Anthropologie / Psychologie Charakter und Begabung bei der Geburt vorbestimmt
@lupus,
so jetzt nehme ich mir Zeit, ausführlich auf den Artikel in GEO, das Interview mit Robert Plomin, zu antworten. Ich stütze mich dabei nicht nur auf diesen GEO Artikel, sondern auch auf das neueste Buch "Blueprint: How DNA Makes Us Who We Are" von Plomin.
Zunächst einmal finde ich es sehr gut lupus, dass Du dieses Thema eröffnet hast, denn es geistert derzeit durch die Medien und wird durch neue, meist völlig unverdaute molekulargenetische Ergebnisse befeuert.
Zunächst: Ich bin selber Genetiker und es liegt mir fern, die Bedeutung der Gene herunterzuspielen. Ich erinnere mich daran, dass ich bei Studentenparties in den 70er Jahren immer persönlich von Geisteswissenschaftlern angegriffen wurde, wenn ich die Bedeutung von Genen auch für unser Verhalten betont habe. Das Mainstreamdenken unterliegt nämlich Moden und damals war es verpönt, den Genen eine wichtige Rolle zuzugestehen. Wie das aber so ist mit Moden, sie ändern sich und heutzutage hat das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen und ich sehe mich aus wissenschaftlichen Gründen nun dazu aufgerufen, die "genetische Euphorie" auf den Boden der Fakten zurückzuholen.
Plomin ist einer der Protagonisten einer sogenannten "neuen Genetik". Leider ist er von seinen Ergebnissen so begeistert, dass er bei seinen öffentlichen Äußerungen und in seinen Büchern sie auch noch überinterpretiert, wohl weil dies deren Stellenwert erhöhen soll. Schauen wir uns an, worum es im Detail geht:
1. Technologische Durchbrüche ermöglichen es heute, Millionen von Menschen genotypisch zu charakterisieren. Ich erinnere daran, dass ich mein eigenes Genom für rund 100 Dollar habe sequenzieren lassen, Private Genomanalyse - ich habe es gemacht.
2. Die billige Sequenzierung, aber auch die Verwendung von Mikrochips zur genotypischen Spezifizierung haben es ermöglicht zu fragen, ob in einer untersuchten Population (z. B. bei Briten auf der Insel) sich Menschen mit vielen Jahren Schulbildung von solchen mit wenig Jahren Schuldbildung genetisch unterscheiden. Gemessen wird hier die individulle Verteilung sogenannter SNPs, das sind Punktmutationen, in denen sich Menschen unterscheiden.
3. Herausgekommen ist, dass es keine Intelligenzgene im früher vermuteten Sinn gibt, sondern dass SNPs in Tausenden von Genen eine signifikante Korrelation (positiver oder negativer Natur) z. B. mit Schulerfolg etc. aufweisen. Nach den eigenen Worten von Plomin war die höchste Korrelation eines einzelnen SNPs nur 0,03% (sein Buch Blueprint, seite 129). Statistische Signifikanz haben solch winzige Korrelationen nur, weil inzwischen Millionen von Genomen ausgewertet werden können.
4. Aus der Vielzahl der SNPs, die signifikant zu einem Merkmal beitragen, kann nun aber ein polygenetischer Score ausgerechnet werden, der eine gewisse Vorhersage über die Ausprägung eines Merkmals erlaubt. Nach Aussage von Robert Plomin selbst ist derzeit der beste polygenetische Score derjenige für die Körpergröße. Mit dessen Hilfe lassen sich ganze 17% der Varianz für die Körpergröße in der untersuchten Population erklären (Plomin Blueprint, Seite 139). D. h. 83% der Unterschiede in der Körpergröße (eigentlich der Varianz) sind durch andere Faktoren erklärbar, u. a. gute Ernährung oder Mangelernährung, Hormone im Fleisch oder das Fehlen davon etc.
5. Der polygenische Score für Schulerfolg ist noch niedriger. Wollen wir also, dass ein genetischer Test mit solch geringer Prognosekraft in Zukunft verwendet wird, Babies gleich in Schubladen einzusortieren?
