Leseturm auf Aurora (Senoria)
Leseturm Buchempfehlung 2
Julia Voss: Darwins Jim Knopf
Verlag S. Fischer, Frankfurt. 2009. Fischer Wissenschaft. 183 Seiten. EUR 17,95
Michael Endes "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" ist eines der populärsten Kinderbücher der Nachkriegszeit. Die Augsburger Puppenkiste hat über das Medium Fernsehen sehr zur Popularität dieses Buches beigetragen. Damit wäre alles gesagt könnte man meinen. Julia Voss allerdings gelingt es, in einer spannenden und aufregenden Spurensuche, eine tiefere Dimension dieses Klassikers der Kinderliteratur freizulegen. Wie eine Detektivin weist sie nach, dass zahlreiche Anspielungen auf Darwin und die Evolutionstheorie das gesamte Buch durchziehen - es sind so viele, dass sich dahinter ein Plan verbergen muss. Diesen Plan legt sie Schritt für Schritt frei und zeigt, dass Michael Endes Buch mehr ist als das Produkt reiner realitätsfernen Phantasie.
Dieses Buch über Jim Knopf ist eigentlich ein Nebenprodukt ihrer Arbeit über Charles Darwin, da ihr dabei auffiel, dass der Name eines jungen Eingeborenen aus Feuerland, James/Jemmy Button, so auffallend an "Jim Knopf", den Helden aus Michael Endes erstem Kinderbuch erinnerte. Und so verknüpft sie in diesem Buch beides: Die Geschichte von James Button aus der Lebensgeschichte Charles Darwins, mit der Geschichte der Entstehung des Buches "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer".
Julia Voss vertritt in ihrem gut zu lesenden und interessanten Buch die These, bei Michael Endes "Jim Knopf " handele es sich nicht einfach nur um Kinderbücher, sondern um eine verdeckte Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Charles Darwins' und insbesondere deren Missinterpretationen im Nationalsozialismus und Sozialdarwinismus.
Pate für Jim Knopf stand wohl der eingeborene Feuerländer "Jemmy Button", der als Kind von den damaligen Eroberern für (angeblich) einen Perlmuttknopf gekauft und nach England gebracht wurde, um dort den "jungen Wilden" christlich zu erziehen. Der Kaufpreis (Button/Knopf) gab ihm seinen Namen. Später wurde er in sein Heimatland zurückgebracht, um sein Volk zu missionieren. Die Rückkehr erfolgte auf der HMS (her Majesty’s Ship) Beagle, wo Charles Darwin auf ihn traf, der über ihn ein paar Zeilen in sein Tagebuch eintrug.
Die Geschichte des Eingeborenen inklusive seiner ganzen Tragik wurde von Nick Hazlewood in dessen Roman "Der Mann, der für einen Knopf verkauft wurde. Die unglaubliche Geschichte des Jemmy Button" nacherzählt, der 1957 auf Deutsch erschien, und den Michael Ende wohl gelesen hat.
Julia Voss also, überrascht und begeistert von ihrer Entdeckung, begründet ihre interessante These vor allem mit Formulierungen und Symboliken in Jim Knopf.
