ZNS, lediglich ein mechanisches Uhrwerk ?


‚Freiheit‘ und ‚Wille‘, zunächst einmal zwei Konstrukte unseres Selbstbildes.
Solange wir psychisch gesund sind, und kein eifriger Wissenschaftler, der etwas in einigen Gehirnes herumgestochert hat, uns einzureden versucht, daß dies lediglich Illusionen seien, sind wir uns sicher: wir haben und kennen unseren Willen und erleben uns derart, daß wir über unser Tun einigermaßen frei entscheiden können.

So gesehen besteht eigentlich kein Anlaß, hieran zu zweifeln, und die Frage müßte eher lauten: wie kommt es , daß diese persönlich erfahrbaren Fähigkeiten überhaupt in Frage gestellt werden. Da zeigt es sich dann auch schnell, daß sie in langen, kulturgeschichtlichen Prozessen in andere Spären projeziert wurden, philosophische, religiöse, psychologische, und neuerdings auch in neurobiologische, und dort mit anderen Erfahrungskonstrukten, wie Determinismus und Automatismus, kollidieren und zu den bekannten Verdrießlichkeiten führen.

Ein weiteres kommt noch hinzu: auch unser Selbstbild ist nicht ausschließlich das Ergebnis von Selbstwahrnehmungen, sondern seinerseits via unzähliger Sozialisationseinflüsse von kulturgeschichtlichen Errungenschaften geprägt. Die Rückkoppelungen werden deutlich, und die Lösung der Frage nach einem freien Willen schier unmöglich.

Nun hat Karl in seinem Eingangsbeitrag angeführt, daß sein Vortrag die Freiheit des Willens unter neurobiologischem Aspekt behandeln soll, eine Einschränkung, die die Komplexität dieser Frage deutlich reduziert. Gegenstand der Neurobiologie ist die Beziehung zwischen dem Nervensystem und dem menschlichen Erleben und Verhalten. Das Nervensystem ist Teil des Gesamtorganismus mit der Aufgabe, all die unzähligen, dort ablaufenden Vorgänge zu steuern und koordinieren, damit das Überleben zu sichern.

Bereits genannt wurden einige Vitalfunktionen, wie der Schlaf-/Wachrhythmus, weitere sind Atmung, Herzschlag usw. Diese laufen vorwiegend automatisch ab, können teilweise auch willentlich modelliert werden. Freier Wille ist wenig relevant – ganz im Gegenteil: die hier zu beobachtende Automatisierung ermöglicht erst höhere Funktionen und Handlungsmöglichkeiten.

Hier erscheint es sinnvoll, zwei Aspekte aufzugreifen, die Karl inzwischen bereits mehrfach angesprochen hat: versucht man, das Funktionieren des Nervensystems zu beschreiben, dann erweist es sich als sinnvoll, die einzelnen Funktionen nicht einfach nebeneinander zu stellen, sondern sie in einem hierarchischen Modell mit aufsteigender Komplexität darzustellen. Die einfacheren Funktionen bilden die Voraussetzung für die höheren, können jedoch, der Emergenzkobold läßt grüßen, die Eigenschaften der letzteren nicht vollständig vorhersagen.

Auf unterster Ebene stehen die Nervenzellen, deren Aktivität auf elektrischen und chemischen Vorgängen beruht. Diese sind zu größeren Funktionseinheiten, sowie mit unzähligen Körperrezeptoren und -effektoren (endogenen Drüsen und Muskeln) zusammengeschlossen, die in anatomischen und physiologischen Modellen abbildbar sind. Die auf den nochmals höheren Ebenen zu erkennenden Komplexe und Phänomene sind schließlich am ehesten mit psychologischen Begriffen und Modellen beschreibbar.

Zu fragen bleibt jedoch, inwieweit das Modell der Kausalität auf diese Funktionen sinnvoll anwendbar ist. Auf unterer Ebene wohl noch zufriedenstellend: wird eine Nervenzelle von ihren Nachbarinnen nur ausreichend intensiv gekitzelt, dann feuert sie auch zwangsläufig. Auch auf der höheren Ebene der Reflexe paßt das Schema noch: wird vom Auge ein schnell herannahender Umriß bemerkt, geht unwillkürlich die Klappe zu. Schon bei den Vitalfunktionen wird es schwieriger: Wachen oder schlafen läßt sich in relativ weiten Grenzen willentlich steuern, der schließlich auftretende Umschlagzeitpunkt, beispielsweise in Form des gefährlichen Sekundenschlafes, läßt sich nicht exakt vorhersagen.