Nun zu den konkreten Aussagen von Plomin in seinem Interview:
Schon bei der Geburt sind Charakter und Begabung vorherbestimmt, sagt der Verhaltensforscher Robert Plomin.Das ist das erste Beispiel, das zeigt, dass Plomin seine wissenschaftlichen Ergebnisse überhöht. Es gibt eine niedrige Korrelation (polygenetischer Score von knapp über 10%). Die genetischen Daten lassen also einen großen Freiraum.
Robert Plomin:Das ist nun in Bezug auf die Intelligenz so einfach falsch. Das ist nachlesbar bei Fischbach und Niggeschmidt (Springer Verlag 2016, Seite 26):Wir haben im Nachfolgenden dann auch dargelegt, dass es tatsächlich zwei Arten von "Ähnlichkeiten" gibt und dass das insgesamt deutlich höhere IQ-Niveau der Adoptivkinder zur Vergleichsgruppe bei der ausschließlichen Betrachtung der IQ-Korrelationen zwischen leiblichen Eltern mit Adoptivkindern und Adoptiveltern mit Adoptivkindern einfach unter den Tisch fällt. Das mittlere IQ-Niveau der Adoptivkinder ähnelt jedoch sehr dem mittleren IQ der leiblichen Kinder der Adoptiveltern. Es scheint, dass der sozioökonomische Status der Adoptiveltern und der Stellenwert, den sie der Bildung beimessen, ein sehr wichtiger Entwicklungsfaktor für Intelligenz ist.
Dabei konnten wir schon in den 1970er und 1980er Jahren zeigen, dass Adoptivkinder nicht ihren Adoptiveltern ähneln. Stattdessen gleichen sie den leiblichen Eltern – nicht nur äußerlich, auch in Intelligenz und Charaktereigenschaften, obwohl sie ihnen niemals im Leben begegnet sind.
Auch andere Äußerungen von Robert Plomin halte ich nur für ärgerlich:
Robert Plomin:Meine Zweibeinigkeit kann er nicht meinen, denn die ist ausschließlich genetisch vorbestimmt. Wenn er aber meine Intelligenz meint, dann ist diese Aussage ebenso eines Wissenschaftlers unwürdig. Er bezieht sich nämlich auf die sogenannte "Erblichkeit" ("Heritabilität), mit der der genetisch verursachte Varianzanteil z. B. aus Zwillingsstudien geschätzt werden kann. Je nachdem, in welcher Gruppe man aber den genetisch verursachten Varianzanteil messen würde, nimmt er gruppenspezifische Werte an.
Wir wissen heute, dass mindestens 50 Prozent jeder Eigenschaft schon bei Geburt in unseren Genen liegt.
Beispiel: Wie groß ist der genetisch verursachte Varianzanteil (die "Erblichkeit") eines Merkmals bei genetisch identischen Vierlingen?
Antwort: Die Erblichkeit eines Merkmals bei den Vierlingen wäre null, da sie genetisch identisch sind. Alle ihre Merkmalsunterschiede wären umweltbedingt (wobei diese "Umwelt" bereits in der Gebärmutter beginnt).
Plomin verwechselt in obiger Aussage - und nicht nur hier - eine Aussage zu den Unterschieden in einer getesteten Gruppe mit der Entwicklung des Merkmals bei einem Individuum. Das ist einfach für einen Fachmann unverzeihlich dumm!!
Robert Plomin:Ohne die Erziehung meiner Eltern wäre ich ein anderer Mensch. Zwar verneine ich nicht, dass ich auch Anlagen von beiden Elternteile in mir verspüre (und diese oft im Streit miteinander liegen, z. B. die Gelassenheit meines Vaters und die unüberlegte Spontaneität meiner Mutter), aber auch diese wurden nicht nur über die Gene, sondern auch über die Anschauung übertragen.
"Erziehung macht Sie im Kern nicht zu dem Menschen, der Sie sind."
