Ich hatte Besuch ...

Autor: ehemaliges Mitglied

... meine Schwägerin hatte ihrer Tochter - inzwischen zur Berlinerin mutiert - versprochen, beim nächsten Besuch ihres Bruders in Bremen auch bei mir mal hereinzuschauen. Obendrein kommt die Enkelin im Mai zur 1. hl. Kommunion, die bei den Katholiken immer noch als ein großes familiäres Fest gefeiert wird. Meine Nichte hatte das "gute Silberne" von meiner Stiefmutter, ihrer Oma geerbt und wusste, dass ich das gleiche Besteck besitze. Aber sie erwartet im Mai einen großen Teil der Verwandtschaft und da gefiel es meiner Schwägerin, mich um meinen Teil des Bestecks zu bitten. Es macht sich natürlich hübscher an dem gedeckten Tisch, wenn alles zueinander passt, und ich gebrauche es kaum noch ... Daher war nun tatsächlich bei mir Besuch angesagt!!

Ich habe selten Besuch, und jetzt in dieser Corona-Pandemie-Zeit erst recht! Keine der Damen hatte Corona und so sahen sie keinen Grund, nicht bei mir "einzufallen"! Zwei Tage später rief sie mich aber an und erklärte, dass ihr Mann nun an Corona erkrankt sei - trotz Impfung und Geboostert sein. Doch der war ja nicht mit zu mir gekommen. Also keine Panik ...

Als Kind, so ab meinem neunten Lebensjahr, bin ich mit meinem Fahrrädchen fast täglich, wenn das Wetter es zuließ, durch Münster gefahren, hab meine Heimatstadt erkundet, ausprobiert, ob ich herausfinde, wo diese Tante oder jener Onkel mit der Familie wohnte, wie ich da hinkäme. Das war mir zwar verboten mit der Ausrede: „... man stört die Menschen nicht mit unerwünschtem Besuch! Ich sei ja schließlich nicht eingeladen worden.“ Aber wo ich auch hinkam, gab es ja ebenfalls Kinder – meine Cousinen und Cousins. Und es war so spannend, zu sehen, wie andere ihr Leben lebten, die Verwandtschaft – inklusive Oma und Opa – besser kennen zu lernen! Und ganz etwas anderes, als im eigenen Zuhause, wo wir als Kinder einige Jahre Niemanden, auch nicht die beste Freundin, wegen unserer schwer kranken Mutter mitbringen durften.

Gern fuhr ich zur jüngsten und Lieblingsschwester meiner Mutter. Sie wohnte mit ihrer Familie 1953 noch in einem Flachdachhäuschen, wohl ein „Restgebäude“ aus Kriegszeiten. Um sie und meine Cousine zu treffen, musste ich bis zum damalige Gefängnis am Landgericht Münsters radeln, wo dieses Häuschen in der Nachbarschaft ihr und ihrer Familie ein Leben mit Garten und einer Laufstallung für die Fretchen des Onkels, die er zur Jagd gebrauchte, und etwas Platz zum „draußen spielen“ ihren Kindern und mir ein geschütztes Erleben ermöglichte.

Noch war der Onkel – ein riesengroßer Kerl, der im Krieg oder auf der Jagd wohl von einer verirrten „Kugel“ an der Stirn getroffen worden war – meist als Jäger für die Besatzungsmacht, die Engländer, unterwegs. Wenn er doch mal zuhause war, oder einige Jahre später, als er sich mit einer Tierpräparatorfirma selbstständig gemacht hatte, musste ich ihm fast zwangsläufig und sehr fasziniert immer wieder ins Gesicht schauen, weil es mich wunderte, dass da diese „Delle“ über seiner Nase mitten auf der Stirn so tief gelangt war, ohne die Haut oder gar den Knochen sichtbar verletzt zu haben.

Aber mit der Zeit war mir seine Arbeit viel interessanter. Er bekam Jagdwild von der Jägerschaft der Umgebung gebracht, auf das der Besitzer offensichtlich stolz war, gerade dieses Tier erlegt zu haben. Immer öfter waren es auch Tiere aus dem nahen Zoo, die aus ganz unterschiedlichen Gründen verendet waren und der Zoo sie als ehemalig zu bewundernde Tiere in Käfigen gehalten hatte, sie nun ausgestopft zu Lehrzwecken lebensecht (und ohne durch das Verotten der Innereien zu stinken) genutzt werden sollten. Der Onkel entfernte alle Organe und nutzte das Knochengerüst für die lebensechte Darstellung, dem er dann das zuvor vorsichtig abgenommene Fell wieder „anzog“.

