Anthropologie / Psychologie Vererbte Narben - Generationsübergreifende Traumafolgen
Im Märchen-Thread hat sich ein Thema entwickelt, welches hier einen geeigneteren Platz finden soll. Es geht darum, dass traumatische Erfahrungen an die nächsten Generationen weitergegeben werden können.
Dazu stelle ich ein Video ein, auf welches mich Roxanna in einem anderen Thread aufmerksam gemacht hatte:
In dieser Dokumentation thematisiert die Autorin Liz Wieskerstrauch, wie z.B. Kriegserlebnisse heute noch immer bei den Nachkommen nachwirken, obwohl diese die Zeit nicht miterlebt haben. Im Film wird von Forschungen berichtet, die von bis zu drei Generationen ausgehen, in denen ein ursächliches Erlebnis hinein wirkt. Das bedeutet, dass traumatische Erlebnisse des Vaters oder der Mutter sich auf Kinder, Enkelkinder und wiederum deren Kinder auswirken können.
Dazu hole ich einige Beiträge aus dem Märchen-Thread hinzu:
Zitat von Tine1948: In irgendeinem Beitrag von Karl, ich weiss leider nicht mehr, wo der zu lesen war, gibt es ja einen Bezug zu einer Studie, die besagt, dass Traumata auch an Nachkommen genetisch weitergegeben werden. Ich bin überzeugt, dass das für die Nachkriegskinder der Fall ist. Und darüber zu sprechen, dazu noch mehr Studien zu machen, ist vielleicht besonders wichtig, weil ja in den heutigen Kriegsländern auch fortwährend furchtbare Traumata entstehen, deren Folgen auch die nächsten Generationen zu tragen haben werden.Hallo Tine,
ich haben einen Thread zu dem Thema hier gefunden.
(das ist ein gähnendes Smiley), was bedeuten soll, dass ich morgen weiter schreibe. Die Weihnachtstage waren anstrengend und ich gehe jetzt ins Bett.
Mane
Nur mal eine Frage zu dem Thema, vielleicht hat es mit dem Thema auch gar nichts zu tun.
Kann es sein, dass 50 Jahre (und länger) "Aufarbeitung" Tag für Tag, immer wieder, immer drastischer, und von Ereignissen, von denen man überhaupt erst jetzt erfährt, dass es sie gegeben hat, und in immer neuen Varianten, in der Presse, in Erzählungen, im Fernsehen, in Form von Denkmalen, Stolpersteinen, Kranzniederlegungen, Schuldzuweisungen, Besuchen in Gedenkstätten, usw. erst dazu führen, dass Traumata entstehen, die sich so sehr einprägen, dass sie möglicherweise vererbt werden?
jacare4
Gegenfrage:
Welche Narben hinterlassen unterdrückte oder verdrängte Schuldgefühle?
Schorsch, ich denke, es sind seelische Narben wie Neurosen und schlimmstenfalls Psychosen.
Auch spricht man von Epigenetik, was soviel heisst, dass die "Narben"der vorherigen Generationen
vererbt werden durch räumliche Abwandlung der Erbsubstanz DNA via z.B. Methylgruppen, welche
aktive Punkte der DNA in den Hintergrund drängen (Maskieren) und andere in den Vordergrund schieben.
Jacaré, durch ständiges Erinnern einer negativen Situation verändert man womöglich auch die DNA räumlich, was dann ebenfalls zu Neurosen führt.
Klüger wäre es dann wohl, sich auf etwas Positives zu besinnen und in die Tat umzusetzen.
Traumatisierte Menschen könnten dies eventuell lernen. Was die Menschheit selbst zustande bringt
im Guten wie im Bösen, kann sie auch selbst wieder ändern. Ich sage aber nicht, dass das leicht ist!
