Eigene Geschichten Helga
"Helga, meine liebe Helga!
Das Leben ist an mir vorübergezogen, ich bin alt und grau. Viele Jahre werden es nicht mehr sein, bis auch ich im Nirgendwo verschwinde. All die Jahre, die nun vergangen sind, habe ich immer an dich, meine einzige und größte Liebe, denken müssen. Ich habe dich nie vergessen, du warst immer bei mir, in meinem Herzen.
All die vielen Abende, Nächte und Tage, die ich hier in diesem fremden Land ohne dich verbracht habe, verursachen noch immer tiefe Schmerzen in meinem Herzen. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen, ich würde dich nicht noch einmal aus falschem Stolz verlassen ..."
In einem Land weitab seiner Geburtsstätte saß er, der ältere Herr, auf seiner Veranda. Vertieft in Vergangenes. Er dachte nach, über seine größte Liebe, die er vor langer Zeit verloren hatte. Viele Briefe schrieb er ihr, Hunderte; doch all diese blieben über die vielen Jahre unbeantwortet. Mit letzter Kraft und dieser Liebe im Herzen wollte der ältere Herr am folgenden Tag noch einmal, ein letztes Mal, in das Land seiner Jugend, in das Land seiner größten und einzigen Liebe zurückkehren.
Fehler gestand er sich ein, aus falschem Stolz verließ er damals seine Heimat und ließ zurück, was er doch so liebte, aber erst heute, jetzt wo seine Tage grau waren, wurde ihm dies bewusst.
„Helga, morgen begebe ich mich auf den Weg, ich will noch einmal die Stätte unserer Liebe aufsuchen, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät“, dachte er.
Es sollten noch zwei Tage vergehen, bis er endlich wieder in dem Land, in der Stadt, in der Straße seiner größten Liebe ankam.
Früh am Morgen verließ er dort das Hotel und stieg in einen Stadtbus, der ihn in die Straße seiner Vergangenheit brachte. Dort endlich angekommen, sah er auf der gegenüberliegenden Seite das Café. Alles sah noch genau so aus wie früher: das kleine schmucke Fachwerkhäuschen mit Sprossen in den weißen Holzfenstern, die Balken schwarz und das Gefach hellgrau ausgelegt mit einer blauen Borde rund herum. Über der Eingangstür, die noch immer diesen eisernen Löwenkopf in der Mitte trug, die Jahreszahlen der Erbauung: Anno 1848.
Der ältere Herr hatte schon ein recht seltsames, eigentümliches, schmerzendes, doch hoffnungsvolles Gefühl in seiner Magengegend, als er vor dem Café stand.
Langsam bewegte er seine Hand zum Türknauf der Eingangstür, sie zitterte und war feucht vor Angstschweiß. In seinen Gedanken, eine Ewigkeit, bis er den Knauf in seiner Hand spürte, doch wie von Geisterhand geführt, öffnete sich die Tür, und er betrat nach so langer Zeit wieder das Café, wo er einst seine Liebe verlor. Er blickte verwundert umher, hatte sich doch auch im Innern nichts verändert. Auf dem Tresen die alte klingelnde und ratternde Registrierkasse, dahinter in einer Ecke, etwas versteckt, die große schnaufende, in die Jahre gekommene Kaffeemaschine und vor dem Tresen die Barhocker, die jenen für die damalige Zeit hochmodernen dunkelroten Lederimitat-Bezug hatten. Die Beleuchtung, noch immer mit den ovalen orangenen Lampenschirmen ausgestattet, die über jedem Tisch mit einem langen Kabel von der Decke herabhingen. Die Tische und Stühle aus einem dunkelbraunen Holz und auf den Tischen jeweils ein orangenes Deckchen, auf dem zur Dekoration eine kleine rote Kerze stand – alles war noch genauso wie in seinen Erinnerungen.
Sogar die alte Jukebox stand noch immer da, aus ihr dröhnte Musik seiner Zeit, Hits, die lange vergessen. Der alte Herr stand vor ihr und schaute hinein, er sah, wie sich die schwarze Platte drehte und die Nadel am Arm des Plattenspielers ihren Weg durch die Rille der Scheibe nahm.