Auf was für eine Welt würden wir uns zubewegen, wenn wir Plomin glauben würden? Eltern hätten keine Verantwortung mehr für ihre Kinder über den Zeugungsakt hinaus. Babies würden aufgrund polygenetischer Scores mit geringer Vorhersagekraft einsortiert in Konditionierungsgruppen. Da Eltern arbeiten sollen (immerhin werden die Arbeitskräfte knapp) würden die Kinder sehr früh in Kinderhorte einsortiert und ihr Lebensweg aufgrund ihrer genetischen Typisierung vorgeplant.
Völlig außen vor gelassen habe ich bisher die Kriterien, nach denen selektiert werden soll. Wie wichtig dies aber ist und dass ein polygenetischer Score von diesen umweltbedingten Selektionskriterien abhängig ist, also keineswegs "reine Genetik" darstellt, möchte ich auch noch erwähnen:
Polygene Scores erfassen Korrelationen und keine Kausalbeziehungen. Warum z. B. könnte eine genetische Mutation sich negativ auf die Intelligenz auswirken? Ist da die Umwelt immer unbeteiligt?
Es gab einmal Zeiten und Lokalitäten, da wurden Menschen mit roten Haare diskriminiert (manchmal sogar verbrannt). In Afrika haben Albinokinder einen schweren Stand. Nehmen wir rein theoretisch einmal an, irgendein durchgeknallter Politiker würde Menschen mit roten Haaren (oder Hakennase) von der Schuldbildung ausschließen, ihre Intelligenz-Entwicklung würde deshalb geschädigt werden. Schon wären Mutationen, die sich auf die Haarfarbe (oder die Hakennase) auswirken negativ mit dem IQ korreliert.
Es gäbe noch soviel zu schreiben, aber der Text ist leider für Viele wohl schon jetzt zu lang. Deshalb antworte ich lieber auf Fragen, als jetzt noch mehr zu schreiben.
Ich hoffe, die Leser werden zumindest nachdenklich. Wir entwickeln uns und unsere Eigenschaften. Die Gene lassen viel Spielraum und wir entfalten uns mit und in der Umwelt. Ohne soziologische Eltern und ohne Erziehung blieben wir auf dem Status eines Kaspar Hausers.
Karl
Danke Karl, auf dieser Ebene kann ich natürlich nicht mitargumentieren und ich habe von Plomin außer diesem Interview nichts bewusst gelesen.
Für mich bleibt trotz aller mathematischen Überlegungen die einfache Frage welchen Anteil die Gene an der Entwicklung eines Menschen haben.
Ich wills mal als eine Anlage bezeichnen.
Ich bin in Ermangelung von Eltern bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen.
Sie waren liebe einfache bodenständige Menschen und hatten keine Bibliothek.
Schon aus finanziellen Gründen wäre meinem Großvater nie ein Studium für mich in den Sinn gekommen.
Ich war nach Lehre, Geldverdienen und Studium immer der Ansicht dass alles was ich war aus mir selbst gekommen ist.
Für mich glaube ich also, dass meine Anlagen und die Anlage zu deren Nutzung bei der Geburt vorhanden waren.
Das meine Verhältnisse ( die Umweltbedingungen) diese Nutzung ermöglichten ist klar aber ohne die Anlagen ohne Wirkung.
Zur Ererbung dieser Voraussetzungen fällt mir auf, dass die ja anhand der Verschiedenheit von Geschwistern sehr variabel sein soll und ist.
Etwas ab vom Thema:
Über meine Vorfahren habe ich eine interessante Tatsache , die nicht so viele für sich in diesem Umfang kennen werden .
Ab meinem Großvater väterlicherseits waren bis 1475 (!) alle Männer Bergleute.
lupus
Danke für den Beitrag Phil.
