Im Betrieb gab es Stempeluhren, die man morgens nach dem Umkleiden und abends vor dem Anziehen der Straßenkleidung zu betätigen hatte. Wer morgens zu spät stempelte, musste zum Lehrmeister, um sich zu entschuldigen, was stets mit ärgerlichen Diskussionen verbunden war. Hier musste Lothar lernen, dass die Wahrheit nicht immer die erste Wahl beim Entschuldigen ist, denn wenn zum Beispiel die S-Bahn ausgefallen war und er eine halbe Stunde am Bahnhof gestanden hatte, klang das für den Lehrmeister wie eine Ausrede und er entließ Lothar erst, als dieser zugegeben hatte, verschlafen zu haben, was gar nicht stimmte. Der Meister lief von seiner Wohnung aus fünf Minuten zur Arbeit und konnte sich nicht vorstellen, dass es bei der Deutschen Reichsbahn Unregelmäßigkeiten gab.
Überhaupt war der Lehrausbilder ein unangenehmer Mensch. Bei ihm konnte man wirklich sagen „nomen est omen“, denn er hieß Roland Rindvieh und benahm sich auch so.
Einmal in der Woche hatten die Lehrlinge bei ihm Unterricht und dann versuchte er ihnen in schlechtem Deutsch und ohne die geringsten rhetorischen und didaktischen Kenntnisse die theoretischen Grundlagen ihres späteren Berufs zu erläutern. Herr Rindvieh formulierte seine Fragen meist derartig unverständlich, dass ihn die Lehrlinge nicht verstanden. Wenn sie sich darüber beklagten, diskutierte er nicht mit ihnen, sondern stellte für alle gut sichtbar ein Bein auf seinen Stuhl, zog das Hosenbein hoch und zeigte sein mit Geschwüren übersätes Raucherbein. Spätestens an dieser Stelle verstummten die Widerreden und alle waren seiner Meinung.
Vor allem an Montagen war Herr Rindvieh nicht mit Mostrich zu genießen, denn er schien total verkatert zu sein. Das äußerte sich nicht nur in schlechter Laune, sondern auch in seiner Licht- und Geräuschempfind­lichkeit. Er verschwand dann irgendwohin und war den ganzen Tag über nicht mehr zu sehen.
In den Pausen diskutierten die Lehrlinge oft über das Verhalten von Herrn Rindvieh und beschlossen schließlich, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen wollten. Lothar wurde einstimmig zum Klassensprecher gewählt und hatte die undankbare Aufgabe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit den Meister mit der Meinung der Lehrlinge vertraut zu machen. Sie erwarteten, dass Herr Rindvieh sich danach anders verhalten würde.

Bei der nächsten Unterweisung meldete sich Lothar artig und ergriff das Wort. In einer kurzen Ansprache an den Lehrausbilder fasste er zu­sammen, was ihnen an dessen Art nicht gefiel. Herr Rindvieh war außer sich vor Zorn, dass jemand es wagte, ihn zu kritisieren und fragte die übrigen Lehrlinge, ob sie denn genauso dächten wie Lothar. Diese aber wanden sich wie Aale auf dem Trockenen und stotterten herum, dass sie es so nicht sagen würden, sodass Lothar am Ende der Buhmann war. Nach dem Unterricht beorderte ihn Herr Rindvieh in sein Büro und erzählte ihm einige Takte. Sein wohlwollender Schlusssatz war „Lothar, ich will Sie doch nur helfen.“

Eigentlich hätte er daraus lernen sollen, aber im Laufe seines Berufslebens setzte sich Lothar immer wieder für andere ein und erhielt oft die entsprechenden Quittungen.
Mancher lernt es eben nie und dann noch unvollkommen.

Aus dem Buch "Er war stets bemüht" von Wilfried Hildebrandt


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Kommentare (1)

Heidi Grünwedl

@Wilfried  Ich bin genauso wie Lothar früher gewesen in der Schule. Kann ich gut nachempfinden...

Liebe Grüße von

Heidi


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