Zweizweiunddreißich
Ich musste schmunzeln, als ich ihn wahrnahm. Er schien ein „feiner“ älterer Herr zu sein in seinem grauen Anzug mit Krawatte, groß und schlank, die Haare sorgfältig nach hinten gekämmt. Aufmerksam auf ihn wurde ich durch die Art, mit der er seine Einkäufe auf das Kassenband legte. Es schien, als würde er einer gewissen Ordnung folgen, denn das eine oder andere wurde umsortiert und hin und her geschoben. Er wirkte konzentriert und zwischendurch schien er zu überlegen.
Ich hatte meinen Einkauf wie üblich systemlos auf dem Laufband hinter dem seinen verstreut – so, wie ich ihn aus dem Wagen genommen hatte. Das ging schnell und so war Zeit genug, den Herrn zu beobachten. Er selbst schaute mich nicht an, aber meine „Ordnung“ schien ihm nach einem kurzen Seitenblick doch ein Stirnrunzeln zu verursachen, das ihn nötigte, den Warentrenner zwischen unseren Einkäufen mit feingliedrigen Händen sorgfältig korrigierend zu verschieben, so dass der genau mittig lag. Hundertprozentig.
Innerlich schüttelte ich mit dem Kopf. Das aber nur kurz, denn jetzt war er dran. Nun wollte ich doch gerne wissen, wie er seine sorgfältige Art in der Zusammenarbeit mit der Kassiererin fortsetzte, die schon anfing, die Waren über den Scanner zu ziehen, während er noch den Einkaufswagen herumschob, um ihn korrekt in der Bucht hinter der Kasse zu platzieren. Doch er griff mit ruhigen Bewegungen zu.
Die Kassiererin schien ihn zu kennen, denn sie legte Pausen ein und schob ihm Einiges entgegen (er schien sie im Laufe der Zeit gut erzogen zu haben). Tatsächlich landeten alle Waren in der offensichtlich richtigen Ordnung stresslos in seinem Einkaufswagen. Dann zog er eine Brieftasche aus der Brusttasche seine Sakkos und hielt der Kassiererin einen scheinbar gebügelten Zwanzigeuroschein entgegen, den sie nahm.
Lächelnd schaute sie ihn an und er erwiderte fragend ihren Blick.
„Zweizweiunddreißich,“ sagte sie, „ich bekomme noch zweizweiunddreißich.“
Irritiert schaute er erst sie an und dann konsterniert in seinen Einkaufswagen.
„Wollen Sie etwas zurückgeben?“, nach kurzer Pause.
Die Schlange hinter mir schien unruhig zu werden, und der Herr wirkte ratlos für einen Moment. Gerade war ich bereit, ihm die „zweizweiunddreißich“ anzubieten, als ihm eine Idee kam: „Karte! – Karte geht doch auch, oder?“
„Ja sicher, kein Problem.“ Sie reichte ihm den Zwanziger zurück.
Wieder wühlte er in der Brusttasche seines Sakkos, verstaute den Zwanziger in der Brieftasche, steckte sie zurück und förderte einen silbernen Kugelschreiber hervor, knipst ihn schreibbereit und schaute sie dann abwartend an.
„Ja?“ Ihre Frage beantwortete er mit „Muss ich nicht einen Bon unterschreiben?“
„Genau! Aber vorher brauche ich ihre Karte.“
„Ach ja. Verzeihen Sie.“ Und wieder der Griff in die Brusttasche, Brieftasche aufgeklappt und dann ruhig und unaufgeregt nach der Karte gesucht, die zwischen vielen anderen steckte. Irgendwann zog er sie hervor und reichte sie der Kassiererin.
„Die müssen Sie hier hineinschieben,“ sagte sie und drehte den Kartenautomaten ihm zu.
Den Schlitz traf er nicht sofort, doch dann ging’s irgendwie, und abwartend stand er dann da.
