Diskussion historischer Ereignisse 27. Januar 1859

niederrhein
niederrhein
Mitglied

27. Januar 1859
geschrieben von niederrhein
27. Januar 1859


Bei Wikipedia (und vermutlich auch an anderer Stelle im Internet) findet man zu Tagen, Daten und Jahren Ereignisse aufgelistet.
Der 27. Januar zeigt u.a. an, daß eben am 27. Januar 1859, also vor einhundertfünfzig Jahren, der spätere deutsche Kaiser Wilhelm II. geboren ist; eine historische Figur, die historiographisch nicht nur umstritten war, sondern gleichsam als Übergangsfigur vom 19. ins 20. Jahrhundert betrachtet werden kann.

Vermutlich werden neben den Zeitungen (siehe z.B. den Beitrag in der FAS (= Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) vom 25.01.2009) auch die anderen Medien dieses Datum aufgreifen; ob die nahezu unvermeidlichen Guido-Knopp-Dokumentationen die – historiographisch gesehen – wahrheiten-vermittelnde Offenbarung sind, muß jede/r angesichts seiner/ihrer Ansprüche selbst entscheiden; empfehlen kann ich aber die filmische Dokumentation von Peter Schamoni: Wilhelm II. - Majestät brauchen Sonne'' (1999), die auf fast ausschließlich Originalmaterial basiert. (Ich vermute, daß diese Dokumentation zu diesem Anlaß im Fernsehen gesendet wird.)

Nachdem im letzten Jahr der letzte Band der dreibändigen Darstellung von dem britisch-deutschen Historiker John C.G. Röhl über diesen letzten deutschen Kaiser erschienen ist, wäre diese Biographie die Darstellung, wenn sich jemand mit dieser historischen Figur beschäftigen will.

http://community.seniorentreff.de/storage/pic/userbilder/a30f1d57825f100a5a9ba38c76fffe20/buchtitel01-17.12.2008/130668_1_Buchtitel_01_-_17.12.2008.jpg[/img]
(Das Bildchen wurde schon einmal in Zusammenhang mit dem [i]Senoriaprojekt
verwendet; deswegen dieser Rahmen ...)

Interessant ist sicher auch zu vergleichen, wie Wilhelm II. zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Darstellungen (nicht uninteressant wären hier alte Schulbücher – nach 1949 etwa in den beiden deutschen Staaten!) gesehen und beurteilt wurde; seine Rolle im Rahmen der innenpolitischen Konflikte, bei der Aufrüstung etc., nicht zuletzt unmittelbar vor dem Krieg (Juli-Krise) und während des Krieges.

Der Mensch und die Person des Kaisers ist psychoanalytisch sehr interessant; wieweit haben such seine Herkunft, seine Eltern (seine britische Mutter!), seine Behinderung, seine Erziehung (sein Erzieher Hinzpeter) traumatisierend auf das Kind und den jungen Menschen ausgewirkt?

Nachdem ja der Schwerpunkt heutiger historischer Forschung nicht mehr schwerpunktartig auf geschichtlichen Personen liegt (dafür gibt es durchaus gewichtige Gründe), ist dennoch bei solchen Persönlichkeiten eben die Struktur ihrer oft traumatisierten und kranken Persönlichkeit „geschichtsentscheidend“. Zum Beispiel dürfte Wilhelms Haltung gegenüber England vor allem (oder ausschließlich?) biographisch bedingt sein.


Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein


P.S. Dieser kleine Beitrag ist – nach meiner Intention – nur als Hinweis gedacht; ohne profunde historische Kenntnisse könnte eine Diskussion in sinnloses Geplapper verplätschern ... (aber das lieben ja manche Menschen auch).

florian
florian
Mitglied

Re: 27. Januar 1859
geschrieben von florian
als Antwort auf niederrhein vom 25.01.2009, 17:45:08
Hallo Bertha,

was ich traurig finde, dass gute Eigenschaften der Menschen mit ins Grab genommen werden. Viele kennen Wilhelm II. nur als Kriegstreiber, wie viel Schuld er aber wirklich am Ersten Weltkrieg besitzt wollen viele gar nicht sehen/hören/lesen.