Bei der Nahrungsaufnahme wird es noch schwieriger: auf niedriger Ebene werden zwar ständig physiologische Parameter (z.B. Blutzucker, Magendehnung, Elektrolyt) überwacht und die Auswertung an andere Nervenzentren weitergeleitet. Sie bedingen jedoch keineswegs Eß-/Trinkverhalten in kausaler Verknüpfung. Werden gerade vorrangig bewertete Tätigkeiten ausgeführt, dann wird Essen oder Trinken zunächst einmal aufgeschoben. Andererseits essen wir häufig, obwohl die erwähnten Indikatoren dies gar nicht bedingen, bei einer Einladung, wenn routinemäßig Vesperpause vorgegeben ist, oder wenn anregende Düfte aus einer Küche oder Backstube angeweht werden. Ein drastischen Beispiel für ein nachhaltiges Vermeiden der Nahrungsaufnahme ist bei Anorexia nervosa oder auch Magersucht zu beobachten. Die deutlichen, physiologischen Mangelindikatoren und die zunehmend sichtbare Abmagerung, nicht selten tödlich endend, sind nicht in der Lage, eine dabei annähernd kausal zu verstehende Verkettung auszulösen. Zwar bestehen die Betroffenen nachhaltig darauf, ihr Eßverhalten in freier Entscheidung zu kontrollieren, es zeigt sich freilich auch, daß dabei eine Reihe von Funktionen beteiligt sind, die sich willentlicher Beeinflussung weitgehend entziehen.

Als kausal möchte ich diese Einflüsse jedoch nicht benennen. Vielmehr scheint dabei ein komplexes und in sich rückgekoppeltes System zur Steuerung des Eßverhaltens an einem kritischen Punkt in eine neue Funktionsweise zu kippen. Statt ‚kausal‘ erscheint mir die Charakterisierung ‚automatisch‘ sinnvoller bei all jenem Verhalten, das ohne die typischen Merkmale, Abwägen möglicher Verhaltensalternativen und bewußtes Registrieren dieses Umstandes, ausgeführt wird. Deutlich wird es wohl beim Trinken: die Elektrolytveränderung erzeugt zunächst ein inneres Mangelsignal. Ist etwas Trinkbares in greifbarer Nähe, erfolgt die Trinkhandlung bei erster Gelegenheit unwillkürlich und automatisch. Anderenfalls wird der Mangelzustand über die Hierarchie zunehmend nach oben weitergeleitet und wird schließlich im Bewußtwerden zum Durst. Nun beginnt man abzuwägen, ob und wann man etwas Trinkbares besorgen will.

Ein sehr breiter Funktionsbereich unseres ZNS (Zentralnervensystems) ist die oft so genannte Informationsverarbeitung: Über die Sinne nehmen wir Umweltereignisse wahr und reagieren darauf. Der größte Teil hiervon läuft ebenfalls automatisch ab, teils durch Reflexe – das Auge schließt unwillkürlich, wenn sich ein Objekt nähert – und durch erworbene Fertigkeiten. Wenn wir hungrig sind und schließlich einen vollen Teller vorgesetzt bekommen, dann erfolgt das weitere erst mal ohne willentliche Kontrolle. Dies erleben wir auch nicht als Freiheitsbeschränkung, weil dadurch Unterhaltung, Zeitung lesen oder Fernsehen gleichzeitig ermöglicht wird.

Eine besondere Bedeutung zeigt auch die Lernfähigkeit, bei der sich der Aspekt, daß Automatisierung keine Einschränkung, sondern erst Freiraum für ‚höhere‘ Tätigkeiten ermöglicht, besonders deutlich zeigt. Wir wurden nicht mit den zahlreichen Bewegungsmöglichkeiten (Krabbeln, Gehen, Rad- und Autofahren, Schwimmen, ein Musikinstrument spielen) geboren, über die wir inzwischen verfügen. Bei all diesen mußten wir zunächst viele hierfür nötige Komponenten mühsam lernen durch Üben. Zunehmend erfolgten diese Tätigkeiten dann automatisch, und unser Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten, sowie unser Aktionsradius wurde dadurch ausgeweitet. Gleiches erfolgte auch bei den kognitiven Fähigkeiten. In der Mathematik lernten wir nicht nur die Litaneien des Einmaleins, sondern zunehmend komplexe Methoden und Rechenweisen, die den Umgang mit vielerlei höheren Herausforderungen erst ermöglichen. Bereiche, die mit ‚Wissen‘ und ‚Erfahrungen‘ bezeichnet werden, sind keinesfalls reine Ansammlungen von Einzelelementen, sondern komplex und hierarchisch organisierte Vermögen, bis hin zu beispielsweise einem Weltbild. Sie werden dabei zumeist gar nicht bewußt erlebt und können zunächst auch nicht benannt werden. Dennoch stellen sie unabdingbare Voraussetzungen für ein schnelles und automatisches Reagieren auf komplexe Herausforderungen dar.

Andererseits sind diese Komplexe aber auch nicht zu einem absolut starren und endgültigen Gefüge verschweißt. Vielmehr stellen sie ein reichhaltiges Magazin dar, aus dem es in der jeweiligen Situation auszuwählen gilt, was zur Bewältigung der jeweiligen Anforderung als das geeignetste Instrument erscheint. Gleichzeitig sind die Inhalte dieses Magazins auch noch durch weitere Lernprozesse erweiterbar und modifizierbar.