Sie schreibt:
Seite 7ff aus dem Vorwort:
„In seinem berühmten Reisebericht Die Fahrt der Beagle kommt der Naturforscher Charles Darwin auf ein Kind zu sprechen, einen kleinen Feuerländer, der an Bord des Forschungsschiffs HMS Beagle mitreiste, um in seine Heimat zurückgebracht zu werden, aus der er einige Jahre zuvor von Engländern entführt worden war. Der Junge heißt Jemmy Button, ein Name, wie Darwin berichtet, der »seinen Kaufpreis beinhaltet«. Darwin schildert Jemmy Button daraufhin ausführlich auf den nächsten Seiten; über den ungeheuerlichen Tauschhandel verliert er kein weiteres Wort. Recherchiert wurde die Geschichte jedoch von dem Historiker und Journalisten Nick Hazlewood, der dem Jungen ein Buch widmete, dem er den Titel gab: Der Mann, der für einen Knopf verkauft wurde. Die unglaubliche Geschichte des Jemmy Button, Es sind manchmal Zufälle, die einen zum Nachdenken bringen. Mir fiel jedenfalls, als ich Hazlewoods Buch in einer Buchhandlung sah, zum ersten Mal auf, dass »Button« übersetzt natürlich »Knopf« heißt und dass damit Darwins Mitreisender den fast gleichlautenden Namen trug wie der Held eines meiner liebsten Kinderbücher: Jim Knopf. Das vorliegende Buch geht auf diese Entdeckung zurück, auf die ich stieß, während ich im Jahr 2005 meine Dissertation über Charles Darwin abschloss. Für diese Arbeit las ich mehrere Jahre fast täglich in den Büchern des Begründers der Evolutionstheorie. Darwin hinterließ ein sehr umfangreiches Werk von insgesamt, wenn man die zu Lebzeiten neu aufgelegten Schriften mitzählt, 34 Bänden. Er war außerdem ein fleißiger Briefeschreiber und bewahrte viele seiner Manuskripte, Aufzeichnungen und Notizen auf, sodass die Universitätsbibliothek im englischen Cambridge heute einen der vollständigsten Nachlässe eines Wissenschaftlers überhaupt besitzt. Dieses Material zu sichten und mich mit den Schriften vertraut zu machen, war eine der größten Herausforderungen meiner Doktorarbeitszeit. Was mich in diesem Zusammenhang vor allem beschäftigte, waren die Buchillustrationen, die Darwin in seinen evolutionstheoretischen Werken zeigte, Bilder, in denen er Schritt für Schritt—wie aus seinen Manuskripten hervorgeht— seine Theorie erarbeitet hatte.' Meinem Interesse an Darwins Bildern lag eine einfache Beobachtung zugrunde: Als Kind hatte ich von Evolution zuerst durch Abbildungen erfahren, den Stammbäumen und sich verwandelnden Tieren, die sich in Lehr- oder Sachbüchern, auf Schautafeln oder in Naturkundemuseen finden. Wie die Evolutionstheorie zu ihren Bildern gekommen war, wollte ich herausfinden und ging der Frage im Werk desjenigen nach, der die Evolutionstheorie begründet hatte. Als ich im Werk von Darwin dann wirklich auf meine Kinder- und Jugendlektüre stieß, hielt ich es zunächst für einen Scherz. Jim Knopf als historische Person zu betrachten, schien so abwegig wie die Behauptung, Pu der Bär sei ein britischer Staatsbürger gewesen; ich fasste trotzdem den Vorsatz, Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer noch einmal gründlich zu lesen, zumal mir schon anhand meiner Erinnerungen weitere Ähnlichkeiten auffielen: Michael Endes Kinderbuch war wie Charles Darwins erstes Buch, das er mit dreißig Jahren veröffentlicht hatte, im Grunde ein Reisebericht. Feuerland z. B., die Heimat Jemmy Buttons, bewohnt bei Michael Ende der Scheinriese Tur Tur; und die Insel Lummerland, die Ausgangsstation, ähnelt mit seiner Eisenbahnstrecke, der Kauffrau Frau Waas und dem schottisch karierte Pantoffel tragenden König dem industriellen England des 19. Jahrhunderts. Meine Arbeitshypothese lautete an diesem Punkt, dass Michael Ende eine Parodie auf Charles Darwins Fahrt der Beagle geschrieben haben könnte. Dann nahm ich mir Jim Knopf noch einmal vor und stieß in dem Kinderbuch, das ich als ein niedliches Märchen in Erinnerung hatte, auf Begriffe wie Rasse, Schande oder Todesstrafe. Mir wurde klar, dass es hier um mehr ging. Michael Ende hatte sich mit Jim Knopf an etwas Ernstem abgearbeitet, und ich begann mich für den Autor und seine Biographie zu interessieren.“
So liegt die Vermutung nahe, dass gerade von den Einflüssen des Darwinismus her, der im Dritten Reich zur Weltanschauung der Menschenverachtung mutierte, Michael Ende sein Kinderbuch als das Gegenbuch zum Rassismus schrieb. Die Multikulti-Klasse des Drachen Mahlzahns - aus Kummerland, dem Land der "reinrassigen Drachen" musste aus den Fängen dieses gefährlich rassistischen Regimes befreit werden.
