Geisteswissenschaft / Philosophie Der 'kleine Chef im Kopf'

qilin
qilin
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Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von qilin
Vor Jahren habe ich mal diesen Limerick auf Englisch im Internet gefunden und übersetzt -
das Original ist jetzt aber nicht mehr auffindbar, ich konnte also um kein © anfragen...

Ein junger Mann sagte: "He -
Mir scheint dass ich seh', dass ich seh'.
Doch was sich dem Sehen entzieht,
Ist das Ich, das mich sieht,
Wenn ich seh', dass ich seh', dass ich seh'."

Dabei war mir dieser kleine Abschnitt aus dem Milinda Panha, den 'Fragen des [Baktrerkönigs] Menandros' wieder eingefallen. Baktrien war ein griechischer Staat im heutigen Afghanistan, ein Überbleibsel vom Indienfeldzug Alexanders d.Gr.; Menandros regierte im 2. Jh. v.u.Z. Das Buch ist eine beliebte Quelle für Erklärungen zum ursprünglichen Buddhismus - viel massiver Aberglaube, aber auch manche Einsichten, die erst heute wieder aktuell werden, wenn auch natürlich in der Sprache der Antike...
Der König sprach: "Sind, ehrwürdiger Nāgasena, diese Dinge, wie Bewusstsein, Weisheit und die Seele in einem Lebewesen, wirklich verschiedene Begriffe mit verschiedenem Inhalt, oder sind es bloß verschiedene Worte, die ein und dasselbe besagen?"
"Das Bewusstsein, o Herr, besitzt das charakteristische Merkmal des Bewusstwerdens, die Weisheit dasjenige des Erkennens, doch eine den Lebewesen innewohnende Seele gibt es überhaupt nicht."
"Wenn es aber keine Seele gibt, wer ist es denn, der durch Auge, Ohr, Nase, Zunge, Tastorgan und Geist die Dinge wahrnimmt?"
"Wenn es wirklich eine Seele gäbe, die durch diese sechs Sinnestore die Dinge wahrnehmen könnte, müsste denn da, sobald die Sinnestore herausgenommen würden und sie gewissermaßen ihren Kopf herausstreckte, nicht wohl die Seele infolge des vollen Tageslichtes die Dinge besser wahrnehmen können?"
"Das ist allerdings unmöglich, ehrwürdiger Nāgasena."
"Folglich, o König, gibt es keine den Lebewesen innewohnende Seele."


Heute wird der Begriff des 'Ich' von Evolutionspsychologen und Hirnforschern wieder in Frage gestellt - Manche sehen darin einen 'Trick der Evolution', um das Überleben des Individuums besser zu gewährleisten... Auch in der westlichen Philosophie war das Ich nie ganz unumstritten, vgl. J.G. Fichte:
"Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder: - Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, an dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen; Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern."

Meister Eckharts Problem bleibt drängend, aber viel weiter sind wir inzwischen nicht gekommen...
"Der Mensch hat viele Häute in sich, welche die Tiefen seiner Seele bedecken. Der Mensch kennt sehr viele Dinge, sich selbst aber kennt er nicht. Ja dreißig oder vierzig Häute, wie die eines Ochsen oder Bären, und ebenso dick und hart, bedecken deine Seele. Geh' ein in deinen eigenen Grund und lerne da dich selbst zu erkennen."

Womit wir wieder beim Limerick wären...

() qilin
yuna
yuna
Mitglied

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von yuna
als Antwort auf qilin vom 04.05.2013, 09:24:36
Warum suchen so viele (auch Philosophen) die Seele (so es sie gibt) im Kopf?
Ich vermute sie im Bauch
Karl
Karl
Administrator

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Karl
als Antwort auf qilin vom 04.05.2013, 09:24:36
Lieber Qilin,

Erkenntnistheorie ist immer wieder ein faszinierendes Thema, das auch niemals zu Ende diskutiert werden wird. Ich werde mir nachher einmal die Mühe machen, frühere Diskussionen dazu hier zu verlinken, aber nicht, um Deine neue Diskussion darüber abzublocken, sondern um sie zu bereichern.

Ich fand zum Thema das Buch " The Mind's I (Fantasies and Reflections on Self and Soul)" von Dougles R. Hofstadter wunderbar erhellend. Hofstadter ist auch der Autor von " Gödel, Escher, Bach", das ebenso zu empfehlen ist.

Das "Ich" ist ein Konstrukt unseres Gehirns und es bildet sich erst in der frühen Kindheit mit der Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus. Selbsterkenntnis haben auch manche Tiere, z. B. Menschenaffen, aber selbst wir haben diese nicht zu jeder Zeit, oft lassen wir uns einfach treiben.

Spannend finde ich die Hypothese, dass auch irgendwann Roboter ein "Ich" in der Auseindersetzung mit der Umwelt erlangen können. Sie besitzen schon heute Lernvermögen und die Science Fiction, z.B. Asimov, hat hier bereits manches vorgedacht.

Mir scheint es plausibel, davon auszugehen, dass die durch die Evolutionsmechanismen entstandenen Informationsverarbeitungsprozesse in unserem Gehirn auch auf anderem Substrat abgebildet werden können.