Die speziellen Funktionen unseres ZNS, die sozusagen auf höchster Ebene diese Auswahl ermöglichen, haben dabei auch noch das Merkmal, daß sie im Gegensatz zu den unzähligen automatischen Abläufen als frei erlebt werden. Hier liegt eine wesentliche Quelle für das Konstrukt der ‚Freiheit‘.

Hinzu kommt mindestens noch eine weitere: während zahlreiche Funktionen mit äußeren Dingen und Sachverhalten befaßt sind, bilden andere, ebenfalls hierarchisch organisiert, Vermögen, die das innere Geschehen abbilden. Auf höchster Ebene sind sie als ‚Selbstbewußtsein‘ und ‚Selbstbild‘ erfahrbar. Dies ist nun keinesfalls eine überflüssige Dreingabe der Evolution, vielmehr eine enorme Erweiterung: Die meisten von uns benützen hin und wieder eine Motorkutsche und gehen automatisch davon aus, daß diese ebenso automatisch ihren Dienst tut. Bleibt das Luder doch einmal stehen, wird zunächst alles Erdenkliche abgefragt, das in der Vergangenheit dabei abgeholfen hat. Ist man jedoch mit seinem Wissen über Ursachenquellen am Ende und der Abschleppdienst nicht einsatzbereit, kann dieses weitere Vermögen einspringen mit Fragen wie: ‚habe ich tatsächlich an alles gedacht?‘, ‚mich bei der Fehlersuche vorschnell auf eine falsche Annahme festgelegt?‘, ‚muß ich mich zwingend mit diesem Fahrzeug zu meinem Ziel bewegen?‘, Fragen, die ‚Ich‘ beinhalten und das Ziel haben, den Grund für das bisherige Scheitern nicht allein in der Beziehung zu dem äußeren Objekt, sondern auch reflexiv beim ‚Ich‘ zu suchen.

Nun ist diese ausgeführte Erfahrbarkeit des bewußten Entscheidungsvermögens, wie auch des ‚Ichs‘, zunächst eine rein subjektive. Doch im Austausch mit anderen menschliche Individuen ist zu beobachten, daß diese über dieselben Erfahrungen berichten können. Somit bekommen diese Konstrukte einen durchaus auch objektiven Charakter. Entscheidungsvermögen, Wille und Selbst sind dann Beschreibungen für sehr hohe Funktionen des menschlichen Nervensystems.

Die dort ebenso beobachtbaren, funktionswichtigen Automatismen lassen auf niedrigen Ebenen schon mal die Anwendung des Kausalmodells zu. Extrapoliert man dieses Schema auf die Erklärung aller Erscheinungen dieses ZNS, dann verschwinden die Konstrukte ‚ Entscheidungsvermögen, Wille und Selbst‘ zwangsläufig im Bereich der Illusion. Gleichzeitig ignoriert man jedoch damit den eben dargestellten objektiven Aspekt.

diogenes


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Kommentare (3)

teri Vielleicht ist doch alles nur eine Illusion, was unsere Gehirne produzieren.

hmmmmmmmm

Karl Lieber Diogenes,

besonders genossen habe ich Deine Einleitung:
‚Freiheit‘ und ‚Wille‘, zunächst einmal zwei Konstrukte unseres Selbstbildes.
Solange wir psychisch gesund sind, und kein eifriger Wissenschaftler, der etwas in einigen Gehirnes herumgestochert hat, uns einzureden versucht, daß dies lediglich Illusionen seien, sind wir uns sicher: wir haben und kennen unseren Willen und erleben uns derart, daß wir über unser Tun einigermaßen frei entscheiden können.

So gesehen besteht eigentlich kein Anlaß, hieran zu zweifeln, und die Frage müßte eher lauten: wie kommt es , daß diese persönlich erfahrbaren Fähigkeiten überhaupt in Frage gestellt werden. Da zeigt es sich dann auch schnell, daß sie in langen, kulturgeschichtlichen Prozessen in andere Spären projeziert wurden, philosophische, religiöse, psychologische, und neuerdings auch in neurobiologische, und dort mit anderen Erfahrungskonstrukten, wie Determinismus und Automatismus, kollidieren und zu den bekannten Verdrießlichkeiten führen.
Darf ich das auch in Denzlingen zitieren? Im Wesentlichen ist es meiner Sicht ähnlich.

Ich verlinke hier auch einmal zum ursprünglichen Diskussionsthread im Forum, damit der Bezug deines Textes hergestellt wird.

Wichtig ist mir, wie auch Dir, dass jede hierarchische Ebene ihre eigene Sprache benötigt. Es ist einfach nicht hilfreich zu versuchen, höhere Funktionen des Gehirns wegzudiskutieren, weil man zugrundeliegende Mechanismen kennt. Dass nichts außerhalb der Naturgesetze geschieht, ist trivial und nicht geeignet emergente Systemeigenschaften in Frage zu stellen.

Karl
qilin - danke dafür

() qilin

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