Seite 15ff aus Kapitel I. Michael Ende schreibt nicht für Kinder
„Als Michael Ende 1961 der Deutsche Jugendbuchpreis für sein Erstlingswerk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer verliehen wurde, hieß es in der Begründung der Juroren, das Buch sei»randvollvon köstlichen Einfällen« und »atemberaubend sind die phantastischen Abenteuer, die Jim Knopf mit Lukas und der schwimmenden Lokomotive Emma erlebt«. Der Autor hatte in seiner Erzählung eine Reihe von phantastischen Mischwesen geboren wie den Halbdrachen Nepomuk, die fischschwänzige Meeresprinzessin Sursulapitschi oder den Scheinriesen Tur Tur, der die Gesetze der Perspektive auf den Kopf stellte. Das Lob verfolgte den Schriftsteller. Was man anfangs schätzte, kritisierte man bald. Die Geschichte von dem kleinen schwarzen Jungen Jim, der in einem Postpaket auf der Insel Lummerland eintrifft, mit dem Lokomotivführer Lukas auszieht, um eine neue Heimat zu finden, und nach einer langen Abenteuerfahrt schließlich seine königliche Abstammung entdeckt, galt als Heileweltphantasie eines »Schreiberlings für Kinder«. Weltflucht wurde ihm im Zuge der sogenannten Eskapismus-Debatte vorgeworfen, »Fluchtliteratur« war die Bezeichnung, die an seinen Werken haften blieb. Als der Hörspielautor und Theaterkritiker Melchior Schedler die Bühnenfassung von Jim Knopf ironisch ein »kindertümliches Prachtstück« nannte und es weiter als »Opium für Kinder« bezeichnete, sprach er die Meinung einer ganzen Generation sozialkritischer Kinderbuchautoren aus. Ende empfand die Vorwürfe als »richtiggehend erstickend« und zog 197o nach Italien, wo er die nächsten fünfzehn Jahre lebte und schrieb, darunter seine Weltbestseller Momo und Die unendliche Geschichte. »Wir meinen« schrieb Schedler polemisch, »dass man den Kindern die Welt nicht so zeigen darf, wie sie ist. Wir meinen vielmehr, dass man sie (die Welt) für sie (die Kinder) rosa anstreichen muß.« Sowohl Endes Kritikern als auch Anhängern war jedoch entgangen, wie sehr sich Michael Ende an eine ganz und gar ungeheuerliche Realität gehalten hatte. Die beiden Helden der Geschichte lässt der Autor im zwanzigsten Kapitel von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf eine riesige, rußgeschwärzte Höhlenöffnung zurollen, aus der es, wie er schreibt, »ein wenig herausrauchte wie aus einem Ofenloch«. Übergroß hängt darüber ein Schild mit der Warnung: »!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten.« Inmitten eines Kinderbuchs tauchen plötzlich die Begriffe »Todesstrafe« und »reinrassig« auf, das Bühnenbild für diese Sprache ist ein in einen rauchenden Ofen einfahrender Zug. Der Leser befindet sich in diesem Augenblick nicht mehr in einer Fiktion, sondern in einer Vergangenheit, die nur fünfzehn Jahre zurücklag. Doch trotz dieser unheimlichen Schlüsselszene blieb unbemerkt, dass ein Kinderbuchautor das Vokabular und die Verbrechensorte der Nationalsozialisten zitierte und zwei Abenteurer losschickte, um die deutsche Vergangenheit zu überwinden.
Vielleicht hat man nicht genau genug zugehört, als Michael Ende sagte, dass er nie für Kinder geschrieben habe.“
Es ist tatsächlich aus der heutigen Sicht erstaunlich, wie viele Anspielungen und Symbole des Buches "Jim Knopf" tatsächlich eine Umdeutung nationalsozialistischer Erziehung darstellen. Das Buch ist anschaulich bebildert, was die Darstellung unterstützt. Angesicht aktueller rassistischer Umtriebe und Tendenzen zum Rechtspopulismus muss man wohl feststellen, dass der Jim Knopf ruhig weiter von Kindern gelesen werden sollte, und dieses Buch dazu als Eltern- (Großeltern-) Handbuch trefflich dienen kann.