Karl

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Mareike
Mareike
Mitglied

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Mareike
als Antwort auf Karl vom 04.05.2013, 09:55:56
Interessant sind auch immer die unterschiedlichen Herangehungsweisen bei dieser Frage.
Qilin benutzt das Bild der 40 Ochsenhäute, gerne wird auch das Bild der Zwiebel gebraucht: Soviele Schichten, die man abpellen könnte.
Wenn ich jedoch das Wesen der Zwiebel kennen möchte,
ich weiß zB nicht um welche Blumenzwiebel es sich handelt, oder wie blühfähig sie ist, ...
na, was kann ich da machen?
Genau. Ich stecke sie in die Erde und schaue zu beim Wachsen.

Hyazinthe

Mareike
Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Karl vom 04.05.2013, 09:55:56
Spannend finde ich die Hypothese, dass auch irgendwann Roboter ein "Ich" in der Auseindersetzung mit der Umwelt erlangen können. Sie besitzen schon heute Lernvermögen und die Science Fiction, z.B. Asimov, hat hier bereits manches vorgedacht.
geschrieben von Karl


So unterschiedlich können Sichtweisen sein.

Diese Hypothese macht mir eher Kopfschmerzen (nicht mehr für mich, aber für meine zahlreichen Nachkommen) vielleicht gerade, weil ich Asimov gelesen habe.

Meli
Karl
Karl
Administrator

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 04.05.2013, 10:22:19
Liebe Meli,

eine Entwicklung spannend zu finden, bedeutet nicht, dass man sie automatisch gut heißt. Es geht bei der Frage, ob maschinelle Intelligenz bis zur Selbstwahrnehmung möglich ist, letztlich um die ganz grundlegende Frage, was das "Ich" eigentlich ist. Ist es programmierbar - in dem Sinne, dass es erlernbar ist?

Hofstader ist ganz eindeutig dieser Meinung und ich (was weniger Gewicht hat) auch. Wenn dem also so ist (wäre), sollten/müssten wir uns dann nicht gedanklich vorbereiten?

Karl

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Karl
Karl
Administrator

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 04.05.2013, 09:55:56
ich addiere - wie versprochen - einmal einen Link zu einer früheren, m. E. interessanten Diskussion von 2006 zu diesem erkenntnistheoretischen Thema als Ergänzung (keinesfalls als Ersatz) für die laufende Diskussion: Virtualität versus Wirklichkeit

Es gibt viele ähnliche Diskussionen (das diese oft in Geplänkel abrutschen ist eher auflockernd )

Karl
Mareike
Mareike
Mitglied

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Mareike
als Antwort auf Karl vom 04.05.2013, 10:29:56
Bei der künstlichen Intelligenz kann der Computer doch nur auf gespeicherten Informationen zugreifen und diese intelligent verwerten, oder verstehe ich das falsch?

Beim Menschen jedoch habe ich zuweilen den Eindruck, dass er mittels seinem Vermögen der Kreativität Neues entwickeln kann.

Mareike
Karl
Karl
Administrator

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Karl
als Antwort auf Mareike vom 04.05.2013, 10:55:30
Liebe Mareike,

Du formulierst hier ein oft gehörtes Vorurteil gegen maschinelle Intelligenz. Ich schrieb hierzu einmal:
Drittes Vorurteil: "Computer sind nicht kreativ"

Beim Rückzugsgefecht darüber, was Computer nicht können, wird häufig angeführt "Computer sind nicht kreativ". Diese Behauptung wird selten von einer Definition dessen begleitet, was unter "kreativ" verstanden werden soll. Sobald kreativ nämlich in sinnvoller Weise definiert wird, ist meistens schon der Weg für eine maschinelle Nachahmung vorgezeichnet. Willwacher z.B. beschreibt einen produktiven Einfall als die Neukombination früher erlernter Informationen. Sein auf einem Computer simuliertes assoziatives Speichersystem konnte solche produktiven Einfälle produzieren.
Ich könnte den Rest der Vorlesungszeit damit füllen, aus einem Buch mit Computerlyrik zu rezitieren. Solche Computerlyrik ist nicht deshalb nicht kreativ, weil wir die Regeln kennen (können), nach denen der Computer seine Gedichte verfaßt hat. Wenn dem so wäre, würde eine notwendige Bedingung für menschliche Kreativität die Unkenntnis der Regeln sein, nach denen menschliche Gehirne Neues produzieren. Kreativität wäre dann wegforschbar. Quelle
geschrieben von Karl


Karl
Mareike
Mareike
Mitglied

Re: Der 'kleine Chef im Kopf'
geschrieben von Mareike
als Antwort auf Karl vom 04.05.2013, 11:08:40
Soweit war ich beim eigenen Denken auch schon.
Da kamen solche Überlegungen, wie: Viel neues ist durch Zufall entdeckt worden. Der Forscher macht einen Fehler, verstößt gegen Regel, und schon ist etwas Neues da.
Der Mensch kann dieses Neue erkennen und sich zu Nutze machen.
Kann eine Maschine dies auch?

Und hat eine Maschine die Möglichkeit abzuwägen, ob und wie das Neue genutzt wird?

Mareike

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