Hallo schorsch,Zitat von schorsch:
Ich zitiere sonst nicht gerne die Bibel. Aber ab und zu steht etwas drin, das auch ich als vernünftig und plausibel betrachte. Zum Beispiel: "Die Fehler der Väter werden sich rächen bis ins 3. und 4. Glied...", oder so ähnlich.
http://kath-zdw.ch/maria/texte/ahnenschuld.htm Die Fehler der Väter....
in deinem Link geht es um die Vorfahrens- oder Ahnenschuld und um die Frage, ob "wir" für "die Greueltaten unserer Großväter oder Urgroßväter um Vergebung bitten" müssen:
Solche Gedanken liegen mir fern: Gott ist ein eifersüchtiger Gott? Gott soll mich verfolgen wegen des Unrechts meiner Vorfahren?"Das Gesetz von Saat und Ernte ist ein göttliches Gesetz. Es ist nicht gleichgültig, was unsere Großeltern und Eltern getan haben, was sie gesät haben. Wir und die Enkel und Urenkel müssen das ernten. Wenn in unseren Familien z.B. Befürwortung des Nationalsozialismus, Judenhass, Kommunismus, Streit, Ehebruch, Abtreibung o.ä. war, liegt auf uns und unseren Kindern ein negatives Erbe" Die Liste der Sünden mit negativem Erbe wird dann noch um okkulte Praktiken, Jähzorn, Bitterkeit usw. verlängert.
„…. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten Generation von denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist an Tausenden von Generationen von denen, die mich lieben und meine Gebote halten."
Richtig ist, dass sich viele Deutschen auch über 70 Jahre nach dem Krieg, obwohl sie völlig unschuldig sind, voller (unbewusster Schuldgefühle) sind oder sich schämen. Doch das ist ein anderes Thema.
Mane
Nicht alle Menschen reagieren auf Kriegserlebnisse gleich und längst nicht alle tragen bleibende Schäden davon oder geben diese an nachfolgende Generationen weiter. Manche sind resilient gegen die Traumata ihrer Vorfahren, weil sie eine besondere psychische Widerstandskraft besitzen, trotz widriger Umstände ein gutes Leben zu führen.Zitat von Tine1948
Und darüber zu sprechen, dazu noch mehr Studien zu machen, ist vielleicht besonders wichtig, weil ja in den heutigen Kriegsländern auch fortwährend furchtbare Traumata entstehen, deren Folgen auch die nächsten Generationen zu tragen haben werden.
Zitat von Olga:
Wenn es wirklich so sein sollte, dass Menschen ihre Traumata mit sich rumschleppen, basierend auf Schilderungen von Leuten, die das alles miterlebten, mag ich mir gar nicht vorstellen, was mit den Kindern aus Syrien und anderswo in Zukunft psychisch geschehen wird, die in ihrem jungen Leben bisher fast nichts anderes erlebten als Krieg, Bomben und Grausamkeiten. Olga
Weiterhin gibt es therapeutische Verfahren, die eine Heilung möglich machen und so den Teufelskreis der transgenerationalen Traumaübertragung endgültig durchbrechen.
Aber die Dokumentation macht auch klar, dass die psychischen Narben einer Flüchtlingsbevölkerung, die Krieg, Gewalt und Todesgefahr am eigenen Körper erlebt haben, weder schnell verheilen noch nach einer Generation als vergangen abgehakt werden kann. Hier wird ein bewegender Appell vorgetragen, die "Willkommenskultur" auch auf langfristige institutionelle Hilfe und persönliche Anteilnahme auszuweiten.
Kinderseelen, die nur Inferno kennen
Verwaist, vergewaltigt, hungernd und ausgebombt. Was Millionen Kinder in Syrien und auf der Flucht erleben, ist unvorstellbar.
Mane
Eine von vielen Möglichkeiten, ein Trauma zu überwinden:
Man packt die "Narbe" (das Schreckliche) in Gedanken in Geschenkpapier und übergibt sie dem Universum
mit der Hoffnung, zum allgemeinen Wissen beigetragen zu haben. Noch besser ist es, das konkret zu gestalten. Solche Rituale sind kein äusserer Quatsch (hier spricht die einseitige Logik), sondern sie berücksichtigden die innere Seite eines Menschen (hier spricht die Qualität). Wir brauchen beides!
Klüger wäre es dann wohl, sich auf etwas Positives zu besinnen und in die Tat umzusetzen.