Er schritt zu einem der Tische, zog seinen langen Lodenmantel aus und hängte ihn über einen Stuhl, auf den er sich langsam und behäbig setzte. Nur Sekunden verrannen, bis eine Bedienung ihn ansprach, und er bestellte bei ihr einen Kaffee.
Diesen trank der ältere Herr gemächlich, Schluck für Schluck, und währenddessen versank er zugleich in seine Vergangenheit.
„Helga, es ist wie früher, nichts hat sich verändert, nur die Menschen hier erkenne ich nicht, Fremde. Drüben, das war doch unser Tisch, weißt du es noch? Wir ritzten unsere Liebe hinein, so wie die beiden, die jetzt dort sitzen. Ob sie sich auch so lieben wie ich dich liebte, damals, weißt du es noch?“
Eine seltsame Aura umgab ihn, und er beobachtete die Menschen, die sich in dem Café aufhielten. Ihm gegenüber saß eine Dame, sie lächelte, sie schien glücklich zu sein, und er bemerkte, dass eigentlich alle Gäste im Café lächelten, bis auf ihn.
Der alte Herr trank seinen Kaffee, stand auf, zog seinen Lodenmantel wieder an und schritt zum Tresen. Dort zahlte er seine Zeche und verließ wehmütig in seinem Herzen das Café. Er wollte wiederkommen, am folgenden Tag. Vielleicht, so hoffte er, würde er morgen jemanden aus der Vergangenheit wieder- erkennen.
„Helga, meine liebste Helga, es schmerzt mich doch sehr im Herzen, dass ich dich dort nicht antraf. Seid ihr fortgezogen? Erklärt dies mir die vielen nicht beantworteten Briefe, die ich dir in der Vergangenheit zukommen ließ?“
Sich Vieles fragend, legte sich der ältere Herr in seinem Hotel zu Bette, eine unruhige Nacht folgte. Wieder und wieder erwachte er schweißgebadet aus seinem Schlaf, und wieder und wieder führten ihn seine Gedanken in diesen unruhigen Schlaf zurück.
Tags darauf, die ersten Sonnenstrahlen erhellten sein Zimmer, war er schon längere Zeit wach. Früh hatte er seinen Schlaf beendet, da seine innere Anspannung ihn keinen tiefen Schlaf finden ließ.
„Helga, meine geliebte Helga, innig hoffe ich, heute ein Zeichen zu finden, ein Zeichen von dir. Mein Herz ist schon sehr alt und voller Schmerz, und diese Angst, die ich in mir trage, ist groß.
Helga, meine geliebte Helga, mein Herz brach vor langer Zeit, noch einmal ...“
Der ältere Herr unterbrach diesen Gedanken, zu tief saß doch sein Kummer.
Er begab sich aus dem Hotel, um wieder mit dem Stadtbus in die Straße seiner einst doch so großen Liebe zu fahren. Dort angekommen, stieg er aus dem Bus und schaute hinüber auf das Café, doch er traute seinen Augen nicht. Alles war anders, nichts war so wie noch am Vortag. War er hier richtig? Das kleine Haus – modernste Architektur, keine Spur von Fachwerk. Im unteren Bereich, große gläserne Scheiben, hinter denen sich ein Café befand. Verwirrt schaute er in alle Richtungen, doch es war die gleiche Straße. Einen Moment lang setzte er sich auf die Bank der Bushaltestelle, die dem Café gegenüber lag. Er versank erneut in seinen Gedanken.
„Helga, sollte mich mein Verstand gestern so getäuscht haben. War es nur mein Herz, das Vergangenes sah, dies unbedingt sehen wollte?“
Seine Verwirrung war groß, doch sein Schmerz war größer, und so stand er auf und begab sich in dieses Café.
Die große gläserne Tür öffnete sich automatisch und im Innern war alles freundlich, mit hellen bunten Farben. Moderne Musik, die sanft aus den in den Ecken befestigten Lautsprechern tönte. Die Tische und die Stühle aus hellem Holz und auf den Tischen grüne Deckchen, auf denen ein Blumenarrangement stand. Der Tresen aus dem gleichen Holz, mit allerlei Dekorationsgegenständen geschmückt.
Dort stand keine alte Registrierkasse und keine schnaufende Kaffeemaschine, alles neu und vom Feinsten.
