Schöne Tage in King of Prussia - Tagebuchnotizen einer USA-Reise


Im Frühjahr 1975 hatte ich mich zu einer dritten Reise in die USA entschlossen, diesmal um Distanz zu gewinnen zu allerlei privaten und beruflichen Turbulenzen, die ich selbst heraufbeschworen hatte. Endziel sollte ein befreundetes Ehepaar sein, an dessen Hochzeit ich im Jahr vorher teilgenommen hatte. Jetzt besaßen die beiden eine Mietwohnung an der „Mainline“ nahe Philadelphia und arbeiteten von Früh bis Spät. Zu ihnen aber wollte ich nicht auf direktem Wege, sondern erst einmal „ins Blaue“ hinein. Erste Station meiner Reise waren die Bahamas, wenig später landete ich, einer spontanen Eingebung folgend, in Kolumbien (siehe meinen Blog „Ein ‚Abstecher‘ nach Kolumbien“), ehe ich schließlich doch mein eigentliches Ziel, King of Prussia bei Philadelphia, erreichte. Der merkwürdige Name des Ortes soll auf eine ehemalige Gaststätte gleichen Namens zurück gehen.


7. Mai (Mittwoch): King of Prussia. Nach 15 Stunden Schlaf mit nur einer kurzen Unterbrechung sieht die Welt wieder anders aus. Zunächst kam Linda, mit der ich lange palaverte, ehe Todd gegen 7 aus der Schule kam. Die Pearsons leben in der „Mainline“, worunter ein Gebiet um Philadelphia herum verstanden wird, in dem sich Wohlhabenheit und das Bewußtsein, zu Amerikas besten Leuten zu gehören, paart. Die Beiden zahlen für das Appartement über 200 Dollar. Abgesehen von der Lage in dieser traurigen, von neugierigen Hausfrauen tagsüber beherrschten Siedlung und der nahen Autobahn, erscheint die Wohnung gerade geeignet für die beiden zu sein. Ein großer Wohnraum „ums Eck“ mit kleiner Küche und zwei weiteren nebeneinander liegenden Räumen, wovon einer als Todds Arbeitszimmer dient, sowie Bad und Abstellraum lassen genügend Bewegungsfreiheit

8. Mai: In „Kingswood“, so heißt die Siedlung hier, macht die Sonne was her. Schon gestern hatte ich den Eindruck einer toten Stadt überwunden, weil die Sonne die Menschen aus ihren Häusern lockte. Ich lese Stefan Zweig „Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“, seine ohne Unterlagen im Exil geschriebenen Memoiren, geschliffen, elegisch, einer Welt der Sicherheit und Beständigkeit nachtrauernd, für die er die Zeit vor dem 1. Weltkrieg hielt. - Ich habe mir vorgenommen, den Rückflug für den 15. Mai zu buchen. Am Freitag nimmt Todd mich in eine seiner Klassen mit, ich soll den Schülern beweisen, daß es leibhaftige Deutsche gibt, Menschen also, die die von ihnen mit viel Mühe gelernte Sprache auch tatsächlich sprechen (so Todds Gedanke). Außerdem soll ich ihnen etwas über Dialekte erzählen. – Ich war in der „Stadt“, ein amorphes Gebilde ohne Zusammenhang, Bürgersteige, leibhaftige Menschen. Ein häßliches Gebilde, ein Konglomerat aus Straßen, Restaurant amerik. Stils, Tankstellen, Hotels und Einfamilienhäusern und einem Spielplatz. Eine in unserem Sinne unwohnliche Stadt, in der die einzelnen sie ausmachenden Elemente zusammenhanglos hingebaut wurden. Welche Bedürfnisse haben die hier wohnenden Menschen? - 10. Mai: Neue Aspekte beim Versuch, den Rückflug früher als gewünscht zu bestellen. Für Mai sind alle Maschinen der „Loftleidir“ ausgebucht. Vorsorglich ließ ich mich für kommende Woche auf eine Warteliste setzen. Es drängt mich nicht zurück, aber noch fast 4 Wochen hier verbringen zu müssen, ist doch keine verlockende Aussicht.

