Eigene Geschichten Die Freundin an der Decke
Die Freundin an der Decke
Es beruhigt den Menschen, wenn er nach Hause kommt und von einem treuen Gefährten erwartet wird, dachte H. Eigentlich wäre ihm ein etwas lebhafteres Tier in seiner Wohnung angenehmer gewesen als ausgerechnet S, das musste er zugeben. Vielleicht ein Hund, der auf ihn zuläuft, sobald er den Schlüssel von H im Schloss hört. Ein Hund, der mit seinem Schwanz wedelt und freudig bellt. Von S konnte er weder laute Geräusche noch irgendwelche Körpergesten bei seiner Ankunft erwarten, höchstens eine fast unsichtbare Beinbewegung wie ein kleines "Hallo".
"Mach das bloß nicht wieder", rief H zu S besorgt, als er dieses leichte Winken zum ersten Mal bemerkte. "Sonst fällst du mir noch herunter". Sie sollte sich wegen ihm nicht in Gefahr bringen, aber er musste sie nun einmal so akzeptieren, wie sie war. Keinem anderen Tier hätte er ihre Geschicklichkeit zugetraut, keinem ihre Ruhe, keinem ihre Feinfühligkeit.
S schien es nämlich seit dem ersten Tag ihres Erscheinens in seiner Wohnung zu spüren, dass sie ihm mit ihrem stoischen Verharren an der Decke stärker imponieren konnte als mit einem hundeartigen Herbeilaufen. Die meisten Menschen hätten sich sowieso nie mit ihrem ruckartigen Laufstil anfreunden können. Vielleicht galt das auch für H. S wusste es zwar nicht, aber sie kannte genügend Personen, die es nicht ausstehen konnten, wenn sie plötzlich herumlief. Wenn sie es sahen, versuchten sie meistens, auf ihr herumzutreten. Seitdem traute S den Menschen nicht.
"Wie geht es dir heute?", fragte H wie jeden Tag mit einem Blick nach oben. S hob wieder eines ihrer Beine grüßend an und H hatte inzwischen eingesehen, dass er gegen diese rührende Geste machtlos war. Kein Hund hätte so etwas je vollbringen können. Kein einziger Hund. Hunde konnten Bälle fangen, aber nicht von der Decke aus mit einer Pfote winken.
Dennoch litt H bei seinem Verhältnis zu S im Laufe der Zeit etwas an ihrer Kommunikationsarmut, um es milde zu formulieren. Um nicht sogar von einer Ignoranz zu sprechen, von einer geradezu unerträglichen Ignoranz. Denn S saß inzwischen wochenlang wirklich einfach nur da, dort oben, und sie tat nichts, wirklich überhaupt nichts, von den kurzen Begrüßungen abgesehen, die er sich, bei näherer Überlegung, vielleicht sogar einfach nur einbildete.
"Ich arbeite, aber du sitzt hier nur faul rum, in unserer Wohnung. Andere Spinnen hätten längst Netze gesponnen, um Fliegen zu fangen", rief er daher fast cholerisch. "Vielleicht kann sich die Frau Prinzessin an der Decke auch einmal bewegen?"
Bei diesen Worten hätte er S am liebsten mit einem Staubfänger aus ihrer oberen Sitzecke aufgescheucht, ließ es aber dann sein. Mit Zwang konnte er wahrscheinlich nichts bei ihr erreichen. Sie hätte sich schnellstens abgeseilt und wäre dann unter dem nächsten Schrank verschwunden. Sie hätte ihn mit ihrem ruckartigen Lauf sogar erschreckt und das hätte mit Sicherheit zu dem Ende ihre Beziehung geführt.
"S ist vermutlich eine Autistin", erklärte ihm der befreundete Spinnenforscher Andreas am nächsten Tag, als ihm H von seinen Problemen berichtete. "Eine Autistin wie fast alle Spinnen. Sie ignoriert dich also nicht absichtlich. Diese Tiere leben nun einmal autonom. Es ist ihre Natur. Lass sie einfach an der Decke. Dort ist sie zufrieden".
"Und an mich denkt niemand?", wandte H ein. "Man will von einem Tier doch etwas Akzeptanz spüren. Um ehrlich zu sein, habe ich Spinnen früher sogar gehasst". Sein Interesse an ihnen hatte sich erst seit den Erklärungen über deren Vielfalt und Raffinesse, Geschicklichkeit und Lebensweise entwickelt, die er dem Forscher verdankte.
"Erst der Hass und nun die Liebe?", fragte Andreas. "Du übertreibst mal wieder. Mit einer Spinne kann man doch nicht kuscheln wie mit einem Pudel. Willst du etwa, dass sie beim Einschlafen zu dir ins Bett kommt? Du würdest sie dort nur zerdrücken".