Seine Mutter war doch nie für ihn da, als sie erfuhr, dass er einen behinderten Arm hat, tat er ihr doch nur noch leid und sie schob ihn doch ab. Dadurch das sein Arm so derbe bandagiert wurde, ist er mehr und mehr zum Außenseiter geworden. Die einzige, die ihn wirklich mochte, war seine Großmutter, Queen Victoria.

Man kann ihn beurteilen wie man will - sein Leben ist nicht so verlaufen, wie man es jemanden vielleicht gönnen würde. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn Friedrich III. ein paar Jahre mehr regiert hätte und Wilhelm nicht schon so zeitig Kaiser geworden wäre.

Empfehlungen meinerseits:


bei Amazon.de


--
florianwilhelm18
niederrhein
niederrhein
Mitglied

Nicht nur eine Antwort für Florian ...
geschrieben von niederrhein
als Antwort auf florian vom 25.01.2009, 18:13:11
Lieber Florian,

Deine Zeilen und Dein Engagement ehren Dich ... aber darf ich Dir in diesem Zusammenhang einige Fragen stellen?
(Du hast sicher erkannt, daß ich in meinem Hinweis keine explizite Verurteilung Wilhelms II. enthalten war.)

Ist es nicht so, daß ein Historiker alle Vorausetzungen, Ursachen - nicht nur explizit politische, sondern auch wirtschaftliche und soziale, individuell-persönliche und psychopatische - , Verlauf, Folgen und deren Bedeutung untersuchen sollte? Also muß man auch die Persönlichkeit einer solchen Person berücksichtigen.

Wie soll man als Historiker, als geschichtlicher Betroffener denn das Fehlverhalten politischer Akteure beurteilen? Soll der Historiker dieses Fehlverhalten und deren Folgen überhaupt untersuchen? Die Verantwortlichen und Schuldigen benennen? (Wobei die Problematik evident ist, daß die Menschen der betrachtenden Epochen es mit den Maßstäben ihrer Zeit machen ... Sklaverei wird eben im 20. und 21. Jh. anders gesehen als zur Zeit der römischen Antike.)

Exculpiert (= entschuldigt) eine wie auch immer geartete Kindheit (als Beispiel) das Fehlverhalten des Erwachsenen, der jetzt - Tragik und/oder Ironie des Schickslas (?) - etwa als Herrscher "falsch" handelt und oder offensichtliche Verbrechen anordnet oder gar selbst begeht?

Wie soll man mit der Politik eines Wilhelms II. umgehen? Ihn als nur als "kranken", traumatisierten Menschen sehen und von jeder Verantwortlichkeit freisprechen? (Jemand sagte, er sei die grandioseste Fehlbesetzung für den Kaiserthron gewesen.)

Vielleicht aktuell: Wie soll man z.B. Bushs Politik beurteilen? (Irgendwo las ich, daß G.W. Bush weltpolitisch eine tragische Figur gewesen sei. Sicher spielen Bushs Vater, seine Abhängigkeit etc. auch eine Rolle für dessen Politik - neben Öl- und Rüstungsindustrie) - wer weiß, inwieweit Bush traumatisiert war. Aber entschuldigt dies alles dessen Politik?

Seriöse Historiker wissen natürlich, daß - hier zu Deinem Punkt! - für den ersten Weltkrieg nicht nur Wilhelm II. (als Kriegstreiber auf deutscher Seite) verantwortlich war. Aber wer war nun verantwortlich? Und welche Rolle spielte eben der Kaiser? (Welche Rolle die Marine, der Generalstab, die Stahl- und Rüstungsindustrie? Empfehlung, daß Du Dich z.B. einmal mit dem britisch-deutschen Flottenkonflikt beschäftigst.

Hier ein Zitat:
SPIEGEL: Die Alliierten wollten den Kaiser vor Gericht stellen, "wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes". Dazu kam es nicht, weil die Holländer den 1918 ins Exil geflohenen Monarchen nicht auslieferten. Gehörte Wilhelm vor Gericht?