Als „Lehrer“ engagiert

Gestern nahm ich an Todds Unterricht in der Haverford School teil. Diese Schule ist eine private Einrichtung, die Lehrerschaft besteht mit wenigen Ausnahmen aus WASP (White Anglo-Saxon Protestants). Die Schüler sind Kinder wohlhabender Eltern aus der „Mainline“, ein Drittel von ihnen jüdischer Herkunft. Ein paar Feigenblatt-Neger (ich meinte wohl „Alibi-Neger“) sah ich auch darunter. Für jedes Kind müssen jährlich 2500 Dollar Gebühren gezahlt werden. Todd stellte mir die Aufgabe, den Schülern auf ihre Fragen zu antworten, und das funktionierte so gut, daß ich meine Rolle ziemlich erfolgreich spielte und Eindruck hinterließ. Ich konnte einige falsche Vorstellungen korrigieren, so kam zweimal die Frage nach der „sozialistischen Medizin“ in Deutschland. Todd war ganz begeistert, und ich war ganz erstaunt, daß ich auch vor einem Auditorium sprechen kann – das erstemal überhaupt, wenn ich die Auftritte bei Vossschulte nicht berücksichtige (Vorstellung eines chirurgischen Falles während des Studiums). – In „National Geographic“ etwas über Baltimore gelesen. Die englische Sprache! Es erscheinen immer wieder neue Wörter und Begriffe, die mir völlig unbekannt sind. Von der „Beherrschung“ der Sprache bin ich noch meilenweit entfernt. Auch beim Verständnis des gesprochenen Wortes zeigen sich erhebliche Schwächen. – Ich lasse mich bräunen, die Sonne besitzt sommerliche Intensität. Fett werde ich auch, durch gutes Essen, mit dem ich sparsam umzugehen versuche, Wein, Bier.

Ein Freund Waldheims

11. Mai: „Lie-Detectors Tests on Employers spread Among Firms“, The Sunday Bulletin berichtet über zunehmenden Einsatz von Lügendetektoren. Philadelphia, Busbahnhof, 5.20 PM: Den ganzen Nachmitag in der Stadt verbracht, wo ein Volksfest „Way of America“ tausende von Menschen (es sollen 1,5 Millionen gewesen sein) auf die sonnenbeschienene Strecke zwischen City Hall und Kunstmuseum zog. Ich filmte Tanzszenen (Square Dance), Menschen (diese Veranstaltung war ein Auftakt zur 200-Jahrfeier der USA). - 12. Mai (Montag): King of Prussia. Todd ist an seiner Schule mit einem der Lehrer etwas besser bekannt, ein kleiner rotgesichtiger, glatzköpfiger Mann von etwa fünfzig, er gibt Geschichtsunterricht den letzten Klassen und lehrt hier nur, wie Todd meint, um die Zeit auszufüllen, da er vermögend sei und zu arbeiten nicht nötig habe. Diese nicht sehr eindrucksvolle Gestalt sammelt seit Ende des Krieges, den er als Soldat in Deutschland erlebte, Nazi-Trophäen. Er spricht - bei einer Begegnung - in einer derart erschreckenden Distanzlosigkeit von Uniformen Görings, Standarten, Auszeichnungen der Nazigrößen, dem Kaffeeservice Hitlers, daß man davon ausgehen kann, daß diese Sammlung für ihn nicht nur ihrer Rarität wegen Wert hat sondern an eine Bewegung erinnern soll, die der Welt wichtiges und wertvolles Gedankengut vermittelt hat. Wer aber das Nazitum nur in seinen pompösen Ritualen, seinen „Größen“ und deren selbstverliehenen Auszeichnungen und Symbolen wiedererkennt, den muß ich als Verrückten, aber als potentiell gefährlichen Verrückten, aber auch als abgrundtief dumme Kreatur einstufen (der Moralist in mir). Anmerkung: Ich habe seinen Namen vergessen, aber von Todd Jahre später erfahren, dass jener Lehrer in telefonischen Kontakt mit dem ehemaligen Präsidenten Österreichs Waldheim stand. Todd nahm einmal zufällig in der Schule ein Telefonat Waldheims entgegen. Zudem machte er mit Schülern „Exkursionen“ zu Leni Riefenstahl, die er angeblich gut kannte und gerne einmal vögeln würde. – Heute erstmals Avocado gegessen, eine im Äußeren der Birne ähnliche Frucht mit weichem, etwas schmierigen zarten Fleisch, dessen Geschmack „geschmacklos“ ist und doch von einem so spezifischen leichten Aroma, daß man es „wiedererkennen“ müßte. (Nachtrag: Am Samstagabend besuchten wir ein Lokal in Conshohocken, um hier auf Todd’s Geburtstag zu speisen. Es war eines jener „originellen“ Restaurants mit einer das Auge ansprechenden Ausstattung. Die Decke gestaltet nach der Technik von Kirchenfenstern, farbige Figuren, Blätter, Blumen. Dazu passende Lampenschirme, Wände). Anmerkung: Damals wusste ich noch nichts vom Tiffany-Stil, dem wohl die Einrichtung nachempfunden war.