Der ältere Herr schritt zu einem der Tische, zog wie tags zuvor seinen Lodenmantel wieder aus und hängte diesen wieder über einen Stuhl, auf dem er wieder Platz nahm. Er bestellte sich bei der sehr jungen charmanten Bedienung einen Kaffee, die ihm diesen sogleich servierte, und er versank erneut in seinen Gedanken.
„Helga, meine liebste Helga, war ich gestern nicht hier, war ich gestern nur in meinen Träumen? Ich bin alt, meine Augen und mein Geist sind verwirrt, ich kann es nicht fassen. Helga, an unserem Tisch das junge Paar, gestern ritzten sie ins Holz, doch heute, heute schreiben die beiden, die dort sitzen, sich ihre Liebe in ihre Handys.“
Der ältere Herr beobachtete wieder die Menschen, und er stellte fest, dass alle sehr jung und glücklich waren, nur er war freudlos und alt.
Er trank seinen Kaffee, stand auf, zog sich seinen Lodenmantel wieder an und schritt zum Tresen. Dort zahlte er wiederum seine Zeche und verließ geistesabwesend das Café.
„Helga, meine geliebte Helga, bevor mein Verstand mich nun gänzlich verlässt, möchte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich dich vermisse. Helga, auch wenn ich dies dir nur gedanklich sage, so hoffe ich doch, dass diese Gedanken dich berühren.“
Der alte Herr begab sich zurück in sein Hotel, irritiert und aufgewühlt fand er dort keine Ruhe. Wieder und wieder hielten ihn seine Gedanken, seine Träume der Liebe und die vergangenen Tage im Wachzustand, wieder und wieder. Am folgenden Morgen wollte er ein letztes Mal in die Straße, in das Café, bevor sein Verstand gänzlich versagen und sein Herz für den Rest seiner Tage zerbrochen dahinsiechen würde.
Der alte Herr stand erneut sehr früh am Morgen auf. Noch immer verwirrt, begab er sich zur Bushaltestelle und stieg in den Bus, der ihn in die Straße seiner Liebe brachte.
Dort traute er wiederum seinen Augen nicht, konnte das, was er sah, wahr sein? Das kleine Fachwerkhaus verfallen, kein Café, nichts. Die Fenster und die Eingangstür mit Brettern vernagelt, das Dach halb eingefallen, die Gefache herausgebrochen und einige der Balken zerborsten von der Fäulnis, die diese angegriffen hatten.
Wieder setzte er sich auf die Bank, er zitterte, sein Verstand war am Ende, Tränen verließen seine Augen. Nichts war so wie am Vortag, nichts.
Diesmal saß der ältere Herr für längere Zeit auf der Bank und schaute hinüber auf das verfallene Gebäude.
„Helga, meine geliebte Helga, mein Verstand neigt sich dem Ende. Ich kam und sah, was war, ich kam und sah, was hätte sein können, doch komme ich zu spät und sehe, was wirklich ist? Helga, meine geliebte Helga, hilf mir, gib mir die Kraft, die Wahrheit zu sehen und zu finden.“
Der ältere Herr stand auf und begab sich ängstlich in das Innere des verfallenen Gebäudes.
Er bemerkte, dass sich dort schon einmal jemand Zutritt verschafft haben musste. Im Innern kein Tresen, keine Lampen, keine Musik, Staub, Zerstörung, nur ein Tisch, sein Tisch, sein Tisch der Liebe. Der Tisch war vom Staub befreit, und er erkannte, er las es sogar, was er und seine große Liebe vor langer Zeit in jenen geritzt hatten. Doch von seinem Namen fehlten die letzten beiden Buchstaben, die er damals nicht mehr einritzen konnte. Helgas Mutter hatte sie Seinerzeit erwischt und ihn aus dem Café verbannt und kurze Zeit später auch aus dem Leben von Helga. Er war gegangen, nur weil Helgas Mutter in ihm einen Vagabunden, einen Nichtskönner sah, jemanden, der nicht in der Lage wäre, das Café zu führen. Und er ging, aus falschem Stolz.
Der ältere Herr hörte ein Geräusch und drehte sich ängstlich nach diesem um. Hinter ihm stand eine Frau mittleren Alters.
„Was machen Sie hier“, fragte ihn diese.
Der ältere Herr war seiner Sprache in diesem Moment nicht wirklich mächtig, sah er doch seine Liebe, jung und noch immer so schön, sein Herz, es pochte, laut und lauter.