Röhl: Er hat keine Kriegsverbrechen verübt, keinen Mordbefehl erlassen oder dergleichen. Aber Verschwörung zu einem Angriffskrieg - das muss man ihm vorwerfen. Ich glaube, seine Schuld ist sehr groß, viel größer als gemeinhin unterstellt wird. Und wenn er vor Gericht gekommen wäre, wäre er auch verurteilt worden.[/indent]
Quelle

Noch eine persönliche Anmerkung. Du weißt, so glaube ich, wie alt ich bin (ich werde im November 75 Jahre) - den größten Teil meines Lebens habe ich mich, sowohl privat als auch beruflich, mit solchen Fragen beschäftigt - meinst Du, ich hätte heute (ich will nicht gerade schreiben: am Ende meines Lebens, aber ich bin mir bewußt, daß meine Zeit sehr begrenzt ist) etwa endgültige Antworten auf solche Probleme parat?

Mit einem freundlichem Gruß
[i]
Die Bertha
vom Niederrhein



P.S. Im letzten Jahr habe ich das Buch über den jungen Stalin gelesen (von Montefiore) ... ein Rezensent schrieb in diesem Zusammenhang, es sei kein Zufall, daß die schlimmsten politischen Verbrecher im 20. Jh. von ihren Väter jeweils häufig fast besinnungslos geprügelt wären ... das erklärt vermutlich die Defekte in deren jeweiligen Persönlichkeiten - aber entschuldigt das deren "Politk"?

P.P.S. Lies einmal, was Holger Afflerbach über das von erwähnte Buch von Ries schreibt! (Rezension 2002 in der FAZ)

Anzeige

silhouette
silhouette
Mitglied

Re: Nicht nur eine Antwort für Florian ...
geschrieben von silhouette
als Antwort auf niederrhein vom 25.01.2009, 21:27:06
Zu der Konditionierung durch einen lieblosen Vater o.ä. fehlt mir gerade ein Gegenbeispiel ein: laut Jochen Klepper sehr emontionsbetontem Roman "Der Vater" ist Friedrich der Große in einer extrem lieblosen Vaterbeziehung aufgewachsen. Sein Freund Katte wurde nur deswegen vor Friedrichs Augen auf Befehl seines Vaters exekutiert, weil er ein echter Freund war, dem er sich in seiner Verlassenheit anvertraut hatte. Das ist Fakt, nicht Roman.

Friedrich der Große war aber alles andere als ein verbrecherischer Herrscher. Hat ihn vielleicht seine Musik "ausbalanciert"?

Von ihm wird ein Spruch zitiert, der für Toleranz der Religionen steht: "In meinem Staat kann jeder nach seiner Fasson selig werden".
--
silhouette
dutchweepee
dutchweepee
Mitglied

Re: 27. Januar 1859
geschrieben von dutchweepee
als Antwort auf niederrhein vom 25.01.2009, 17:45:08
@bertha

ob du´s glaubst oder nicht - erst am letzten freitag habe ich die fantastische schamoni-dokumentation "Wilhelm II. - Majestät brauchen Sonne" auf DVD gesehn - ein tolles teil der geschichtsaufarbeitung!

eher leichtsinnig habe ich gegen 0:30 uhr die DVD eingelegt und konnte die folgenden zweistundenundfünfminuten einfach nicht ausschalten. (am samstag konnte ich ja ausschlafen)

der film ist eine gratwanderung zwischen respektloser zeitbetrachtung und respekt vor der person. dabei sehr detailgetreu und geschichtsbewusst. mir ist niemals zuvor aufgefallen, wie extrem behindert wilhelm II. am linken arm war. den konnte er ja faktisch nicht gebrauchen! auf den heroischen bildern und fotos wird das ja immer geschickt kaschiert.

als staatsoberhaupt war wilhelm II. wohl ein versager. als mensch eine tragische, ferngelenkte gestalt, die mit der moderne nicht schritthalten konnte. ohne das aggressive, imperialistische umfeld, wäre er wohl als der beliebteste kaiser aller zeiten in die geschichte eingegangen.

die doku zeigt jedenfalls einen menschen, der nicht einfach zum teufel des 20ten jahrhunderts, zum auslöser der hitlerdiktatur, oder sonst einem bösewicht abgestempelt werden kann.

er war einfach kein staatsoberhaupt, daß dem aufstrebenden imperialismus deutscher prägung paroli bieten wollte und konnte.
florian
florian
Mitglied

Re: Nicht nur eine Antwort für Florian ...
geschrieben von florian
als Antwort auf niederrhein vom 25.01.2009, 21:27:06
Hallo Bertha,

(Du hast sicher erkannt, daß ich in meinem Hinweis keine explizite Verurteilung Wilhelms II. enthalten war.)
geschrieben von du meintest:


Zu keinem Zeitpunkt hätte ich dir das unterstellt.