13. Mai, Philadelphia, an der City Hall: Ich habe wieder einmal einen meiner Stadtstreifzüge gemacht. Zunächst hielt ich mich kurz im Innenhof der City Hall auf, um die Angebote für Ärzte des PHS (Public Health Service) zu studieren. Dann ging ich die Market St. südwärts, überquerte den Schuykill-Fluß und bog dann zur Drexel-Universität ab. Hier hoffte ich einen Buchladen mit medizinischer Literatur zu finden, aber vergeblich. Dafür kaufte ich Thoreaus Schriften und ging dann durch die Chestnut St. zurück zum Zentrum. Es gibt noch intakte Stadtarchitektur, wohl aus der Zeit nach der Jahrhundertwende.

Ein brutales Verbrechen

14. Mai: Newton Square (ein Einkaufszentrum). In dieser Gegend halte ich mich heute Morgen auf, weil ich Todds Auto zur Inspektion gefahren habe. Nach einem kleinen Spaziergang vorbei an schmucken, sauberen Anwesen, denen aber wiederum die Menschen zu fehlen scheinen, sitze ich auf einer Bank (sicherlich auf einer „privaten“) und sinniere. – Zur Zeit erregt ein Verbrechen die Leute hier. In Conshohocken wurden zwei Mädchen in einen Lkw-Anhänger eingesperrt und dieser angezündet. Eines der Mädchen verbrannte, das andere konnte mit schweren Verbrennungen gerettet werden. Bisher ist das Motiv völlig unklar, zumal beide Mädchen die mutmaßlichen Täter kannten, aber angeblich vergewaltigt (raped) wurden. Die hiesigen Zeitungen berichten täglich auf das Ausführlichste darüber, und sie haben täglich irgendwelche Korrekturen der vorangegangenen Berichte vorzunehmen, denn ständig ergibt sich etwas neues. Eine spannende Geschichte, weil sie wohl auch spannend dargestellt wird. – King of Prussia - Neben Zweigs Buch lese ich noch „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers und Brechts „Kalendergeschichten“, und natürlich die Zeitungen, immer flüssiger, leichter. Vorhin habe ich ein von Linda vorzügliches „Stew“ gegessen, eine Art Fleischeintopf mit Bohnen, Kartoffeln und verschiedenen anderen Gemüsen, dazu sehr pikant gewürzt. Linda ist eine „perfekte Hausfrau“, sie kocht ohne großen Aufwand schmackhafte Gerichte, macht die ganze Hausarbeit ohne viele Aufhebens. Nebenbei schreibt sie für Todd noch Texte, die er in fleißiger Arbeit nach der Schule für den Unterricht zusammenstellt. - 15. Mai: Die sonnigen Tage, wie gestern und heute, verbringe ich größtenteils auf dem Balkon. Die Bewegungsarmut und das gute Essen lassen mein Unterhautfettgewebe zunehmen. Und ich bin ungeduldig. Nicht daß es mich mit großer Kraft zurückzieht, aber nicht zu wissen, wie sich „die Verhältnisse“ entwickelt haben, das macht mich etwas unruhig. – Ich liege am Rande eines Weges, der durch einen großen Friedhof führt. Doch diesem Friedhof fehlt die Feierlichkeit und Strenge unserer Friedhöfe. Auf den ersten Blick glaubt man, in einen großen Park zu kommen, gepflegter Rasen und zahlreiche verschiedenartige Laubbäume. Da sieht man zwar Vasen mit Blumen, unregelmäßig verstreut aufgestellt. Verläßt man aber den Wege, sieht man sie, die in Aufmachung und Größe meist sehr ähnlichen Bronzeplatten in die Erde eingelassen, in gleichem Niveau wie die Rasenfläche. Es sind viele Gräber für Ehepaare, von denen ein Teil noch lebt, der Name und das Geburtsjahr schon aufgeführt. „Together forever“ kann man da lesen. Ein Friedhof, der in die kultivierte Natur einbezogen ist, die Anonymität der kommenden Ewigkeit schon vorausnehmend. Die Gräber schon jetzt der Erde gleich, die die Toten einverleibt für immer.

