 Mekkapilgern, darunter Frauen und Kindern, nach Plünderung verbrennen und versenken. Tabula rasa, Exterminierung. Pures Vernichten. Vernichtung als Selbstzweck: "Ich vernichte, also bin ich." Die Ausrottungspolitik der Kolonialmächte in ihren Kolonien in Übersee (Indios) folgte diesen Untaten zur See. Im 20. Jahrhundert kehrte dieser Exterminismus nach Europa zurück und wurde hier praktiziert (Holocaust, Besatzungspolitik in Osteuropa). Das letztere nur als Anhaltspunkt.

c.
schorsch
schorsch
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Re: ÜBERFORDERTE GESELLSCHAFTSFORSCHER ?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf carlos1 vom 07.12.2008, 21:50:44
Mit deinen ausführlichen Erklärungen bin ich grösstenteils einverstanden. Nur bin ich nicht der Meinung, dass die Vergangenheit einen so kleinen Einfluss auf die Zukunft habe. Denn: Die Vergangenheit, das sind auch unsere Vorfahren. Und wenn wir z.B: nichts aus den Erfahrungen, Irrtümern und Erkenntnissen dieser Vorfahren gelernt hätten und immer noch nicht lernen würden, dann würde ja die Zukunft nichts anderes sein, als die Weiterführung der Vergangenheit, ein Gehen an Ort.

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schorsch

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