Wie soll man als Historiker, als geschichtlicher Betroffener denn das Fehlverhalten politischer Akteure beurteilen? Soll der Historiker dieses Fehlverhalten und deren Folgen überhaupt untersuchen? Die Verantwortlichen und Schuldigen benennen? (Wobei die Problematik evident ist, daß die Menschen der betrachtenden Epochen es mit den Maßstäben ihrer Zeit machen ... Sklaverei wird eben im 20. und 21. Jh. anders gesehen als zur Zeit der römischen Antike.)
geschrieben von du meintest:


Sind Historiker nicht Historiker geworden, um die historische Wahrheit der Öffentlichkeit darzulegen und ggf. auch zu beurteilen?

Wie soll man mit der Politik eines Wilhelms II. umgehen? Ihn als nur als "kranken", traumatisierten Menschen sehen und von jeder Verantwortlichkeit freisprechen?
geschrieben von du meintest:


Ist es nicht so, dass die Kindheit den späteren Erwachsenen prägt, ihn lenkt und handeln lässt und Fehler begehen lässt? Was uns in unserer Kindheit fehlt, fehlt uns auch als Erwachsene.

Seriöse Historiker wissen natürlich, daß - hier zu Deinem Punkt! - für den ersten Weltkrieg nicht nur Wilhelm II. (als Kriegstreiber auf deutscher Seite) verantwortlich war. Aber wer war nun verantwortlich? Und welche Rolle spielte eben der Kaiser? (Welche Rolle die Marine, der Generalstab, die Stahl- und Rüstungsindustrie? Empfehlung, daß Du Dich z.B. einmal mit dem britisch-deutschen Flottenkonflikt beschäftigst.
geschrieben von du meintest:


Du sprichst die Generalität an: war es nicht genau diese, die den Kaiser immer mehr zurück drängten und die Macht in den Händen hielten? Sicherlich hat W. II. provoziert und den Flottenbau begünstigt, ja gefördert. War er nicht eine Marjonette der Reichskanzler Bülow, Caprivi und Bethmann-Hollweg? Die Rüstungsindustrie war doch froh, als der erste WK losbrach - die imensen Aufträge, Materialschlachten und Verbrauch.


Sicher, du bist schon altersmäßig (Pardon, man sagt das nicht zu einer Dame) näher am historischen Kontext als ich - aber wie weit stehen Passion und Lebenserfahrung gegenüber?

--
florianwilhelm18
niederrhein
niederrhein
Mitglied

Noch einmal für Florian ....
geschrieben von niederrhein
als Antwort auf florian vom 26.01.2009, 14:51:21
Noch einmal für Florian ...

Lieber Florian,

ich habe schallend lachen müssen ...
Sicher, du bist schon altersmäßig (Pardon, man sagt das nicht zu einer Dame) näher am historischen Kontext als ich [...]

... ich habe dennoch Wilhelm II. nicht kennengelernt; erst in den 50er und 60er Jahren (auch später) habe ich mich mit der historischen Person befaßt.

Ist es nicht so, dass die Kindheit den späteren Erwachsenen prägt, ihn lenkt und handeln lässt und Fehler begehen lässt? Was uns in unserer Kindheit fehlt, fehlt uns auch als Erwachsene.

Florian, das ist (u.a.) das Thema, mit dem ich mich - sowohl anhand von wissenschaftlichen, politischen und anderen öffentlichen Personen als auch in meinem privaten Umfeld - seit einigen Jahren beschäftige und auch weiterhin beschäftigen werde.
Von Ernst Bloch stammt das Wort, daß eine glückliche Kindheit ein ganzes Leben konstituiere ...

Aber, Florian, selbst unter der Berücksichtigung solcher Faktoren und unter der Annahme, daß eben Menschen in ihrer (bereits sehr frühen!) Kindheit u.U. anscheinend irreparable Schäden erleiden ... wie steht's mit der Frage der (moralischen, juristischen) Verantwortlichkeit solcher Menschen als erwachsene Personen?