17. Mai: Gestern Abend waren wir Gäste eines Kollegen Todds namens Steve, angeblich ein Verwandter Eleonore Roosevelts und nebenberuflich Model für Herrenbekleidung, Latein- und Deutschlehrer, mit einem erbärmlichen Deutsch. Er lebt in einem alten Bauernhaus, das recht stilvoll mit altem Ramsch ausgestattet ist, in einer Ecke des Wohnzimmers sogar eine Harfe. Die Party war von Lehrern besucht, ein Franzose mit seiner franz. Frau, ein Spanier, Leiter der Fremdsprachenabteilung der Haverford School, mit seiner amerikanischen Frau, eine Lehrerin, die Steve „nur so“ eingeladen hat. Wir tranken viel Wein, es gab Käse, Gitarrenklänge. Angenehme Atmosphäre unter geltungsbedürftigen Typen. - 18. Mai: Gestern Abend ging ich mit Todd in ein „Adult Cinema“, um uns einen jener „harten“ Pornofilme anzusehen, die bei uns öffentlich noch nicht gezeigt werden dürfen. - Man muß auf die Menschen hier wie ein seltenes Tier wirken, wenn man von ihnen als Fußgänger in freier Landschaft gesehen wird. Auf meiner heute wohl knapp einstündigen Wanderung bin ich keinem Menschen begegnet, der sich nicht in unmittelbarer Nähe eins Hauses aufgehalten hätte. Mit neugierig-mißtrauischen Blicken wird der Fremde gemustert. Daß er nicht auch in einem Wagen sitzt und gar allein herumstreift, muß den Menschen hier so fremd vorkommen, daß man sich selbst plötzlich allein und schutzlos einer scheinbar menschenleeren Kulturwüste ausgesetzt fühlt. Ihren Spuren begegnet man auf Schritt und Tritt, diesen Automenschen mit ihren halben Körpern, die Straßenränder und angrenzenden Rasen sind verunziert mit geleerten Getränke-Büchsen, aus denen sie ihren Durst stillen, weil sogar das Wasser aus den Hähnen so denaturiert ist wie die Landschaft selbst, hinter deren Mauern aus Holz, Disteln, Ziersträuchern, Glas und Blech sie sich verstecken. Diesem Leben hier fehlt die Vitalität der Armut, die Lust an der Bewegung der Gliedmaßen, statt dessen ahnt man die Langeweile, der man bevorzugt auf Rädern zu entrinnen sucht oder die man hinterm Fernsehapparat verdöst.