07.12.2009/ IBü
Julia Voss: Darwins Jim Knopf
Verlag S. Fischer, Frankfurt. 2009. Fischer Wissenschaft. 183 Seiten. EUR 17,95
Michael Endes "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" ist eines der populärsten Kinderbücher der Nachkriegszeit. Die Augsburger Puppenkiste hat über das Medium Fernsehen sehr zur Popularität dieses Buches beigetragen. Damit wäre alles gesagt könnte man meinen. Julia Voss allerdings gelingt es, in einer spannenden und aufregenden Spurensuche, eine tiefere Dimension dieses Klassikers der Kinderliteratur freizulegen. Wie eine Detektivin weist sie nach, dass zahlreiche Anspielungen auf Darwin und die Evolutionstheorie das gesamte Buch durchziehen - es sind so viele, dass sich dahinter ein Plan verbergen muss. Diesen Plan legt sie Schritt für Schritt frei und zeigt, dass Michael Endes Buch mehr ist als das Produkt reiner realitätsfernen Phantasie.
Dieses Buch über Jim Knopf ist eigentlich ein Nebenprodukt ihrer Arbeit über Charles Darwin, da ihr dabei auffiel, dass der Name eines jungen Eingeborenen aus Feuerland, James/Jemmy Button, so auffallend an "Jim Knopf", den Helden aus Michael Endes erstem Kinderbuch erinnerte. Und so verknüpft sie in diesem Buch beides: Die Geschichte von James Button aus der Lebensgeschichte Charles Darwins, mit der Geschichte der Entstehung des Buches "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer".
Julia Voss vertritt in ihrem gut zu lesenden und interessanten Buch die These, bei Michael Endes "Jim Knopf " handele es sich nicht einfach nur um Kinderbücher, sondern um eine verdeckte Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Charles Darwins' und insbesondere deren Missinterpretationen im Nationalsozialismus und Sozialdarwinismus.
Pate für Jim Knopf stand wohl der eingeborene Feuerländer "Jemmy Button", der als Kind von den damaligen Eroberern für (angeblich) einen Perlmuttknopf gekauft und nach England gebracht wurde, um dort den "jungen Wilden" christlich zu erziehen. Der Kaufpreis (Button/Knopf) gab ihm seinen Namen. Später wurde er in sein Heimatland zurückgebracht, um sein Volk zu missionieren. Die Rückkehr erfolgte auf der HMS (her Majesty’s Ship) Beagle, wo Charles Darwin auf ihn traf, der über ihn ein paar Zeilen in sein Tagebuch eintrug.
Die Geschichte des Eingeborenen inklusive seiner ganzen Tragik wurde von Nick Hazlewood in dessen Roman "Der Mann, der für einen Knopf verkauft wurde. Die unglaubliche Geschichte des Jemmy Button" nacherzählt, der 1957 auf Deutsch erschien, und den Michael Ende wohl gelesen hat.
Julia Voss also, überrascht und begeistert von ihrer Entdeckung, begründet ihre interessante These vor allem mit Formulierungen und Symboliken in Jim Knopf.