Ich werde demnächst diesen Punkt zu einem Beitrag ('mal sehen, in welchem Forum?) thematisieren - jetzt würde das hier zu weit führen.
(Darf ich Dir das Stichwort "Resilienz" geben? Ist der Mensch von den sozialen Faktoren restlos determiniert?)

Einen schönen Gruß

Die olle Bertha
(die W II. nicht persönlich gekannt hat)

- aber wie weit stehen Passion und Lebenserfahrung gegenüber?

Florian, Du kannst mich gerne für blöd halten - aber ich verstehe diese Passage nicht.

niederrhein
niederrhein
Mitglied

Ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung zu Wilhelm II.
geschrieben von niederrhein
als Antwort auf niederrhein vom 25.01.2009, 17:45:08
Achtung; Artikel aus der SZ vom 26.01.2009


Narreteien von Gottes Gnaden

Im Volksmund hieß er "Wilhelm der Plötzliche":
Zum 150. Geburtstag des letzten deutschen Kaisers

Der Überlieferung zufolge brachte seine Lektüre Wilhelm II. dazu, auf den Bau einer starken Flotte zu drängen: 1890 erschien Alfred T. Mahans einflussreiches Werk über die Bedeutung von Seestreitkräften, "The Influence of Sea-Power upon History". Der Kaiser las es, war angetan und wollte nun auch eine starke Kriegsflotte haben. Admiral Tirpitz, der das ähnlich sah, kam Wilhelm wie gerufen. Und so begab sich das Deutsche Reich 1897 in einen maritimen Rüstungswettlauf mit Großbritannien, was zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug.

Wilhelms Mahan-Lektüre bestätigte aber nur ein altes Ärgernis: Der Enkel der Queen Victoria war in seinen jüngeren Jahren gelegentlich im englischen Yachthafen Cowes zu Gast, wo Lebemänner dem Regattasport frönten. So elegant ging es in deutschen Häfen nicht zu. Wilhelm war neidisch. Und es wurmte ihn, dass deutsche Werften nicht in der Lage waren, so schnelle Segelschiffe zu bauen wie die Briten. In Kiel, dessen Marine-Regatta-Verein 1891 auf sein Geheiß zum "Kaiserlichen Yacht Club" wurde, tat er groß auf seiner Segelyacht namens "Meteor", die freilich von einer englischen Werft gebaut worden war. In den neunziger Jahren lagen oftmals imposante Schiffe der britischen Kriegsmarine in Kiel vor Anker: Auch das noch! Der Kaiser, der sein Minderwertigkeitsgefühl mit Protzigkeit zu kompensieren suchte, muss es als persönliche Kränkung wahrgenommen haben.

Im Bund mit der Vorsehung
Für Wilhelms schlechtes Selbstgefühl gab es gute Gründe: Nicht nur verstümmelten die Ärzte ihm bei der Geburt am 27. Januar 1859 einen Arm. Schlimmer noch mag gewesen sein, dass er deshalb während seiner ersten Jahre vielen medizinischen Torturen ausgesetzt wurde, quacksalberischen Quälereien - das Englische hielt für dergleichen den Ausdruck "heroic medicine" bereit. Am schlimmsten war wohl, dass die Mutter ihren ältesten Sohn nicht mochte. Das fiel auch der Großmutter auf: Queen Victorias Ermahnung an die Tochter - "Du musst Dich Deinem Kind zuwenden" - war aber in den Wind gesprochen.

Der deutsche Thronfolger wuchs zu einem Mann heran, der so gut wie jeden für klug hielt, der ihm schmeichelte. Dies ergab sich auch daraus, dass Wilhelm nicht besonders intelligent war. Der Historiker Christopher Clark meint zwar, er sei sicherlich intelligent gewesen, lediglich an Urteilskraft habe es ihm gemangelt. Das läuft am Ende aber auf dasselbe hinaus: Mangels Urteilskraft war der Kaiser nicht fähig, eine Situation richtig einzuschätzen. Seine kaiserlichen Meinungen, die er in die Welt setzte, wie andere Leute niesen, waren sprunghaft. "Wilhelm der Plötzliche" hieß er im Volksmund.