20. Mai: Gestern ein 3stündiger Trip zuerst in Richtung Valley Forge, ein historischer Platz im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Engländer, den ich allerdings nicht ganz erreichte. An einer Straße, die an einem Golfplatz entlang führt, suchte ein alter Mann verschlagene Golfbälle. Es ging über kurz geschnittenen Rasen immer diese verkehrsreiche Straße entlang bis zu einem Riesengebäude der „American Baptists“. Zwischen diesem Gebäude und einem Hotel bog ich ab, um wieder nach Kingof Prussia zurückzukehren, vorbei an Bürokomplexen, Fabrikanlagen, Stapelhäusern. Endpunkt: das Einkaufszentrum des Ortes. – Todd und Linda sind abends immer so geschafft, daß sie nur Interesse für das tv zeigen. Todd muß hart arbeiten, oder besser: er tut es, weil er seine Sache perfekt machen will. - Seit gestern steht ein neuer Flugtermin fest, Samstag, 31. 5. Ich versuche alles, meinen Aufenthalt hier abzukürzen. Es reicht, auch wenn es mir an nichts mangelt und keine Störung unser Verhältnis trübt. Ich lese fleißig, seit gestern „Homo Faber“ von Max Frisch. Linda und ich waren gestern Abend noch auf einem Einkaufsbummel. Diese Einrichtung, abends die Geschäfte offen zu halten, empfinde ich so angenehm und entspannend. - 21. Mai: Wenige Minuten, nachdem ich von einem morgendlichen Lauf zurückgekommen war, zog von Norden kommend ein Gewitter auf und in dessen Gefolge ein schöner Regen. Trotz Wettervorhersage, wonach nur mit 20 Prozent (mit) Regen zu rechnen sei. – Dieser Genuß beim Lesen der Sätze von Joseph Roth („Der stumme Prophet“)! – Als Todd heute nachhause kam, berichtete er, daß jene BJ (eine Lehrerin aus dem Bekanntenkreis der Pearsons, deren voller Namen mir nicht mehr erinnerlich ist) von Steves Party Kontakt mit ihm aufnehmen wolle. Ich bat Linda anzurufen. Sie, nicht zuhause, rief zurück. Ich hätte Lust, mit ihr das Wochenende zu verbringen statt nach Sunderland zu fahren.

23. Mai: Ich bin auf die Begegnung mit BJ gespannt. - Ich lese „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch. Ein Abklatsch von Saul Bellows „Herzog“ (den ich allerdings nur „angelesen“ habe). Gestern bin ich wieder gelaufen, bei feuchter Hitze ohne dabei allzu sehr belästigt zu werden (mit Ausnahme eines Hundes, der mich in der Church Road anbellte). Zu BJ: Sie rief gestern an und erkundigte sich nach meinem Abfahrtstermin, Einladung, sie kommende Woche zu besuchen. – Sunderland, Mass. (Lindas Heimatort, wohin wir mit dem Auto fuhren) – Es geht auf Mitternacht zu; 6 ½ Stunden brauchten wir. Ich tue eben einfach so, als ob ich dazu gehörte. - 24. Mai: Sunderland. Herrliche Hitze. Einen morgendlichen Lauf hinter mir, sicherlich um die 4 Kilometer. Morgens im Bett höchstes Wohlbefinden, Gefühl des Befreitseins. Vormittags mit L. und T. in Greenfield , nachmittags mit den beiden in Northampton, um ein Lecross-Spiel (ein Mannschaftsspiel angeblich indianischen Ursprungs) anzusehen. - 26. Mai: Nach fast 6stündiger Fahrt kommen wir gegen ½ 2 zurück aus Sunderland. Ich lese wieder, diesmal „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth. – Abends mit BJ im Valley Forge Park. Gemeinsames Abendessen. - 28. Mai: King of Prussia Plaza – Ich warte hier auf BJ. Keine Gedanken, keine Bedürfnisse. Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für Christine (meine kleine Nichte in Deutschland). Mit BJ in Plymouth und Bridgeport