Ich regte dies schon an (unter "Märchen") mal im entgegengesetzten Sinne zu "denken", der da wäre, dass wir froh,dankbar und auch demütig sein sollten, seit mehreren Generationen nun im Frieden und Demokratie leben zu dürfen. Dass ein gütiges Schicksal uns hier leben lässt, ohne Hungersnöte, immer längerer Lebenserwartung und bei immer besserer Gesundheit.
Insbesondere wir Frauen können seit einigen Generationen wählen, in welchem Lebensmodell wir leben möchten; wir können studieren, Berufe erlernen, Kinder bekommen oder nicht - die Welt steht uns offen.
Seien wir einfach dankbar und kosten dieses Leben, das sich uns bietet, mit Lust und Freude noch so lange aus, wie es geht. Und äussern wir unsere DAnkbarkeit, dass uns dies alles ermöglicht wird, auch in einer Hilfe für andere, denen es nicht so gut geht wie uns. Olga
jacare4Lieber Udo,
Kann es sein, dass 50 Jahre (und länger) "Aufarbeitung" Tag für Tag, immer wieder, immer drastischer, und von Ereignissen, von denen man überhaupt erst jetzt erfährt, dass es sie gegeben hat, und in immer neuen Varianten, in der Presse, in Erzählungen, im Fernsehen, in Form von Denkmalen, Stolpersteinen, Kranzniederlegungen, Schuldzuweisungen, Besuchen in Gedenkstätten, usw. erst dazu führen, dass Traumata entstehen, die sich so sehr einprägen, dass sie möglicherweise vererbt werden?
was Du beschreibst ist nicht Epigenetik, sondern würde in den Bereich der bewusst betriebenen, kulturellen Erinnerungsarbeit fallen. Dadurch werden Traumata aber nicht erzeugt, sondern abgebaut.
In dem Film, den Mane eingestellt hat, geht es u. a. um epigenetische Vererbung von Traumata. Nur dazu kann ich was sagen. Dies ist ein unbewusster Level. Den Trägern epigentischer Modifikationen auf DNA-Niveau ist es ja nicht bewusst, dass ihre DNA durch traumatische Erfahrungen (eventuell bereits der Vorfahren) modifiziert wurde.
Mane hat einen Thread zur Biologie der Epigenetik bereits verlinkt. Ich schrieb dort sinngemäß (persönliche Bezüge entfernt und Text ergänzt):
Epigenetik = dauerhafte Ein- und Abschaltung von Genen (keine Änderung der Basensequenz)P.S.: Nachdem ich den Film jetzt gründlich angeschaut habe, muss ich gestehen, dass in diesem Film weniger die epigenetischen Mechanismen angesprochen werden, sondern vor allen die unbewusste Verhaltensprägung, die Übertragung von Angstverhalten etc. auf Kinder. Epigenetik ist hier höchstens ein Kanal unter vielen, es gibt auch unbewusstes Lernen.
Oft liest man "Pestizid macht noch die Urenkel krank" oder "Beeinflussen traumatische Erlebnisse wie Kriege wirklich unsere Gene?" etc. Gefragt wird hier nach sogenannten epigenetischen Veränderungen der Erbsubstanz, die an direkte Nachkommen weiter gegeben werden können. Es handelt sich hier nicht um Änderungen in der Basensequenz der DNA, sondern um sogenannte chemische Modifikationen derselben.Epigenetische Vererbung ist ein relativ neues Forschungsgebiet. Besonders bei Säugetieren dauert die Phase der Einflussnahme des mütterlichen Organismus auf die Entwicklung der Nachkommenschaft lange. Hormone und kleine RNAs können beeinflussen, welche Gene in diesen aktiviert und welche inaktiviert werden. Der Phänotyp (das Erscheinugsbild) der Nachkommenschaft wird über Genaktivität und eben nicht nur über die Sequenz der Basen in der DNS bestimmt. Kinder ängstlicher Mütter sind so oft auch ängstlich und haben selbst wieder ängstliche Kinder. Das scheint nicht nur kulturelle Tradition (Erziehung), sondern teilweise eben auch epigenetisch bestimmt zu sein.