Sein aufgesetztes Sendungsbewusstsein machte ihn megaloman. Zwar verstand er sich nicht auf viel, doch er interessierte sich für fast alles, so auch für Archäologie. Als er einmal auf Korfu neben einer Ausgrabungsstätte stand, sagte er: "Es ist sehr gut möglich, dass die Vorsehung mich, obwohl ich Laie bin, auserwählt hat, der Archäologie neue Wege zu weisen." Mit der gleichen Emphase erklärte er: "Ich bin der einzige Lenker & Herr der deutschen Außenpolitik." Man kann verstehen, warum Hans-Ulrich Wehler sagt: Wilhelms Intelligenz hätte dazu hingereicht, ein Beamter oder mittelmäßiger Schulmeister zu werden.

Wären die Zeiten nicht so angespannt gewesen, Wilhelm II. wäre als unbedeutender Sprücheklopfer in die Geschichte eingegangen, bekannt vor allem dafür, dass er sich seine Glitzerorden selbst entwarf. Man würde ihn als Monarchen würdigen, der die mediale Bedeutung der Selbstinszenierung verstanden hatte. Unglücklicherweise übernahm er die Regentschaft über ein Land, das der große Bismarck darauf zugeschnitten hatte, dass er selbst es führte: gewieft, verschlagen, nüchtern, umsichtig. Das Parlament hatte Bismarck weitgehend zu dem reduziert, als was er es betitelte: zu einer Schwatzbude. Um seine Legitimität als Kanzler zu stärken, hatte er die Bedeutung des Kaisers ganz hoch gehängt; er war davon ausgegangen, dass der Kaiser, einerlei wie er heißen mochte, tun würde, wozu der Kanzler ihm riet.

Nachdem der einunddreißig Jahre alte Wilhelm II. den betagten Bismarck 1890 - mit schlechten Gründen, aber nicht ganz zu Unrecht - geschasst hatte, durfte er sich einbilden, nun wirklich autokratisch zu regieren. "Persönliche Monarchie" nannte sich das. Bismarck ließ ein Reich zurück, in dem quasi byzantinische Verhältnisse herrschten. Wem es gelang, dem Kaiser zu suggerieren, dass er, Wilhelm II., die Entscheidungen fälle, konnte seine Politik durchsetzen. Wilhelm durchschaute die Ränke nicht.

So ging er 1900 dem neuen Reichskanzler Bernhard von Bülow auf den Leim. 1908 gewährte Wilhelm dem Daily Telegraph ein Interview, in dem er sich herablassend über die britische Politik äußerte. Es ist nicht ganz klar, ob von Bülow ihn absichtlich ins offene Messer rennen ließ - den Text, den Wilhelm ihm zur Prüfung vorlegen ließ, hat der Reichskanzler jedenfalls nicht bearbeitet. In London reagierte man empört. Hernach gab von Bülow sich enragiert: Den Geheimrat Klehmet, der den Artikel des Daily Telegraph gegengelesen hatte, fuhr er an: "Haben Sie noch nicht erfasst, dass die persönlichen Wünsche seiner Majestät bisweilen Narreteien sind?" Im deutschen Offizierskorps war von da an von Wilhelms "Soldatenspielerei" die Rede.

Die "persönliche Monarchie" Wilhelms II.: Sie war ein Sammelsurium von Narreteien. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben einige Autoren sein Andenken retten wollen. Die meisten hängen romantischen Ideen von Reich und Kaisertum nach, die sie mit dem Rückgriff auf mittelalterliche Vorstellungen zu untermauern suchen. Der 2008 verstorbene Nicolaus Sombart zum Beispiel hat die vielen Vergnügungsreisen, die der Kaiser in Europa unternahm, mythographisch überhöht. So habe Wilhelm "die sakrale Position des Reiches, als Reich der Mitte, in allen vier Himmelsrichtungen demonstrativ markiert". Vergleichbares findet sich in Büchern, die jetzt, anlässlich Wilhelms 150. Geburtstag, erschienen sind.