Ein Tag im Gericht

30. Mai: Den gestrigen Vormittag verbrachte ich im Court House der nahegelegenen Stadt Norristown (vermittelt durch BJ). Dort sind 11 Richter tätig, nur einer davon auf bestimmte Fälle spezialisiert. Zivil- und Strafsachen werden an diesen kleineren Gerichten von allen Richtern behandelt, und zwar in aufeinanderfolgenden Sitzungsperioden. Einen der Richter lernte ich durch seinen „Clerk“, der mir als Führer diente, kennen, ich hielt mich auch kurz in dessen Dienstzimmer auf. Der „Clerk“ ist ein junger Absolvent einer „Law School“, der am Gericht eine Art Referendariatszeit ableisten muß, ohne daß danach noch ein Examen auf ihn wartet. Ich sah die Gerichtssäle, die moderneren und einen älteren, der jenem glich, die aus Filmen bekannt sind. Mein Cicerone zeigte mir die Bibliothek, wo er den größten Teil seiner Arbeitszeit verbringt, um die Urteilsbegründung seines Richters, die meist nur aus ein paar Sätzen bestehen, in eine vollständigere Form zu bringen, was für ihn Nachschlagen und Literaturlesen bedeutet. Im Saal, wo sich die Anwälte treffen, begegneten wir einem anderen Clerk, den ich ebenfalls am Tag vorher in Bridgeport kennengelernt hatte. Anschließend erlebte ich zwei Verhandlungen, eine gegen einen 18jährigen, der aus einem Gefängnis vorgeführt wurde, wo er wegen „Diebstahl von beweglichen Gütern“ eine Strafe von „2 bis 4 Jahren“ abzusitzen hat. Diesmal ging es um „resisting“ während einer Festnahme wegen Trunkenheit am Steuer. Den Urteilsspruch des Richters habe ich nicht verstanden (es war ein Geschworenengericht). Beim zweiten Fall ging es um den Diebstahl eines Fernsehers. Der 22jährige „defendant“ gehörte zu jener Sorte „primitiver“ Krimineller, die nach meiner Vorstellung Diebereien begehen, deren Ausmaß in keinem Verhältnis steht zu der zu erwartenden Strafe. Auch er wurde aus einem Gefängnis vorgeführt. Anschließend fuhr ich per Bus zum King of Prussia Plaza, traf mich hier mit BJ und fuhr mit ihr nach Philadelphia, wo wir von der Independance Hall aus zu Old Ph. wanderten, dort eine Truppe Schauspieler antrafen, die in historischen Kostümen am Headhouse Square herumsaßen und –lagen und auf ihren Einsatz zu Filmaufnahmen warteten. In diesem Teil Ph.‘s wurden Appartement-Häuser aus Backsteinen gebaut, alte Wohngebäude konserviert (und gelegentlich sogar zum Kauf angeboten). Anschließend zu BJ’s Haus in Narbarth, ein Traumhaus (aber auch nur gemietet) in der Main-Line. - 30. Mai: Party bei BJ

31. Mai: New York, JFK-Airport. Ein wenig erleichtert nahm ich Abschied in Kingswood. Gestern erlebte ich eine ganz unterhaltsame Party, veranstaltet von BJ in deren Haus. Gäste u. a. Jim Beam, mein Cicerone durch das Gericht von Norristown, und seine Frau, ein deutschstämmiger Lehrer namens Michael und seine Frau, eine nuklearmedizinische Assistentin, eine Lehrerin und deren Ehemann, Leiter eines Jugendhauses, eine Schwedin, Lehrerin in King of Prussia, und deren Mann, ein Architekt. Ich beging die Dummheit und trank zuviel von einem billigen kalifornischen Rotwein, worunter ich heute noch zu leiden habe. Es geht auf 10 Uhr zu, ich bin müde und sitze im Warteraum der Loftleidir, wo es wie in einem Feldlager aussieht. Ich denke an nichts, gelegentlich wieder an I., mit einem kleinen Stich ins Wehmütige, als sei diese Geschichte einfach erfunden. Das hat diese Reise bewirkt, und das wirkt beruhigend auf mein Gemüt. Überhaupt: den Dingen und Menschen nicht so viel Bedeutung beimessen. Das Alleinsein tut mir wieder gut. Was nicht heißen soll, daß ich die Begegnungen der letzten Tage nicht genossen hätte.

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Kommentare (2)

oessilady Deine Erzählung über deinen Amerika besuch bestätigt so ungefähr in der Beschreibung der dort lebenden Menschen ,was meine Enkelein darüber erzählt.Sie war schon öfter dort für enige Wochen ihr vater ist ein deutsch-einwanderer und lebt auch so wie du das beschrieben hast. Tolle Haus mit Stück Wiese davor-pick up und cabrio natürlich und am Sonntag wird
voller besgeisterung GOD angesungen und fleißig Spenden gesammelt.Im Großen und Ganzen
oberflächlich in der Beurteilung allen Dingen und Menschen aus anderen Ländern gegenüber.
Rassismus ist dort viel größer als hier. Über Deutschland und seine menschen herrscht ein total unstimmiges Bild -entweder Seppln in Lederhosen oder Hitler Nachbildungen.
deine Schilderung ist sehr gut und lehrreich!
tilli Lieber Siegfried !
Es sind solche schöne Geschichten die du schreibst. Gut,das du sie schreibst.Viele Reisen die man in Leben macht, bringen jeden Menschen die Welt entgegen. Aber ich werde schon nicht mehr dort sein wo du warst. Also, sind deine Berichte sehr spannend und lehrreich.
Danke Tilli

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