Meldungen die "Vererbung von Umwelteinflüssen" über mehrere Generationen beschreiben, sind also nicht abwegig.
Oft wird darin eine Wiederbelebung der Lamarckschen Anschauung von der Vererbung erworbener Eigenschaften gesehen. Das muss aber differenziert betrachtet werden und es gilt leider nicht für unsere Fremdsprachenkenntnisse Meist verschwinden epigenetisch weitergegebene Merkmale auch sehr schnell (innerhalb weniger Generationen) wieder. Sie haben biologisch gesehen allerdings den positiven Effekt die Variabilität der Phänotypen in einer Population zu vergrößern, was deren Überlebenschancen unter schwierigen Umweltbedingungen verbessern kann. Karl
Der Link auf Spektrum.de Angst im Genom ist lesenswert.Zwar steckt im DNA-Text des Erbguts der Bauplan für das Leben. Doch damit dieser überhaupt einen Sinn ergibt, regulieren epigenetische Mechanismen, welche Bereiche aktiv sind und abgelesen werden, damit neue Proteine entstehen, und welche stillgelegt werden, weil ihre Information in der jeweiligen Zelle oder unter den aktuellen Bedingungen nicht benötigt werden. So entscheidet letztlich die Epigenetik über die Funktion von Zellen und Organen, aber auch darüber, ob ein Mensch eher dick oder dünn ist, ob er zu Krankheiten neigt oder ob seine Psyche stabil ist.Das sagt das Gleiche aus, wie ich es oben ausgeführt habe. Wichtig ist letztendlich, welche Gene wie stark in unserem Genom aktiv sind und der Aktivierungsgrad eines Gens kann über mehrere Generationen vererbt werden.
Ich sollte aber anfügen, dass diese Art des Gedächtnisses keine speziellen "Inhalte" wie z. B. "Bilder" spiegelt, sondern quasi physiologische Zustände der Organismen "vererbt" werden. Die Formulierung in Zeitungsartikeln, dass Kriegserfahrungen "vererbbar" seien, ist also sehr reißerisch formuliert. Fest steht jedoch, dass auch die durch den Bombenterror in Kriegen ausgelösten Ängste die Menschen und ihre Nachkommen lange nicht loslassen werden.
Karl
Zitat von Olga:
Natürlich kann jeder über alles sprechen, was ihn bewegt. Nur, was es bringen kann, wenn Leute nach fast 80 Jahren heute noch über einen Krieg sprechen, den sie selbst oft nicht miterlebt haben, bzw. zu klein waren, damit er noch in ihrem Gedächtnis auftaucht. Und sie werden ja sukzessive keine Gesprächspartner mehr finden, mit denen sie sich darüber unterhalten können.....
Wenn es wirklich so sein sollte, dass Menschen ihre Traumata mit sich rumschleppen, basierend auf Schilderungen von Leuten, die das alles miterlebten...
Hallo Olga,
es geht hier in erster Linie darum, dass aktuelle Forschungen zur Stressverarbeitung und Epigenetik belegen, dass traumatische Erlebnisse der Eltern oder Großeltern auf die nachfolgenden Generationen weiterwirken können, auch wenn diese das Grauen nicht miterlebt und die Beteiligten darüber geschwiegen haben. Die Traumata durch die NS-Zeit sind, soweit ich weiß, am ehesten bei den Holocaust-Überlebenden untersucht und dokumentiert worden. Die Traumatisierungen betrafen ein unvorstellbares Leiden durch Konzentrationslagerhaft, Folter, medizinische Experimente, den Verlust vieler Angehörige ect. – da waren die Einwirkungen auf die nächsten Generationen sehr massiv.
Dass auch die nächste Generation unter den Folgen eines Kriegstraumas leidet, auch wenn sie selbst nichts Traumatisches erlebt hat, ist für mich auch aus anderen Gründen nachvollziehbar. Schließlich wurde sie von traumatisierten Müttern/Vätern/Lehren u.a. großgezogen.
Mane