Selbst wo der Kaiser recht hatte, kann man ihm dafür keinen Kranz winden. Allzu zahlreich waren jeweils die Gelegenheiten, bei denen er das Gegenteil sagte. Den Ersten Weltkrieg wollte er zwar nicht, aber zu seinem Ausbruch hat er dennoch beigetragen. Seit Beginn der neunziger Jahre wollten viele Politiker und Generale einen neuen Krieg. Wilhelm griff das auf. 1912 forderte er von den führenden Politikern und Militärs, sie sollten Deutschland auf einen Krieg vorbereiten. Als der dann 1914 kam, hatte Wilhelm seine Meinung wieder geändert. Da Reichskanzler Bethmann-Hollweg ihn nicht mehr ganz ernst nahm, war Wilhelms Votum nebensächlich. Die Entscheidungen der Obersten Heeresleitung beeinflusste der Kaiser nur insofern, als er den Generalen durch seine ständige Anwesenheit in Nähe ihres Hauptquartiers auf die Nerven ging. Nach dem üblichen egozentrischen Ausflug in die Rhetorik ("Das beste wird schon sein, ich schieße mich tot") reiste er am 10. November 1918 ohne Absprache mit der Regierung ins holländische Exil.

Das Volk, die "Schweinebande"

Als Walter Rathenau nach der Niederlage gefragt wurde, ob der Kaiser Schuld am Ausbruch des Kriegs gewesen sei, antwortete er, die Frage stelle sich nicht. Damit hatte Rathenau recht. Bemerkenswerterweise standen die wahren Entscheidungsträger ihrem Kaiser an Unfähigkeit kaum nach. Volker Ullrich hat die deutsche Politik in der Vorkriegsphase als ein "merkwürdiges Gemisch aus übertriebenen Befürchtungen, irrationalen Erwartungen und dilettantischen Fehlrechnungen" beschrieben.

Der Kaiser - kluge Zeitgenossen sahen das schon zu seinen Lebzeiten - war das Spiegelbild all dessen, was das Kaiserreich zu einem bornierten, autoritären Militärstaat machte. Tirpitz" Flottenaufrüstung ist beispielhaft für die damals herrschende verantwortungslose Politik. Tirpitz hatte lächerlich hohe Ziele: Er wollte Großbritannien zwingen, es hinzunehmen, dass Deutschland sich ein ausgedehntes Kolonialreich schuf. Das, so meinte er, werde helfen, den Einfluss von Parlament und Sozialdemokratie in Deutschland einzudämmen. Nichts davon war realisierbar. Dass ein neuer Krieg vor allem zu Land ausgefochten werden würde, war absehbar. Doch das war ein Detail, auf das die deutschen Machthaber nicht viel gaben. Der Flottenbau konsumierte immense Summen - in die Aufrüstung des Heeres wurde umso weniger investiert. Bis 1916 war die kaiserdeutsche Flotte vor allem damit beschäftigt, sich vor den britischen Schiffen in Sicherheit zu bringen. Der größte Effekt der maritimen Aufrüstung: Als die Matrosen Ende Oktober 1918 erfuhren, dass sie in einem letzten "Todeskampf" vor der sicheren Niederlage ihr Leben opfern sollten, meuterten sie. Das war der Ausbruch der Revolution.

Wie Adolf Hitler war Kaiser Wilhelm von "seinem" Volk am Ende enttäuscht: Er nannte es "eine Schweinebande". Die Weimarer Republik war eine "Saurepublik". Vor Hitlers Wahlsieg 1933 setzte er darauf, dass die Nationalsozialisten ihn nach Deutschland zurückholen würden. Als das fehlschlug, war er beleidigt und verdammte die Nazis. Der Historiker John Röhl hat mit staunenswerter Sorgfalt allen Blödsinn zusammengesucht, den Wilhelm geäußert hat. Röhls biographische Vernichtung des Kaisers kulminiert darin, dass Wilhelm - Rassist war er auch - erklärte, die Juden müssten "vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet" werden: "Das beste wäre wohl Gas."

Nein, auch diese Idee hätte Wilhelm nie umgesetzt. Es wäre falsch, ihn als Hitlers Vorläufer zu bezeichnen. Seine Fähigkeit beschränkte sich darauf, große Worte zu machen. Er hat sein Leben lang den Monarchen vor allem gemimt. Zu mehr reichte es nicht.


FRANZISKA AUGSTEIN
Eine Sammlung von Bildern und Zitaten zum Thema finden Sie im Internet unter www.sueddeutsche.de/wilhelm.

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.21, Dienstag, den 27. Januar 2009 , Seite 11



Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein

Anzeige