Ja, das ging wirklich nicht. Aber einige Monate später kam es doch noch zu einer näheren Begegnung. H musste seine Wohnung renovieren und S blieb auf dem einzigen Fleck sitzen, den er noch nicht gestrichen hatte, ihrem Ort seit ihrer Ankunft. Jedes freundliche Zureden, sich einige Zentimeter wegzubewegen, ignorierte sie beharrlich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf die Leiter zu steigen und sie mit einem Handfeger so mild und sanft wie möglich anzustoßen, um sie etwas fortzubewegen.
Das scheinbar völlig lethargische Tier, dem H überhaupt keine Bewegung mehr zugetraut hatte, schreckte bei dem Kontakt auf und lief geradezu blitzartig zunächst auf den Handfeger und dann auf die Hand von H. Von dort aus fiel S auf den bunten Teppich am Boden und blieb seither unauffindbar.
"Sie hat mich vor ihrem Verschwinden noch berührt", erklärte H dem Spinnenforscher gerührt. "In der Not kam sie direkt zu mir. Ich hätte ihr vielleicht doch einen Platz im Bett anbieten sollen, aber ich tat nichts, überhaupt nichts! Ich habe sie nur enttäuscht und jetzt habe ich sie für immer verloren". Er schluchzte. "Mein Leben ohne sie hat keinen Sinn mehr. Das musst du verstehen".
Aber sein Freund hielt ihn fest und griff sich sofort sein Telefon. "Ja, es ist dringend. Ein Patient für die Psychiatrie. Suizidgefahr! Worum es geht? Um eine Spinne! Wie kommen Sie auf eine Phobie? Es ist Liebeskummer".
Die Geschichte gefällt mir. Ich wüsste nur zu gerne, was aus S geworden ist. Vielleicht hätte sie sich doch etwas mehr Zuwendung von H gewünscht, ab und zu mal kraulen oder so.
Gruß Mane
woher weißt Du eigentlich, dass S eine Freundin war.
Vielleicht war es ja ein Freund.
Gruß Pippa
Deine Geschichte erinnert mich an meine vor wenigen Wochen verstorbene Mutter. Es mag Dir merkwürdig erscheinen, aber auf mein seelisches Befinden wirkte sie wie eine Spinne. Unser gemeinsames Schicksal war, dass sie im Alter von 90 Jahren immer hilfsbedürftiger wurde, sich aber nicht helfen lassen wollte. Emotional fühlte ich mich bis zum Moment ihres Einschlafens gefangen in ihrem Netz. Ich fühlte Verantwortung für sie, doch sie misstraute mir ständig. Dieser Zustand war für mich unerträglich, aber ich konnte nichts tun, um es zu ändern. Das machte mich sehr traurig.
Unsere endgültige Trennung war für mich wie eine seelische Befreiung. Sollte sie irgendwann mal sterben, so hatte ich viele Male für sie gebetet, dann möge es bitte friedlich sein. Ich bin dem Himmel unendlich dankbar, dass dieser Wunsch für sie in Erfüllung ging. Sie schlief abends ein und wachte am Pfingstsamstag einfach nicht mehr auf.
Nun, die Spinne ...
am Tag des Heimgangs meiner Mutter - ich hatte gerade von meinem Bruder die traurige Nachricht erhalten - fiel mein Blick auf ein kleines ausgeschnitten Bild an der Wand meines Zimmers. Es zeigte hintereinander angeordnete Farbtöpfchen, daneben die farblich passenden Pinsel in der Anordnung Rot-Orange-Gelb. Diese Farben stehen für mich für die Energie eines fröhlichen und energischen Anfangs. Huch ...da bewegte sich doch etwas! Ich schaute genauer hin. Es war eine winzige Spinne. Eine, die KEINE NETZTE BAUT! Eine Springspinne! Dieses kam mir vor wie ein himmlisches Zeichen. Sie saß MITTEN auf dem Bild!
Noch am selben Tag sah ich neben meinem Mann, der meine Mutter als ähnlich "klebrig" empfunden hatte, zweimal eine Springspinne eine Schrankkante hochlaufen.
Am nächsten Tag saßen eine große und eine kleine Springspinne nicht weit voneinander entfernt auf dem Türrahmen meines Zimmers. AUSSEN!!
Am dritten Tag lief eine kleine Springspinne in der unteren Etage im Esszimmer schräg über die Schornsteinwand, während ich frühstückte.
Seitdem habe ich keine Springspinne mehr gesehen.
Koinzidenzen, die ich persönlich "Sinnkronen" nenne (abgeleitet von "Synchronizitäten" = von Kausalität unabhängige, gleichzeitig auftretende Erscheinungen, die wir für uns persönlich zu deuten geneigt sind), erlebe ich oft an Todesschwellen von Menschen, die in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben. Bei meinem Vater war der "himmlische Vermittler " ein Zitronenfalter.
Im Falle eines lieben Bekannten war es ein Marienkäfer.
Eine Gänsehaut beim Lesen wäre jetzt übrigens nichts Ungewöhnliches ... Energie geht nicht verloren, sie wandelt sich lediglich ...
Danke, Robert, für Deine berührende Geschichte! 👌 🙏
Puzzlerike