Eigene Geschichten Der Hongkong Blues

robert111
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Der Hongkong Blues
geschrieben von robert111
Die melancholische Geschichte spielt in Hongkong, wo ich vor Jahren war. Wenn von "Kowloon" die Rede ist: Das ist der Teil des Festlandes, der zu Hongkong gehört. Wirkliche Beobachtungen, außer Vögelchen...

Der Hongkong Blues

Wer in Hongkong war, wird sie im Trubel nicht bemerkt haben. Die Alten, mit dem Gesicht nach vorne gebeugt, den Rücken gekrümmt, wie sie jeden Abfalleimer der Stadt nach Resten durchsuchten. Sie machten sich dabei gar nicht mehr die Mühe, ihren Körper zwischendurch aufzurichten. Klein und gebückt passte das Gesicht genau in die schräge Öffnung der Behälter am Straßenrand. So hatte es seinen Sinn. Ein Sack voller Dosenblech pro Tag brachte einige wenige Hongkong Dollar, aber genug Geld, um damit den täglichen Reis zu bezahlen.

‚Vögelchen’ gehörte zur Schar dieser Armen. Jeden Abend, im Park von Kowloon, nahm er nach seiner Abfallsammlung eine Blechdose nach der anderen aus den gefüllten Taschen, trat sie sorgfältig platt, steckte sie eng aneinander in den Sack, den er später beim Händler verkaufen konnte. Die Ware wurde nach Gewicht bezahlt. Vögelchen war sein Spitzname, wie er bei den Buddhisten vergeben wird, um die böse Geistern zu verwirren. Die Geister, die die Seele der Menschen mit Dummheit, Hass und Gier strafen, in einem Kreislauf der Verblendung.

Als das alte Vögelchen wieder seinen Kopf in die Mülltonnen steckte, tief hinein, war nicht nur Abfall darin, sondern ein Briefumschlag unter der letzten Schicht des Mülls. Das war seltsam. In einer Gründlichkeit, die sonst keiner der Lumpensammler hatte, schaute er in den Umschlag hinein und traute seinen Augen nicht. Es waren Dollar darin, keine Hongkong Dollar, sondern US Dollar. Eine große Summe, vielleicht waren es 10.000. Er war zu aufgeregt, um das Geld zu zählen. Schnell schaute er sich um, ob niemand seinen Fund bemerkte. Dann steckte er das Geld und den Umschlag zu den Dosen in seinen Sack.

Er überlegte, wie viele Säcke Abfall von ihm hätten gesammelt werden müssen, um eine solche Summe zu erhalten. Es wären Millionen Säcke gewesen. Aber jetzt könnte er sein Leben ändern, vielleicht in einer richtigen Wohnung leben, sich anders kleiden. Alles würde anders werden. „Flieg, Vögelchen, flieg“, dachte er sich. Und wie würde man ihn beneiden, alle anderen, die wie er täglich mit der Nase im Abfall lagen, dann nachts auf einem kleinen Platz in einem der Hinterhöfe schliefen, immer im Lärm und Dreck zwischen den Wolkenkratzern und den Glaspalästen, zwischen den Banken und den Shopping Arkaden. Damit war es jetzt vorbei. Er konnte ein anderer Mensch werden.

Er wollte in Ruhe nachdenken, was jetzt zu geschehen sei. Aber er ließ sich nichts anmerken. Das war das Beste. Wie immer fuhr er mit der Fähre von der Insel Hongkong nach Kowloon, dem Festland. Die Fähre kostete ihm fast nichts, jetzt, wo er doch so reich war. Man konnte auch die unterirdische Bahn benutzen. Doch Vögelchen hatte viel Zeit. Wie immer setzte er sich in den Park von Kowloon und zertrat seine gesammelten Blechdosen. Aber das sollte ihn in Wahrheit nur beruhigen. In Gedanken war er schon längst bei den Plänen für die Zukunft.

„Hallo, Vögelchen, du bist aber früh heute“. Es war die Witwe von der Canton Road, die fast täglich dort saß, ihm gegenüber auf der Bank unter dem alten Feigenbaum. „Noch ist kein anderer von euch Lumpen da“, lachte sie. Sie machte immer solche Bemerkungen und Vögelchen nahm ihren Spott sonst nicht weiter wichtig. Aber statt gebückt und ruhig zu bleiben, wie es seine Art gewesen wäre, richtete er sich nun wütend auf.

„Lass endlich deine Witze, du alter Drachen“ und spürte, wie Hass in ihm aufstieg. Das brauchte er sich jetzt nicht mehr gefallen zu lassen. „Mach dich fort. Ich will dort sitzen“. Mit wütendem Gesicht und drohenden Gesten vertrieb er die Alte von der Bank. „Jetzt sitze ich auf dem besten Platz“, dachte er. „Und bald werde ich besser leben“.

Die anderen Abfallsammler kamen nun auch. Sie sahen Vögelchen unter dem Feigenbaum. Und wie er dort saß! Fast wie Buddha bei seiner Erleuchtung. „Was ist geschehen?“ fragten sie ihn. „Was ist mit der Frau, die sonst dort sitzt?“ „Ich habe sie vertrieben. Sie verspottet uns doch schon seit Jahren“.

Über seinen Fund wollte er nichts sagen. Erst als alle auf ihn eindrangen und fragten, was geschehen sei, erzählte er davon. „Vögelchen, das ist ja ein Wunder. Seit zwanzig Jahren steckst Du den Kopf in den Abfall und jetzt gibt es so etwas. Das ist wie ein Geschenk vom Himmel“. Und sie fragten sich, warum sie nicht selber dieses Glück hatten.

„Gib mir etwas davon ab, Vögelchen!“ sagte der erste. „Aber auch mir, ich habe kranke Kinder“, sagte eine zweite Stimme, die er gar nicht kannte. „Nein mir, gib es mir. Ich habe eine gebrochene Hand“, sagte ein Dritter und streckte seine Hand nach vorne. Vögelchen schaute ihn zweifelnd an. „Es ist die andere Hand, Vögelchen, glaube es mir!“ Es waren nun immer mehr, die ihn umringten, bis Chang, dem man die Beine amputiert hatte, mit den spitzen Ecken seines Rollbretts in die Menge bis ganz nach vorne fuhr. „Du warst schon immer mein Freund, Vögelchen“.

In diesem Moment entstand ein kleiner schmaler Gang, und Vögelchen rannte so schnell es ging zwischen seinen vielen alten und neuen Freunden hindurch, über das Brett fast stolpernd, die Tüte mit den Dosen und mit dem Umschlag immer enger an sich gepresst. Er rannte und rannte. Zurück zum Pier, wo die nächste Fähre gerade ablegen wollte, und er schaffte es im letzten Moment. Nur weg, weg, weg!

Nach einigen Minuten war es ganz ruhig, mitten auf dem Wasser. War sein Schatz noch da? Er suchte zwischen den leeren Dosen. Ja, da war der Umschlag mit den Geldscheinen, die er noch gar nicht gezählt hatte. Er stand an der Reling und nahm sie alle aus dem Umschlag. „Flieg, Vögelchen, flieg“, sagte er, als er sie alle hoch hinaus ins das Wasser warf. Das Geld flatterte wie viele kleine helle Flügel in der Nacht. Es wurde vom Wind erst leise hoch getrieben, bis es langsam im dunklen Meer versank.

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