Bei Jagdtrophäen allerdings war es oft nur die Stirnplatte eines Rehbocks mit dem Gehörn, das ein erfolgreicher Jäger „sauber“ an seine Wohnzimmerwand hängen wollte. Ich weiß nicht, wie oft seine Familie Wildbraten als Mittagsmahlzeit vorgesetzt bekam. Für uns war es gelegentlich „nur“ ein Festtagsbraten, wenn er uns ein gutes Stück eines Rehbocks zukommen ließ. Es gab bei ihm zuhause recht früh schon eine Tiefkühltruhe, weil das Fleisch der Wildtiere für den Jäger, der es geschossen hatte, auch für ihn ein Festtagsbraten sein sollte, oder meine Tante solch geschenktes Wildbret auch nicht stets sofort verarbeiten konnte oder wollte.

Ich fand es oft recht spannend, mir seine ausgestopften Tiere ansehen zu können. Es fanden sich mit der Zeit ein ganzer kleiner Rehbock, ein Fasan, ein Fuchs oder auch ein Hase in seinem Schaufenster ein. Einmal entdeckte ich ein Tier in diesem Sammelsurium, das es gar nicht gibt: er hatte einem Hasen ein Rehgehörn aufgepflanzt und einen Fasanenschwanz aus dem Hinterteil wachsen lassen.

Aber auch die übrige Verwandtschaft musste mich gelegentlich „ertragen“! Meinem Patenonkel und seiner Frau durfte ich dadurch sogar meinen eigenen Sohn im Alter von viereinhalb Jahren für zwei Wochen in Pflege geben, weil ich zur Geburt meiner Tochter ins Krankenhaus musste. Weder konnte meine Schwiegermutter noch wollte meine Stiefmutter den kleinen Enkel in ihrer Familie aufnehmen. Schwiegermutter war psychisch krank und konnte natürlich als Dauerpatientin in der geschlossenen Psychiatrie ihren Enkel nicht versorgen. Meine Stiefmutter war nicht bereit, sich für zwei Wochen zuhause aufzuhalten, obwohl der Vierjährige ihr und meinem Vater – seinem Opa – im Salon garantiert keine Probleme gemacht hätte. Da waren die Töchter meines Adoptivbruders weitaus lebhafter!! Doch die durften, wenn's erforderlich war, im Salon ihren Alltag verbringen, bis die Mama wieder zuhause zur Verfügung stand. Meine Adoptivmutter ließ durchblicken, dass diese Mädchen ja ihre eigenen Enkelinnen waren, mein Sohn nicht ihr Fleisch und Blut war. Mir ging viele Jahre immer wieder durch den Kopf, wieso sie so total vergessen hatte, dass sie ja selbst eine Cousine meiner leiblichen Mutter war, also durchaus der eigenen Verwandtschaft angehörte …

Ausgerechnet diese Schwägerin war mit gleich weiteren vier weiblichen Anverwandten vergangenen Mittwoch zu mir zu Besuch gekommen. Und sie ließ durchblicken, erklärte ihrer Verwandtschaft, dass sie mich am liebsten besuchen würde, meine Schwestern wären ihr zu anstrengend! Klar übergeht man solch eine Bemerkung, aber es tut mir immer noch gut, das doch gehört zu haben, zumal ich am weitesten weg vom ehemaligen Zuhause lebe … Dennoch geht mir so seit jenem Besuchstag durch den Kopf, ob es tatsächlich doch mal dazu kommt, mich in nicht allzu fernen Tagen wieder zu besuchen???

Und sie verschwanden sehr schnell, als sich auch noch eine Freundin, die mich eigentlich erst am Freitag besuchen wollte, wegen des stürmischen Regenwetters aber ihren Urlaub in Cuxhaven einen Tag früher abgebrochen hatte, einfand. Sie hatte durchaus bemerkt, dass es mir ein wenig viel wurde, nun meine nicht ganz kleine Wohnung plötzlich mit acht weiteren Leuten zu teilen, die alle hier und dort hinliefen, noch mal schnelle die Gästetoilette aufsuchten, und sich meine neue Bleibe anzuschauen.

Ich werde wohl die (zu) weit weg wohnende Verwandte bleiben, die man nur selten besucht. Ich bin eben weder ihre Schwester noch die leibliche Schwester ihres Ehemannes, nur dessen angeheiratete Stiefschwester.

Sie selbst hat mehrere Gschwister, aber ihr Mann lehnte seine angeheirateten Schwestern im Herzen ab. War er bis zu seinem zwölften Lebensjahr das einzige, verhätschelte Kind seiner Mutter und ihren Eltern, musste er plötzlich durch die Heirat seiner Mutter mit unserem Mädchen-Vater seine "Vormachtstellung" gleich dreifach teilen. War nicht so einfach für ihn ...
 


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