„Helga“, hörte er sich sprechen.
„Helga? So hieß meine Mutter, doch diese ist schon lange von mir gegangen. Kurz nach meiner Geburt habe sie sich das Leben genommen, aus Liebeskummer, erzählte mir meine Großmutter. Kannten Sie meine Mutter?“ Warum sie das diesen ihr unbekannten älteren Herrn fragte, wusste sie selbst nicht. Instinkt?
Der ältere Herr holte ein Taschenmesser hervor und ritzte die zwei fehlenden Buchstaben in den Tisch. Kaum dass er fertig war, grollte ein lautes Getöse, das Gebäude wackelte, Staub und Dreck fielen von der Decke, ein Erdbeben. Der ältere Herr packte geistesgegenwärtig die Frau am Arm und zog sie mit sich nach draußen, auf die gegenüberliegende Straßenseite, während hinter ihnen das Gebäude mit einer mächtigen Staubwolke, die in die Höhe schoss, in sich zusammenbrach. Als sich der Staub verzogen hatte, lag das Gebäude in Schutt und Asche danieder, und vor dem älteren Herrn lag auf dem Boden ein goldener Ring. Er hob diesen auf und las seinen Namen und den Namen seiner Liebe: ‚Hermann und Helga in Liebe für immer und ewig‘. Die junge Frau und der ältere Herr sahen sich an, und ihnen wurde bewusst, dass sie Vater und Tochter waren. Noch am gleichen Tag zeigte die junge Frau dem älteren Herrn das Grab ihrer Mutter. Er bat sie, ihn für eine kurze Weile dort am Grab seiner größten Liebe allein zu lassen. Sie tat, um was er sie gebeten hatte, doch als sie sich einige Meter entfernt, nochmals nach diesem umdrehte, sah sie ihn und eine ältere Dame eng umschlungen, und die ältere Dame winkte ihr zu.
© Martin Stumpf 2011
Das Leben ist an mir vorübergezogen, ich bin alt und grau. Viele Jahre werden es nicht mehr sein, bis auch ich im Nirgendwo verschwinde. All die Jahre, die nun vergangen sind, habe ich immer an dich, meine einzige und größte Liebe, denken müssen. Ich habe dich nie vergessen, du warst immer bei mir, in meinem Herzen.
All die vielen Abende, Nächte und Tage, die ich hier in diesem fremden Land ohne dich verbracht habe, verursachen noch immer tiefe Schmerzen in meinem Herzen. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen, ich würde dich nicht noch einmal aus falschem Stolz verlassen ..."
In einem Land weitab seiner Geburtsstätte saß er, der ältere Herr, auf seiner Veranda. Vertieft in Vergangenes. Er dachte nach, über seine größte Liebe, die er vor langer Zeit verloren hatte. Viele Briefe schrieb er ihr, Hunderte; doch all diese blieben über die vielen Jahre unbeantwortet. Mit letzter Kraft und dieser Liebe im Herzen wollte der ältere Herr am folgenden Tag noch einmal, ein letztes Mal, in das Land seiner Jugend, in das Land seiner größten und einzigen Liebe zurückkehren.
Fehler gestand er sich ein, aus falschem Stolz verließ er damals seine Heimat und ließ zurück, was er doch so liebte, aber erst heute, jetzt wo seine Tage grau waren, wurde ihm dies bewusst.
„Helga, morgen begebe ich mich auf den Weg, ich will noch einmal die Stätte unserer Liebe aufsuchen, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät“, dachte er.
Es sollten noch zwei Tage vergehen, bis er endlich wieder in dem Land, in der Stadt, in der Straße seiner größten Liebe ankam.
Früh am Morgen verließ er dort das Hotel und stieg in einen Stadtbus, der ihn in die Straße seiner Vergangenheit brachte. Dort endlich angekommen, sah er auf der gegenüberliegenden Seite das Café. Alles sah noch genau so aus wie früher: das kleine schmucke Fachwerkhäuschen mit Sprossen in den weißen Holzfenstern, die Balken schwarz und das Gefach hellgrau ausgelegt mit einer blauen Borde rund herum. Über der Eingangstür, die noch immer diesen eisernen Löwenkopf in der Mitte trug, die Jahreszahlen der Erbauung: Anno 1848.