„Den Chip bitte nach vorne,“ sagte die Kassiererin, „Magnetstreifen nach unten.“
Er zog die Karte heraus, drehte sie mehrfach, beugte sich vor, friggelte sie wieder in den Schlitz hinein und atmete dann hörbar aus.
„Danke. Und nun den grünen Knopf drücken und den Pin eingeben.“
Wieder beugte er sich vor, schien den grünen Knopf zu suchen, den er dann engagiert drückte, um hernach triumphierend auf die länger werdende Schlange hinter mir zu schauen.
„Und jetzt den Pin eingeben, bitte.“
„Pin …?“
„Ja, bei Einkäufen über zwanzig Euro müssen sie ihren Pin eingeben.“
Er überlegte kurz, doch dann schien der Groschen gefallen. „Moment,“ sagte er und griff in die Brusttasche.
„Moment,“ sagte sie, beugte sich vor zum Mikrofon, drückte die schwarze Taste und: „Eine zweite Kasse bitte,“ schallte es durch den Raum.
Während die Kassenschlange hinter mir sich in wildem Durcheinander zur zweiten Kasse aufmachte, zog er seine Brieftasche hervor, durchfummelte sie bis zu einem versteckten Fach und zog von dort einen mehrfach gefalteten Zettel hervor. Doch erst wurde die Brieftasche wieder eingesteckt, dann der Zettel auseinandergefaltet und geglättet. Allerdings schien die Schrift darauf etwas undeutlich, denn er schob seine Brille auf die Stirn und berührte mit der Nase seinen Zettel. „Ah ja“, raunte er. Der Zettel wurde wieder zusammengefaltet und die Brieftasche herausgeholt, während die letzte Kundin hinter mir begann, ihre Einkäufe vom Warenband herunter in den Einkaufswagen zu räumen.
Doch nun beugte er sich vor, schien mit dem Zeigefinger die richtige Taste zu suchen, und sah dann mich!
Ich stand ja eigentlich „nur so“ da, relativ teilnahmslos. Dennoch schien er sich beobachtet zu fühlen und warf mir einen misstrauischen Blick zu. Dann legte er eine Hand über das Kopfende der Tastatur, näherte sich dieser mit den Augen, ließ seinen Finger wie einen Adler darüber schweben und tippte dann – nach dem er mehr oder weniger zu sich selbst „drei“ gesagt hatte – kräftig drauf.
Ein kurzer Blick zu mir, ob ich auch nicht zuguckte, dann „vier!“ und tipp. Das wiederholte er dann mit „null“ und „sieben“ und richtete sich dann, tief ausatmend – mit einem langen Blick auf mich – wieder auf.
Ich hatte nix gesehen, ehrlich!
Nebenan die Schlange an der Kasse wurde kürzer und kürzer. Noch überlegte ich …
„Bitte noch bestätigen,“ die Stimme der Kassiererin.
„Ah ja,“ vorgebeugt, den Finger kurz kreisen lassen und dann zack! Energisch getippt und die Brille wieder über die Augen gezogen.
Dann dieser kurze Moment beklemmenden Wartens, bis der Drucker sich leise ratternd in Bewegung setzte.
Besser gesagt: setzen sollte. Aber es piepte nur.
„Sie haben die Pin falsch eingegeben.“ Die Kassiererin schien immer noch ruhig, während sich bei mir nicht nur ein Harndrang bemerkbar machte, sondern auch erste Anflüge von Panik deswegen.
Ich begann zu beten …
„Das kann nicht sein,“ schien er den Automaten für kaputt zu halten. Aber es nützte nix, er musste da nochmal durch. Wieder der joviale Griff in die Brusttasche, der Blick auf den auseinandergefalteten Zettel mit hochgeschobener Brille und „stimmt!“
Dann wieder Ordnung hergestellt, Adler-Suchsystem aktiviert und ausgeführt und: „Drei“, „vier“, „neun“ „sieben“ und „pffrrrt“.
Wieder dieser Moment … Doch dann ratterte der Drucker los.
Ein tiefer Seufzer löste sich in mir. Ich hatte nicht mehr geglaubt, dass ich das noch erleben darf.