Lieber Lupus,
ja, wie ich schrieb, unsere Gene sind wichtig, aber sie sind ohne die richtige Umwelt eben auch nichts (und das beschränkt sich nicht auf die Notwendigkeit von Sauerstoff. Wir wissen auch, dass Babies ohne Zuwendung, selbst wenn sie gefüttert werden, sterben. Dazu gab es grausame Versuche). Ich wehre mich dagegen, dass "Gene" und "Umwelt" gegeneinander ausgespielt werden, so als würden die richtigen Gene allein alles richten. Das ist eben nicht der Fall und Vieles, was dazu gesagt wird, ist einfach falsch.
Erbe und Umwelt formen uns gemeinsam. Da ist das Video von Frau Mai m. E. hilfreich, um das deutlich zu machen.
Karl
Ich erinnere mich noch an meinen Biologie-Unterricht, als wir zur Vererbungslehre kamen. Eine komplizierte Sache ist das, alles mögliche kann sein oder auch nicht. Wir berechneten, wie wohl die eigenen Kinder mit diesem oder jedem Schulfreund werden würden
Wer z.B. viele Kinder hat und auch mit Geschwistern aufgewachsen ist, weiß, dass nix von Geburt aus geregelt ist. Jedes Kind, jeder Jugendliche ... Erwachsene ist und wird anders. Nicht mal die ersten Jahre der zusammen lebenden Kinder verlaufen nach dem gleichen Erziehungsmuster. Jedes Familienmitglied hat seine eigene Welt und ändert sich mit ihr.
LG Jil
Zwei Anregungen zu diesem Thema - beim schnellen Durchscrollen fand ich sie nicht schon vorhanden.
Die erste Anregung ist ein Video aus dem Schweizer Fernsehen.
https://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie
Thema Tatort Genom
Die zweite Anregung ist ein Buch von Johannes Huber "Der Holistische Mensch"
....ich hol es mal auf die Laienebene - jeder, der sich intensiver mit Hunden beschäftigt und sogar züchtet oder gezüchtet hat und der dies verantwortungsvoll macht, der verpaart gesunde Hunde nicht nach Farbe sondern nach Charaktereigenschaften und Wesen. Welpen werden danach durch entsprechende Sozialisierung geprägt - so kann man zum Beispiel schon nach 12 Wochen sehen, welcher Welpe , zB. bei Hütehunden oder Treibhunden, die besten Anlagen dafür hat oder welcher als Behindertenhund oder Blindenhund oder Suchhund geeignet sein wird - ein Hütehund, der zu starken Jagdinstinkt, wird man nicht zur Bewachung einer Herde einsetzen und ein zu tollkühner wird kein Blindenhund werden können.
Die wesentlichen Grundlagen müssen also in den genen vorhanden sein.
Da sind wir sicher nah beieinander.
Mich störte an dem Video dass Frau Mai in der Überschrift "Herkunft" schrieb was doch nicht gleich Anlagen oder Gene ist und eine andere Zielrichtung andeutet.
lupus
@woschi
es geht mir nicht - ich schrieb das - um die Verneinung genetischer Unterschiede zwischen Menschen. Die sind existent und notwendig, um eine Population widerstandsfähig gegen Veränderungen der Umwelt zu machen. Zudem ist Vielfalt der Talente für eine Gesellschaft mit Arbeitsteilung positiv. Nicht jeder supertalentierte Uhrmacher wäre auch als Politiker geeignet oder als Journalist.
Mir geht es darum deutlich zu machen, dass jedes Talent gefördert werden muss - und Förderung bedeutet eben die Schaffung vielfältiger Umwelten. Zu sagen, Erziehung sei ohne Effekt, ist gefährlicher Unsinn.
Der Flynn-Effekt, der zeigt, dass sich die Intelligenz, wie sie von IQ-Tests gemessen wird, seit der industriellen Revolution durch die Bildungsexplosion dramatisch verbessert hat, zeigt das.
Warum unsere IQs höher sind als die unserer Großeltern:
Das ist ein toller Vortrag eines charismatischen Redners mit deutschen Untertiteln. Es lohnt sich wirklich die Mühe, ihm bis zum Ende zuzuhören.
Karl
Grübel: Gibts eigentlich auch Gene, die alleine rumspazieren?