Der ältere Herr hatte schon ein recht seltsames, eigentümliches, schmerzendes, doch hoffnungsvolles Gefühl in seiner Magengegend, als er vor dem Café stand.
Langsam bewegte er seine Hand zum Türknauf der Eingangstür, sie zitterte und war feucht vor Angstschweiß. In seinen Gedanken, eine Ewigkeit, bis er den Knauf in seiner Hand spürte, doch wie von Geisterhand geführt, öffnete sich die Tür, und er betrat nach so langer Zeit wieder das Café, wo er einst seine Liebe verlor. Er blickte verwundert umher, hatte sich doch auch im Innern nichts verändert. Auf dem Tresen die alte klingelnde und ratternde Registrierkasse, dahinter in einer Ecke, etwas versteckt, die große schnaufende, in die Jahre gekommene Kaffeemaschine und vor dem Tresen die Barhocker, die jenen für die damalige Zeit hochmodernen dunkelroten Lederimitat-Bezug hatten. Die Beleuchtung, noch immer mit den ovalen orangenen Lampenschirmen ausgestattet, die über jedem Tisch mit einem langen Kabel von der Decke herabhingen. Die Tische und Stühle aus einem dunkelbraunen Holz und auf den Tischen jeweils ein orangenes Deckchen, auf dem zur Dekoration eine kleine rote Kerze stand – alles war noch genauso wie in seinen Erinnerungen.
Sogar die alte Jukebox stand noch immer da, aus ihr dröhnte Musik seiner Zeit, Hits, die lange vergessen. Der alte Herr stand vor ihr und schaute hinein, er sah, wie sich die schwarze Platte drehte und die Nadel am Arm des Plattenspielers ihren Weg durch die Rille der Scheibe nahm.
Er schritt zu einem der Tische, zog seinen langen Lodenmantel aus und hängte ihn über einen Stuhl, auf den er sich langsam und behäbig setzte. Nur Sekunden verrannen, bis eine Bedienung ihn ansprach, und er bestellte bei ihr einen Kaffee.
Diesen trank der ältere Herr gemächlich, Schluck für Schluck, und währenddessen versank er zugleich in seine Vergangenheit.
„Helga, es ist wie früher, nichts hat sich verändert, nur die Menschen hier erkenne ich nicht, Fremde. Drüben, das war doch unser Tisch, weißt du es noch? Wir ritzten unsere Liebe hinein, so wie die beiden, die jetzt dort sitzen. Ob sie sich auch so lieben wie ich dich liebte, damals, weißt du es noch?“
Eine seltsame Aura umgab ihn, und er beobachtete die Menschen, die sich in dem Café aufhielten. Ihm gegenüber saß eine Dame, sie lächelte, sie schien glücklich zu sein, und er bemerkte, dass eigentlich alle Gäste im Café lächelten, bis auf ihn.
Der alte Herr trank seinen Kaffee, stand auf, zog seinen Lodenmantel wieder an und schritt zum Tresen. Dort zahlte er seine Zeche und verließ wehmütig in seinem Herzen das Café. Er wollte wiederkommen, am folgenden Tag. Vielleicht, so hoffte er, würde er morgen jemanden aus der Vergangenheit wieder- erkennen.
„Helga, meine liebste Helga, es schmerzt mich doch sehr im Herzen, dass ich dich dort nicht antraf. Seid ihr fortgezogen? Erklärt dies mir die vielen nicht beantworteten Briefe, die ich dir in der Vergangenheit zukommen ließ?“
Sich Vieles fragend, legte sich der ältere Herr in seinem Hotel zu Bette, eine unruhige Nacht folgte. Wieder und wieder erwachte er schweißgebadet aus seinem Schlaf, und wieder und wieder führten ihn seine Gedanken in diesen unruhigen Schlaf zurück.
Tags darauf, die ersten Sonnenstrahlen erhellten sein Zimmer, war er schon längere Zeit wach. Früh hatte er seinen Schlaf beendet, da seine innere Anspannung ihn keinen tiefen Schlaf finden ließ.
„Helga, meine geliebte Helga, innig hoffe ich, heute ein Zeichen zu finden, ein Zeichen von dir. Mein Herz ist schon sehr alt und voller Schmerz, und diese Angst, die ich in mir trage, ist groß.