Sie schreibt:
Seite 7ff aus dem Vorwort:
„In seinem berühmten Reisebericht Die Fahrt der Beagle kommt der Naturforscher Charles Darwin auf ein Kind zu sprechen, einen kleinen Feuerländer, der an Bord des Forschungsschiffs HMS Beagle mitreiste, um in seine Heimat zurückgebracht zu werden, aus der er einige Jahre zuvor von Engländern entführt worden war. Der Junge heißt Jemmy Button, ein Name, wie Darwin berichtet, der »seinen Kaufpreis beinhaltet«. Darwin schildert Jemmy Button daraufhin ausführlich auf den nächsten Seiten; über den ungeheuerlichen Tauschhandel verliert er kein weiteres Wort. Recherchiert wurde die Geschichte jedoch von dem Historiker und Journalisten Nick Hazlewood, der dem Jungen ein Buch widmete, dem er den Titel gab: Der Mann, der für einen Knopf verkauft wurde. Die unglaubliche Geschichte des Jemmy Button, Es sind manchmal Zufälle, die einen zum Nachdenken bringen. Mir fiel jedenfalls, als ich Hazlewoods Buch in einer Buchhandlung sah, zum ersten Mal auf, dass »Button« übersetzt natürlich »Knopf« heißt und dass damit Darwins Mitreisender den fast gleichlautenden Namen trug wie der Held eines meiner liebsten Kinderbücher: Jim Knopf. Das vorliegende Buch geht auf diese Entdeckung zurück, auf die ich stieß, während ich im Jahr 2005 meine Dissertation über Charles Darwin abschloss. Für diese Arbeit las ich mehrere Jahre fast täglich in den Büchern des Begründers der Evolutionstheorie. Darwin hinterließ ein sehr umfangreiches Werk von insgesamt, wenn man die zu Lebzeiten neu aufgelegten Schriften mitzählt, 34 Bänden. Er war außerdem ein fleißiger Briefeschreiber und bewahrte viele seiner Manuskripte, Aufzeichnungen und Notizen auf, sodass die Universitätsbibliothek im englischen Cambridge heute einen der vollständigsten Nachlässe eines Wissenschaftlers überhaupt besitzt. Dieses Material zu sichten und mich mit den Schriften vertraut zu machen, war eine der größten Herausforderungen meiner Doktorarbeitszeit. Was mich in diesem Zusammenhang vor allem beschäftigte, waren die Buchillustrationen, die Darwin in seinen evolutionstheoretischen Werken zeigte, Bilder, in denen er Schritt für Schritt—wie aus seinen Manuskripten hervorgeht— seine Theorie erarbeitet hatte.' Meinem Interesse an Darwins Bildern lag eine einfache Beobachtung zugrunde: Als Kind hatte ich von Evolution zuerst durch Abbildungen erfahren, den Stammbäumen und sich verwandelnden Tieren, die sich in Lehr- oder Sachbüchern, auf Schautafeln oder in Naturkundemuseen finden. Wie die Evolutionstheorie zu ihren Bildern gekommen war, wollte ich herausfinden und ging der Frage im Werk desjenigen nach, der die Evolutionstheorie begründet hatte. Als ich im Werk von Darwin dann wirklich auf meine Kinder- und Jugendlektüre stieß, hielt ich es zunächst für einen Scherz. Jim Knopf als historische Person zu betrachten, schien so abwegig wie die Behauptung, Pu der Bär sei ein britischer Staatsbürger gewesen; ich fasste trotzdem den Vorsatz, Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer noch einmal gründlich zu lesen, zumal mir schon anhand meiner Erinnerungen weitere Ähnlichkeiten auffielen: Michael Endes Kinderbuch war wie Charles Darwins erstes Buch, das er mit dreißig Jahren veröffentlicht hatte, im Grunde ein Reisebericht. Feuerland z. B., die Heimat Jemmy Buttons, bewohnt bei Michael Ende der Scheinriese Tur Tur; und die Insel Lummerland, die Ausgangsstation, ähnelt mit seiner Eisenbahnstrecke, der Kauffrau Frau Waas und dem schottisch karierte Pantoffel tragenden König dem industriellen England des 19. Jahrhunderts. Meine Arbeitshypothese lautete an diesem Punkt, dass Michael Ende eine Parodie auf Charles Darwins Fahrt der Beagle geschrieben haben könnte. Dann nahm ich mir Jim Knopf noch einmal vor und stieß in dem Kinderbuch, das ich als ein niedliches Märchen in Erinnerung hatte, auf Begriffe wie Rasse, Schande oder Todesstrafe. Mir wurde klar, dass es hier um mehr ging. Michael Ende hatte sich mit Jim Knopf an etwas Ernstem abgearbeitet, und ich begann mich für den Autor und seine Biographie zu interessieren.“
So liegt die Vermutung nahe, dass gerade von den Einflüssen des Darwinismus her, der im Dritten Reich zur Weltanschauung der Menschenverachtung mutierte, Michael Ende sein Kinderbuch als das Gegenbuch zum Rassismus schrieb. Die Multikulti-Klasse des Drachen Mahlzahns - aus Kummerland, dem Land der "reinrassigen Drachen" musste aus den Fängen dieses gefährlich rassistischen Regimes befreit werden.