Nun noch „Ihre Karte noch …“, dann der Griff in die Brusttasche … Brieftasche, Karte, zum Abschluss die Brille über die Augen und mir einen triumphierenden Blick zugeworfen. „Dankeschön. Auf Wiedersehen!“, schob er dann seinen Wagen von dannen.
Als die Kassiererin begann, meine paar Sachen durch den Scanner zu ziehen, legte ein junger Mann nach mir seine Sachen aufs Band, schaute mich strahlend an und bemerkte: „Toll, diese neuen Schnellkassen, ne?“
Kommentare (11)
@Matthias M.
Sie hat ja auch schon alle Arten von Kunden erlebt Matthias!👍👎
Mich verwundert stets, wenn die Silberdamen erst an der Kasse umständlich die einzelnen Cents zusammen suchen.
Im Supermarkt in NL gibt es eine Sonderkasse für die langsamen und jene, die auch mal ein paar nette Worte tauschen wollen!😉
Tja,Ernu, wer weiß, wer weiß, wenn wir dann einst............., hast du gut beobachtet, wie stets, mit Zwinkergruß, Frauke.😉👴
Herrlich! Solcherart Studien mache ich im Alltag gern, egal wo es ist, selbst wenn sie mich Zeit kosten, ich habe ja Zeit und auch Geduld - so wie du, Ernu.
Wirklich, da verpassen die Online-Besteller etwas. Ich sollte Online-Besteller*innen sagen, dem Trend folgend.
KarinIlona
@KarinIlona
Studiert hatte ich dabei eigentlich die Kassiererin, deren Geduld und Freundlichkeit ich bewundernswert fand. Ich hab' ihr die Geschichte dann "geschenkt"
@Ernu
Das ist ja interessant, so ein Geschenk bedeutet in diesem Zusammenhang eine Auszeichnung für freundlichen, verständnisvollen Umgang mit dem Kunden.
Das hast du gut gedacht/gemacht!
Ja, solche "Exemplare" sieht man zum Glück nicht mehr sehr oft aber wenn...dann kann das echt Nerven kosten.
Es ist für mich ein Beispiel dafür, dass gerade ältere Männer oft dermaßen verunsichert scheinen und wohl auch sind und ich mich frage, warum ist das so.
Vielleicht kaufen sie eben nicht oft ein und wissen garnicht mehr, WIE das so geht, eben auch einfacher mit Karte z.B...aber das er auch die Geheimzahl in der Börse hat, oh oh...für manch Gauner ein gefundenes Fressen.
Nun ja, man kann es ja nicht ändern, sollte nur tief durchatmen !
Kristine
Lieber Ernu,
dieser reale Einkauf in einem Geschäft, der ja mit vielen Eindrücken, Wahrnehmungen und Empfindungen verbunden war, könnte man auch als eine Art Erlebnis-Einkauf einstufen. Eigentlich sollte man ja alle anderen Konsumenten, die sich nur für ein langweiliges Internetshopping entscheiden bedauern, denn sie sind arm dran…, was denen wohl alles so entgeht?😉
Viele Grüße
Rosi65
@Rosi65
Ich beobachte manchmal gern andere Menschen, überlege und spekuliere. Meistens lieg' ich wohl falsch dabei, aber Spaß macht es immer 😅
Menschen, pardon, Männer gibt's, die gibt's nicht, sage ich mal ganz salopp und bewundere Deine herrlich ausführliche Beschreibung der Aktion.
Mit einem Lachen und herzlichem Gruß von
Andrea
@Muscari
Es sind nicht nur Männer. Frauen haben nur eine andere Art. Bei Gelegenheit erzähl ich mal von meiner "Oma" ;-)
Wenn es mir vergönnt ist in meinem Stammgeschäft auch noch meine "Lieblingskassiererin" vor mir zu haben, dann vereinbaren wir immer ein "Rennen"
Auf die Plätze ... Fertig ... Los ...!!!
(Sie gewinnt immer)
😓 ... 😅