Helga, meine geliebte Helga, mein Herz brach vor langer Zeit, noch einmal ...“
Der ältere Herr unterbrach diesen Gedanken, zu tief saß doch sein Kummer.
Er begab sich aus dem Hotel, um wieder mit dem Stadtbus in die Straße seiner einst doch so großen Liebe zu fahren. Dort angekommen, stieg er aus dem Bus und schaute hinüber auf das Café, doch er traute seinen Augen nicht. Alles war anders, nichts war so wie noch am Vortag. War er hier richtig? Das kleine Haus – modernste Architektur, keine Spur von Fachwerk. Im unteren Bereich, große gläserne Scheiben, hinter denen sich ein Café befand. Verwirrt schaute er in alle Richtungen, doch es war die gleiche Straße. Einen Moment lang setzte er sich auf die Bank der Bushaltestelle, die dem Café gegenüber lag. Er versank erneut in seinen Gedanken.
„Helga, sollte mich mein Verstand gestern so getäuscht haben. War es nur mein Herz, das Vergangenes sah, dies unbedingt sehen wollte?“
Seine Verwirrung war groß, doch sein Schmerz war größer, und so stand er auf und begab sich in dieses Café.
Die große gläserne Tür öffnete sich automatisch und im Innern war alles freundlich, mit hellen bunten Farben. Moderne Musik, die sanft aus den in den Ecken befestigten Lautsprechern tönte. Die Tische und die Stühle aus hellem Holz und auf den Tischen grüne Deckchen, auf denen ein Blumenarrangement stand. Der Tresen aus dem gleichen Holz, mit allerlei Dekorationsgegenständen geschmückt.
Dort stand keine alte Registrierkasse und keine schnaufende Kaffeemaschine, alles neu und vom Feinsten.
Der ältere Herr schritt zu einem der Tische, zog wie tags zuvor seinen Lodenmantel wieder aus und hängte diesen wieder über einen Stuhl, auf dem er wieder Platz nahm. Er bestellte sich bei der sehr jungen charmanten Bedienung einen Kaffee, die ihm diesen sogleich servierte, und er versank erneut in seinen Gedanken.
„Helga, meine liebste Helga, war ich gestern nicht hier, war ich gestern nur in meinen Träumen? Ich bin alt, meine Augen und mein Geist sind verwirrt, ich kann es nicht fassen. Helga, an unserem Tisch das junge Paar, gestern ritzten sie ins Holz, doch heute, heute schreiben die beiden, die dort sitzen, sich ihre Liebe in ihre Handys.“
Der ältere Herr beobachtete wieder die Menschen, und er stellte fest, dass alle sehr jung und glücklich waren, nur er war freudlos und alt.
Er trank seinen Kaffee, stand auf, zog sich seinen Lodenmantel wieder an und schritt zum Tresen. Dort zahlte er wiederum seine Zeche und verließ geistesabwesend das Café.
„Helga, meine geliebte Helga, bevor mein Verstand mich nun gänzlich verlässt, möchte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich dich vermisse. Helga, auch wenn ich dies dir nur gedanklich sage, so hoffe ich doch, dass diese Gedanken dich berühren.“
Der alte Herr begab sich zurück in sein Hotel, irritiert und aufgewühlt fand er dort keine Ruhe. Wieder und wieder hielten ihn seine Gedanken, seine Träume der Liebe und die vergangenen Tage im Wachzustand, wieder und wieder. Am folgenden Morgen wollte er ein letztes Mal in die Straße, in das Café, bevor sein Verstand gänzlich versagen und sein Herz für den Rest seiner Tage zerbrochen dahinsiechen würde.
Der alte Herr stand erneut sehr früh am Morgen auf. Noch immer verwirrt, begab er sich zur Bushaltestelle und stieg in den Bus, der ihn in die Straße seiner Liebe brachte.
Dort traute er wiederum seinen Augen nicht, konnte das, was er sah, wahr sein? Das kleine Fachwerkhaus verfallen, kein Café, nichts. Die Fenster und die Eingangstür mit Brettern vernagelt, das Dach halb eingefallen, die Gefache herausgebrochen und einige der Balken zerborsten von der Fäulnis, die diese angegriffen hatten.