Seite 15ff aus Kapitel I. Michael Ende schreibt nicht für Kinder
„Als Michael Ende 1961 der Deutsche Jugendbuchpreis für sein Erstlingswerk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer verliehen wurde, hieß es in der Begründung der Juroren, das Buch sei»randvollvon köstlichen Einfällen« und »atemberaubend sind die phantastischen Abenteuer, die Jim Knopf mit Lukas und der schwimmenden Lokomotive Emma erlebt«. Der Autor hatte in seiner Erzählung eine Reihe von phantastischen Mischwesen geboren wie den Halbdrachen Nepomuk, die fischschwänzige Meeresprinzessin Sursulapitschi oder den Scheinriesen Tur Tur, der die Gesetze der Perspektive auf den Kopf stellte. Das Lob verfolgte den Schriftsteller. Was man anfangs schätzte, kritisierte man bald. Die Geschichte von dem kleinen schwarzen Jungen Jim, der in einem Postpaket auf der Insel Lummerland eintrifft, mit dem Lokomotivführer Lukas auszieht, um eine neue Heimat zu finden, und nach einer langen Abenteuerfahrt schließlich seine königliche Abstammung entdeckt, galt als Heileweltphantasie eines »Schreiberlings für Kinder«. Weltflucht wurde ihm im Zuge der sogenannten Eskapismus-Debatte vorgeworfen, »Fluchtliteratur« war die Bezeichnung, die an seinen Werken haften blieb. Als der Hörspielautor und Theaterkritiker Melchior Schedler die Bühnenfassung von Jim Knopf ironisch ein »kindertümliches Prachtstück« nannte und es weiter als »Opium für Kinder« bezeichnete, sprach er die Meinung einer ganzen Generation sozialkritischer Kinderbuchautoren aus. Ende empfand die Vorwürfe als »richtiggehend erstickend« und zog 197o nach Italien, wo er die nächsten fünfzehn Jahre lebte und schrieb, darunter seine Weltbestseller Momo und Die unendliche Geschichte. »Wir meinen« schrieb Schedler polemisch, »dass man den Kindern die Welt nicht so zeigen darf, wie sie ist. Wir meinen vielmehr, dass man sie (die Welt) für sie (die Kinder) rosa anstreichen muß.« Sowohl Endes Kritikern als auch Anhängern war jedoch entgangen, wie sehr sich Michael Ende an eine ganz und gar ungeheuerliche Realität gehalten hatte. Die beiden Helden der Geschichte lässt der Autor im zwanzigsten Kapitel von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf eine riesige, rußgeschwärzte Höhlenöffnung zurollen, aus der es, wie er schreibt, »ein wenig herausrauchte wie aus einem Ofenloch«. Übergroß hängt darüber ein Schild mit der Warnung: »!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten.« Inmitten eines Kinderbuchs tauchen plötzlich die Begriffe »Todesstrafe« und »reinrassig« auf, das Bühnenbild für diese Sprache ist ein in einen rauchenden Ofen einfahrender Zug. Der Leser befindet sich in diesem Augenblick nicht mehr in einer Fiktion, sondern in einer Vergangenheit, die nur fünfzehn Jahre zurücklag. Doch trotz dieser unheimlichen Schlüsselszene blieb unbemerkt, dass ein Kinderbuchautor das Vokabular und die Verbrechensorte der Nationalsozialisten zitierte und zwei Abenteurer losschickte, um die deutsche Vergangenheit zu überwinden.
Vielleicht hat man nicht genau genug zugehört, als Michael Ende sagte, dass er nie für Kinder geschrieben habe.“
Es ist tatsächlich aus der heutigen Sicht erstaunlich, wie viele Anspielungen und Symbole des Buches "Jim Knopf" tatsächlich eine Umdeutung nationalsozialistischer Erziehung darstellen. Das Buch ist anschaulich bebildert, was die Darstellung unterstützt. Angesicht aktueller rassistischer Umtriebe und Tendenzen zum Rechtspopulismus muss man wohl feststellen, dass der Jim Knopf ruhig weiter von Kindern gelesen werden sollte, und dieses Buch dazu als Eltern- (Großeltern-) Handbuch trefflich dienen kann.
07.12.2009/ IBü
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