Wieder setzte er sich auf die Bank, er zitterte, sein Verstand war am Ende, Tränen verließen seine Augen. Nichts war so wie am Vortag, nichts.
Diesmal saß der ältere Herr für längere Zeit auf der Bank und schaute hinüber auf das verfallene Gebäude.
„Helga, meine geliebte Helga, mein Verstand neigt sich dem Ende. Ich kam und sah, was war, ich kam und sah, was hätte sein können, doch komme ich zu spät und sehe, was wirklich ist? Helga, meine geliebte Helga, hilf mir, gib mir die Kraft, die Wahrheit zu sehen und zu finden.“
Der ältere Herr stand auf und begab sich ängstlich in das Innere des verfallenen Gebäudes.
Er bemerkte, dass sich dort schon einmal jemand Zutritt verschafft haben musste. Im Innern kein Tresen, keine Lampen, keine Musik, Staub, Zerstörung, nur ein Tisch, sein Tisch, sein Tisch der Liebe. Der Tisch war vom Staub befreit, und er erkannte, er las es sogar, was er und seine große Liebe vor langer Zeit in jenen geritzt hatten. Doch von seinem Namen fehlten die letzten beiden Buchstaben, die er damals nicht mehr einritzen konnte. Helgas Mutter hatte sie Seinerzeit erwischt und ihn aus dem Café verbannt und kurze Zeit später auch aus dem Leben von Helga. Er war gegangen, nur weil Helgas Mutter in ihm einen Vagabunden, einen Nichtskönner sah, jemanden, der nicht in der Lage wäre, das Café zu führen. Und er ging, aus falschem Stolz.
Der ältere Herr hörte ein Geräusch und drehte sich ängstlich nach diesem um. Hinter ihm stand eine Frau mittleren Alters.
„Was machen Sie hier“, fragte ihn diese.
Der ältere Herr war seiner Sprache in diesem Moment nicht wirklich mächtig, sah er doch seine Liebe, jung und noch immer so schön, sein Herz, es pochte, laut und lauter.
„Helga“, hörte er sich sprechen.
„Helga? So hieß meine Mutter, doch diese ist schon lange von mir gegangen. Kurz nach meiner Geburt habe sie sich das Leben genommen, aus Liebeskummer, erzählte mir meine Großmutter. Kannten Sie meine Mutter?“ Warum sie das diesen ihr unbekannten älteren Herrn fragte, wusste sie selbst nicht. Instinkt?
Der ältere Herr holte ein Taschenmesser hervor und ritzte die zwei fehlenden Buchstaben in den Tisch. Kaum dass er fertig war, grollte ein lautes Getöse, das Gebäude wackelte, Staub und Dreck fielen von der Decke, ein Erdbeben. Der ältere Herr packte geistesgegenwärtig die Frau am Arm und zog sie mit sich nach draußen, auf die gegenüberliegende Straßenseite, während hinter ihnen das Gebäude mit einer mächtigen Staubwolke, die in die Höhe schoss, in sich zusammenbrach. Als sich der Staub verzogen hatte, lag das Gebäude in Schutt und Asche danieder, und vor dem älteren Herrn lag auf dem Boden ein goldener Ring. Er hob diesen auf und las seinen Namen und den Namen seiner Liebe: ‚Hermann und Helga in Liebe für immer und ewig‘. Die junge Frau und der ältere Herr sahen sich an, und ihnen wurde bewusst, dass sie Vater und Tochter waren. Noch am gleichen Tag zeigte die junge Frau dem älteren Herrn das Grab ihrer Mutter. Er bat sie, ihn für eine kurze Weile dort am Grab seiner größten Liebe allein zu lassen. Sie tat, um was er sie gebeten hatte, doch als sie sich einige Meter entfernt, nochmals nach diesem umdrehte, sah sie ihn und eine ältere Dame eng umschlungen, und die ältere Dame winkte ihr zu.
© Martin Stumpf 2011
Warum hat diese Geschichte noch kein einziges Herzchen bekommen?
Sie ist wunderschön!
Danke, dass ich sie lesen durfte!
Angelockt hatte mich der Name Helga.
So hieß nämlich meine Mutter, die heute vor 40 Tagen für immer eingeschlafen ist.
Einen ganz lieben Gruß,
Puzzlerike 💓